Attentat Unter den Linden. Uwe Schimunek

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Название Attentat Unter den Linden
Автор произведения Uwe Schimunek
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520328



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Sohn Rudolf eine jährliche Zahlung von sechshundert Talern.

      Bald nach der Geburt seiner jüngsten Tochter Clara von Prillwitz hatte der Prinz seine Liebe zu Emilie von Ostrowska entdeckt, der anmutigen Tochter eines verwitweten polnischen Grafen. Er mietete für die Fünfzehnjährige eine Wohnung in der Leipziger Straße und besuchte sie dort regelmäßig. Sechs Tage nach seinem 59. Geburtstag gebar ihm Emilie eine weitere Tochter, die auf den Namen Charlotte getauft wurde. Von dieser kindlichen Halbschwester und ihrer Mutter hatte Melitta von Streyth Gontard berichtet, als sie ihn nach Heidenreichs Ableben aufgesucht hatte.

      Nun war es an ihm, der Witwe seine Aufwartung zu machen und ihr seine Anteilnahme auszusprechen - ein nicht sonderlich angenehmer Gedanke, der gut zu den schwärzlich drohenden Wolken passte, die sich am nordwestlichen Himmel vor ihm aufzutürmen begannen. Waldemar schien das Unheil zu spüren und fiel in schnelleren Trab. Dennoch schaffte es Gontard nicht, das Städtchen Friesack zu erreichen, bevor das Gewitter losbrach.

      Über dem Thiergarten brütete die sonntägliche Mittagshitze. Die Spaziergänger versuchten, unter den Kronen der Bäume zu bleiben, im Schatten ließ sich der Junisonntag ertragen. Adalbert Kirchner schlenderte mit der Sonne im Rücken durchs Grün. Er hatte das Brandenburger Thor ein paar hundert Meter hinter sich gelassen, und vor ihm ließ langsam das Gedränge nach.

      Endlich Ruhe. Vergeblich versuchte er schon die ganze Zeit, die Erinnerungen an den zertrümmerten Kopf des Oberst-Lieutenants loszuwerden. Er hatte kaum geschlafen, in der Schule gelang es ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Verstohlen hatte er sich aus dem Labor geschlichen und behauptet, er müsse in der Königlichen Bibliothek etwas nachschlagen.

      Eine Familie kam ihm entgegen. Die Frau trug ein Kleid der neuesten Wiener Mode. Die fassonierte Seide war mit Spitzen besetzt, die gerafften Ärmel ließen die Arme kräftig aussehen. Kirchner fand das nicht besonders hübsch - und der Hut mit der angesteckten Feder erschien ihm nachgerade albern. Aber so etwas musste die Frau von Welt in der Residenzstadt wohl anziehen. Auch die Kinder waren in feinen Stoff gehüllt, während die Kleidung des Vaters eher nüchtern ausfiel. Der Anzug war ziemlich neu und saß korrekt, aber es sah aus, als führe der Mann Buch über die Kosten jeder einzelnen Naht. Vielleicht war er ein Beamter in der Kämmerei.

      Kirchner überholte eine Gruppe von Infanteristen in Uniform. Die vier unterhielten sich in obszöner Weise über Mädchen, prahlten laut mit Abenteuern. Ihre Milchbärte ließen Kirchner vermuten, dass die Angeberei und die Geschichten nur der Phantasie entsprangen. Aber war er selbst viel reifer? Genau betrachtet waren seine Erfahrungen mit Frauen dürftig.

      Er beschleunigte seine Schritte, um Abstand von den Soldaten zu gewinnen. Sofort lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Kirchner nahm den Helm ab, zog sein Taschentuch aus der Hose und tupfte sich die Stirn ab. Vor ihm lag eine Weggabelung. Er hörte, wie die Soldaten hinter ihm über ihren Weg diskutierten und schließlich entschieden, nach links abzubiegen. Also wandte sich Kirchner nach rechts. Da vorn floss die Spree am Rande des Thiergartens, eine schöne Ecke, augenscheinlich derzeit nicht sehr belebt. Gut so, denn Kirchner suchte Ruhe, wollte seine Gedanken sammeln.

      Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil Pragenaus Schnarchen durch die Stube dröhnte - und wenn er doch eingenickt war, weckten ihn die Schreie in seinen Träumen gleich wieder auf. Dieses mörderische Quieken, er glaubte es jetzt schon wieder zu hören …

      Nein, da war etwas anderes. Die Tonhöhe - das klang viel schriller als im Marstall. Und die Laute kamen von vorn, von der Spree herüber und nicht aus seinem Kopf.

      Kirchner rannte los. Schon wieder!, dachte er. Er schwitzte immer mehr. Trotzdem lief er noch schneller. Er hörte keine Worte, er konnte das Quieken nicht einordnen. Das war bestimmt kein Mensch, dachte er erleichtert.

      Der Weg endete an einer Spreewiese, und dort stand eine ältere Dame am Ufer und fuchtelte mit den Armen - mit offenem Mund, aber ohne ein Wort zu sagen. Ein Fellknäuel trieb vom Ufer weg und strampelte und kläffte. Kirchner lief noch schneller, warf die Pickelhaube ab. Den Waffenrock wurde er nicht so leicht los. Acht Knöpfe wollten geöffnet werden. Er zerrte am Kragen, am Revers, endlich bekam er den Rückenstoff zu fassen und warf das Kleidungsstück ins Gras. Jetzt nur noch die Stiefel! Er hüpfte, bis er sie los war. Mit Hose und in Hemdsärmeln stürzte Kirchner sich in die Spree.

      Das Wasser war kühl wie ein Frühlingsregen, eine angenehme Temperatur. Erst jetzt merkte er, wie stark er geschwitzt hatte. Kirchner schwamm auf das Hündchen zu. Die Strömung war nicht stark, nahm aber gegen die Flussmitte zu. Sie reichte, um den Kläffer stromabwärts treiben zu lassen.

      Also ab in die Mitte und hinterher! Sein Vater hatte ihm das Schwimmen in einem See im Riesengebirge beigebracht, aber seitdem hatte Kirchner kaum Gelegenheit zum Üben gehabt. Meter für Meter kämpfte er sich an das Tier heran. Aus der Nähe sah der Köter aus wie ein kleiner Dämon, japste beim Kläffen nach Luft, strampelte wie ein Besessener auf der Flucht vorm Exorzisten. Die spitzen Eckzähne schnappten beim Bellen. Also nicht ins Maul greifen!, dachte Kirchner.

      Er umkurvte das Hündchen und griff in den haarigen Nacken. Der Kläffer zappelte in seiner Hand, Kirchner packte zu, so kräftig er konnte. Aus dem Quieken wurde ein Wimmern und dann ein Quengeln.

      Kirchner schaute zum Ufer, er war ein ganzes Stück abgetrieben. Der Versuch, gegen die Strömung zurückzuschwimmen, erschien ihm aussichtslos. Mit dem freien Arm kam er kaum von der Stelle, und der Köter jaulte an der rechten Hand, den ließ er nicht wieder los. Er musste ans Ufer schwimmen und dann zu Fuß zu Waffenrock, Stiefeln und Helm laufen, das war die einzige Möglichkeit. Einarmig bewegte sich Kirchner aus der Flussmitte weg, er kam sich vor wie ein Kutter, der gegen den Wind kreuzen muss. Aber immerhin, das Ufer kam näher, und er trieb kaum noch ab.

      Auf der Wiese trappelte ihm die Dame entgegen. Sie trug ein Bündel unterm Arm. Nun, da Kirchner nur noch ein paar Meter zu schwimmen hatte, sah er die Details: Die Alte hielt seinen Waffenrock ordentlich gefaltet in der einen Hand, die Pickelhaube und seine Stiefel in der anderen. Schön, da blieb ihm der Weg zurück erspart. Er merkte, wie seine Kraft nachließ. Allmählich wurde der linke Arm lahm.

      Kirchner tapste, als er schließlich Boden unter den Füßen hatte, die letzten Meter bis zum Ufer und hob den Kläffer aus dem Wasser. Das Quengeln wurde zum aufgeregten Gebell, es klang fast so, als halte er eine Krähe mit nassen Haaren in der Hand. Das Fell triefte genau so wie Kirchners Kleidung. Das Hemd hing an ihm, als seien Gewichte in den Saum genäht.

      In den nassen Sachen war die Hitze angenehm, jedoch pikste es an den Füßen, da er nur auf Strümpfen lief. Kirchner setzte den Kläffer auf die Wiese. Das Tier schüttelte sich und flitzte zu der Alten. Die bückte sich, legte Waffenrock, Pickelhaube und Stiefel ab, nahm das nasse Tier in die Arme und kam damit zu Kirchner gelaufen - mit kleinen Schritten, aber schnell wie ein Wiesel, wackelte sie heran.

      »Hach, junger Herr, Sie waren so mutig! Wie kann ich Ihnen nur danken?«

      »Keine Umstände, meine Dame«, krächzte Kirchner. Er hatte das Gefühl, er müsse sich ausruhen. »Es ist alles in Ordnung.« Er lief noch ein paar Schritte und setzte sich auf der Wiese nieder.

      »Wirklich? Ich muss doch etwas für Sie tun …«

      »Sie müssen auf Ihren Hund aufpassen. Mir geht es gut.«

      Das Tier strampelte in den Armen der Alten. Sie redete auf das nasse Knäuel ein.

      Kirchner winkte und sagte: »Nun gehen Sie nur.« Dann ließ er sich rücklings ins Gras fallen und schloss die Augen.

      »Sie sind ein guter Mensch.« Das war nicht die Alte, aber zweifellos gehörte die Stimme einer Frau.

      Kirchner öffnete die Augen. Eine junge Frau, sie zählte vielleicht achtzehn Jahre und stand mit einem einfachen handbreiten Haarband in den brünetten Locken direkt vor der Sonne. Das Licht, das um ihren Kopf herum blendete, zeichnete die Konturen scharf. Er konnte die Gesichtszüge kaum erkennen. Stand die Frau schon lange da? War er eingenickt? Und wenn ja, für wie lange?

      Er richtete sich auf. In einiger Entfernung tippelte die Alte mit dem Kläffer von dannen. Viel Zeit schien nicht vergangen zu sein.

      »Ich