Im ersten Gang geht’s immer rauf. Jens F. Meyer

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Название Im ersten Gang geht’s immer rauf
Автор произведения Jens F. Meyer
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783947944828



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dass der Renault 4 aus nicht ganz so alter Zeit unser Begleiter ist. Seine Silhouette, vom Gräberfeld durch die Ansammlung der Kreuze wie ein stummes Lächeln des Trostes herüberleuchtend, bringt die Freude zurück. Eine Freude auf vier schmalen Reifen. Es war nicht schwierig, sich für ihn entschieden zu haben. Egal, wie schön die anderen R4-Farben auch leuchten mögen, die beigefarbene Savane ist für die nächsten Wochen so etwas wie ein rollendes Zuhause, und wir fühlen uns sicher und geborgen, als wir nach der Dorfbesichtigung wieder einsteigen. Und es fühlt sich unglaublich frei und abenteuerlich an, dass wir hier auf einem Waldparkplatz stehen und eine große Reise vor uns liegt. Was wäre, wenn nun der Motor nicht mehr anspränge, das Kupplungsseil risse oder die Lichtmaschine ausfiele? Solche Gedanken, die uns bei ersten Ausfahrten zu Hause noch beschäftigten, verschwinden nach und nach. In welcher Einöde wir uns auch befinden, wir sind auf den eigenen vier Reifen hingefahren. So wie jetzt auch von diesem Wald, wir möchten etwas anderes sehen, die Botschaft des alten Krieges ist unverändert aktuell und ist angekommen. Wir schrauben uns über steile Straßen durch die Ardennen. Die, die hinter uns fahren, wirken nicht immer so zufrieden wie wir, aber das stört uns nicht, irgendwann können alle überholen. Die Heizung arbeitet erfreulich zuverlässig, draußen vor der Scheibe mischt sich der Regen mit Schneeflocken, und das im Mai! Die Ardennen bilden eine Hügelkette mit durchgehenden, dichten Wäldern, die auf den Kämmen plötzlich licht werden und dann einen großartigen Ausblick über die grandiose Landschaft bieten. Bei der nächsten Abfahrt ins Tal spüren wir eine Tankstelle auf, auch das wird uns in den nächsten Wochen begleiten. Da, wo es passt, wird direkt vollgetankt, kein Risiko eingehen, dass wir in einer menschenleeren Gegend plötzlich wegen Spritmangel liegenbleiben. Wir würden nun gerne auch etwas einwerfen und suchen nach dem vertrauten Bar-Tabac-Schild.

      … halt mal: Da ist ein Hotel! Die Rapsfelder, die wir gesehen haben, die Kirchtürme, die aus weiter Ferne zu allen Himmeln aufstiegen, die Kühe und Wiesen und Flüsse und Brücken und Schlachtfelder vermischen sich in der Hoffnung auf ein Abendbrot, sei es auch nur ein bescheidenes und kein Vier-Gänge-Menü. Alles, was wir heute gesehen haben, wollen wir Revue passieren lassen bei einem schönen Abendessen. Im mondänen Speisesaal eines Restaurants, in dem eilfertige Kellner dampfende Teller heranschleppen und zum Entrée Kristallgläser mit prickelnder Füllung servieren. Wäre schön gewesen, aber es soll heute anders kommen. Denn das Hôtel Le Relais in Vacherauville, das wir in der Nähe von Verdun notgedrungen nehmen müssen, weil alle anderen in der Umgebung ausgebucht sind, hat an diesem Montagabend wie an jedem Montagabend sein Restaurant geschlossen. Kein „diner“, leider. Obwohl wir also nach Hunderten Kilometern keine große Lust verspüren, erneut den Choke zu ziehen, schwingen wir uns dennoch in den Wagen und fahren ins nächstgelegene Städtchen. Belleville heißt es, ist auch belle und liegt an den Ufern der Meuse, die wir als Maas kennen. Weil wir Hunger haben, entern wir die erste Gaststätte, die wir erblicken. Wir gehen hinein, bestellen nach kurzer Zeit ein Hauptgericht plus Bier, um darauf anzustoßen, wie gelungen doch dieser erste Reisetag mit der Quatrelle gewesen ist. Der Kellner ist nicht ganz so beflissen, das Porzellan nicht vorhanden, aber das Essen dampft, das Bier erfrischt, und wir sind zufrieden, obwohl hier öfter mal das Telefon klingelt und ein Mopedfahrer hereinschneit, um etwas abzuholen und auszuliefern.

      So ist das eben in einem Pizza-Eck mit Bringdienst …

      Am nächsten Morgen ist der italienische Einstieg in unser französisches Reiseabenteuer verdaut. Wir haben wie die Murmeltiere geschlafen und von der Meuse geträumt, an deren Ufern wir gestern Abend noch flanierten, und wir sind froh, uns im Hôtel Le Relais für ein Zimmer mit „chambre lit 160“ anstatt „140“ entschieden zu haben. Die Zahl steht für Zentimeter. 140 davon sind im Doppelbett zu wenig für eine gute Nacht. Es gibt viele Hotels im Land unserer Nachbarn, die beide Varianten anbieten und dabei sogar noch so tun, als ob die 160er-Standard-Matratze absoluter Luxus wäre. Nach zu vielen Nächten auf weichen Schmalhansunterlagen fallen wir darauf nicht mehr rein. Wir haben deshalb gut geschlummert, werden von Regentropfen, die an das Fenster klopfen, sanft geweckt. Frühstück. Klamotten packen. Schnell noch das Öl geprüft, den Reifendruck. Abfahrt.

      Abendrundfahrt in Belleville-sur-Meuse

      Die Melodie der vier Pötte ist ein stetes Lied in Dur, obwohl wir auf einer Straße fahren, die nach Moll klingt. Südwärts führt die Reise. Am Rand stehen weiße Kilometersteine mit der Aufschrift „Voie Sacrée“. Diese Route, rund 56 Kilometer lang, führt von Verdun nach Bar-le-Duc. Es handelt sich um die ehemalige Versorgungsstrecke im Ersten Weltkrieg, über die Truppen, Material und Nachschub an die Front transportiert wurden, dorthin, wo wir gestern die Tausenden Kreuze sahen. Heute erinnern die auffälligen, mit Soldatenhelm gekennzeichneten Kilometersteine an ihre Geschichte, und die Nummer hinterm D: 1916 – das Jahr der Schlacht von Verdun. Vor dem Eisentor des Château de Thillombois – das prickelnde Herz der Champagne rückt näher – ist ein kurzer Stopp vonnöten, weil im zwölflampigen Mäusekino neben dem Tachometer die Kühlmittelkontrollleuchte flackert. Mal wieder. Rechts ran, Motorhaube auf, nichts dampft. Der „Dieter-Korp-Ratgeber“ wird gezückt; mal sehen, was er zu diesem Phänomen schreibt: Der Flüssigkeitspegel ist perfekt zwischen „min“ und „max“ eingependelt. Kein Grund zur Sorge, da ist wohl höchstens ein kleiner Wackelkontakt in der Elektrik. In diesem Wagen gibt’s wenigstens noch eine, woanders nur noch Elektronik. Wir schauen auf den Motor, rütteln an den Schläuchen, schließen die Haube – und siehe da: Das Problem ist gelöst! Wenn das so weitergeht, werden wir noch zwei recht passable Automechaniker.

      Blauregen-Opulenz nahe Sedan

      Kirchturmspitzen ragen von fern in den Himmel, kleine Dörfer, teils hübsch restauriert, teils mit der Patina des unumkehrbaren Untergangs versehen, leuchten wie Edelsteine, manchmal leuchtet auch die Kontrolllampe wieder. In Bar-le-Duc regnet es, in Brillon-sur-Barrois schon nicht mehr. Ein Ortsname wie himmlischer Geigenklang. Das Waschhaus in Haironville verführt zum Fotografieren, die Brücke über das Flüsschen Saulx ebenso. Wasser plätschert, kein Champagner, aber es klingt so, als ob es welcher wäre. Und als einige Zeit später ein Schild auf Château Joinville am Wegesrand hinweist, wird erneut ein Tagesplan durchkreuzt, der keiner war. Merke: Wer morgens nicht weiß, wo er abends schlafen wird, muss keinen Plan haben. Der Morgen trägt ihn bis zur Dämmerung, die immer irgendwann irgendwo ein Ziel für ihn bereithält. In diesem Fall ein schönes Schloss in einer noch schöneren Stadt.

      „Bonjour Madame, bonjour Monsieur. Bienvenue au Château du Grand Jardins Joinville.“ – Es ist ein Juwel von mehreren in der Champagne. Alle Welt spricht von den weißen Schlössern der Loire, vergleichbar wenige von den Châteaux de Champagne, und wenn, dann nur im Zusammenhang mit dem oft überbewerteten Prickelwasser. Dieses Schloss hier mag nicht die Strahlkraft eines Château Villandry haben, es ist kleiner, aber der große Renaissance-Garten mit seinem Bachlauf, den verschiedenen Gehölzen, hundertjährigen Bäumen und den Kunstwerken sowie einem romantisch um das Gebäude angelegten Park wird uns in Erinnerung bleiben, auch weil es gerade einen tüchtigen Schauer gibt, der andere Besucher davon abhält, zwischen Beeten und Bäumen im Schutz eines Regenschirms auf den Kieswegen zu flanieren. Draußen vor dem Tore perlen unzählige Tropfen auf dem Lack des R4 und funkeln wie Diamanten; es ist das einzige Auto, das hier gerade steht. Die Petites Cités de Caractère, die kleinen Städtchen, haben wirklich Charakter, das zeigt Joinville uns deutlich, und führe der Weg bei einer nächsten Reise wieder durch die Champagne, stünden auch Sézanne, Vignory und Châteauvillain auf der Wunschliste sehr weit oben. Ach nein, lieber nicht, ohne Plan ist die Wahrscheinlichkeit größer, sie auch wirklich anzusteuern …

      Aber so viel sei vorweggenommen: Joinville ist erst der Anfang – wir werden noch einige weitere fulminante Entdeckungen in anderen kleinen Städten mit Charakter auf dieser R4-Exkursion machen. Die Quatrelle läuft. Ihr Motor schnurrt zufrieden, so als ob sie sich bedanken würde, dass sie auf ihres Mutterlandes Département-Straßen in die Gewissheit des Abenteuers geschickt wird, ja, es hat den Anschein, dass sie sich wirklich wohlfühlt. Nichts kann diesen tapferen Renault davon abhalten, bis an die Atlantikküste vorzudringen.

      Wir kaufen Gift. Einem