Im ersten Gang geht’s immer rauf. Jens F. Meyer

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Название Im ersten Gang geht’s immer rauf
Автор произведения Jens F. Meyer
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783947944828



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in den automobilen Alltag zu integrieren. Wer genug Renault 4 fährt, muss jedenfalls nicht in die Muckibude. Den Rhombus, das Signet der Marke, forsch in den Wind gestellt, die Außenspiegel vibrieren und innen Rock ’n’ Roll. Für Laternenparker ist das ein Ritt auf der Rasierklinge; mit einem Renault 4 auf Reisen zu gehen, also nicht mal eben um die Ecke zum Supermarkt zu fahren, sondern richtig Strecke zu machen, mehrere Tausend Kilometer in einigen bemerkenswerten Wochen, verlangt einen ausgeprägten Sinn fürs Wesentliche und die Bereitschaft, Verzicht zu üben. En passant sprechen wir hier nicht von Klimaanlage, Schallisolierung, Regensensor, LED-Scheinwerfern, Einparkhilfe, um Himmels willen! Diese TL Savane, die vis-à-vis „Chez Laurette“ nach über eintausend Kilometern einen mehr als gelassenen Eindruck macht, gerade so, als wäre sie endlich richtig auf Touren gekommen, ist die schönste Verzichtserklärung auf Luxus und Pomp, ohne aber an Grandezza einzubüßen. Ach, wie sie sich anschickt, die Kilometer in sich aufzusaugen, gierig nach jedem Meter Asphalt mit ihren schmalen Reifen zu greifen und nach Jahren des Stillstands in einer gottlob trockenen Scheune endlich wieder Leben in den Kolben zu spüren. Unter der Haube eine Art Nähmaschine mit der Kraft von 34 Zossen. Immerhin: mehr als die Ente, die lahme.

      In solchen Stunden und Momenten, wo das graue Band wie ein roter Teppich sich darbietet, ausgerollt, um „La Quatrelle“ zu huldigen, neben dem Citroën 2CV die zweite französische Sonnenkönigin der Straße, fügt sich die Zeit in eine andere Dimension. Sie geht nicht verloren, weil das Auto langsam fährt, sondern sie vervielfacht sich, denn die Seele hat einen Platz zum Mitreisen gebucht. Unser Innerstes hält der Geschwindigkeit stand; die Eindrücke der Landschaften, der Städte und Dörfer und Flüsschen und Himmel sickern flüsternd durch unser Gemüt und nehmen Platz im Süden unseres Herzens. Die Poesie dieses sanften Abenteuers ist durch nichts und niemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sollen sie überholen, die großen, schönen, schicken Autos, die mächtigen Boliden, die nach zwei Jahren alle nur noch die Hälfte wert sind und von keinem ihrer Fahrer unterwegs repariert werden können. Hier liegen die Dinge anders: Ein Schraubenschlüsselsatz, ein paar Lampen und Sicherungen, dazu die Strumpfhose, falls der Keilriemen schlappmacht. Aber hurra, es sieht nicht danach aus. Der R4, dieser kleine Bursche mit dem sanftmütigen Blick seiner runden Scheinwerfer, macht seine Sache prima: Frankreich breitet sich willig vor ihm aus. Hier ist sein Revier, hier auf den Routes départementales, den D-Straßen, die wie ein Netz durch das Land gesponnen worden sind. Von Alleen gesäumt, von Feldern, auf denen Traktoren Pflüge ziehen und Kartoffeln roden, von Ackerrandstreifen und Brachland gesegnet, auf denen Wildblumen wachsen dürfen, und von einem guten Geist versehen, der bis vor die geöffnete Pforte einer Bar-Tabac führt, ein Gasthaus wie „Chez Laurette“, wo die Rue de la Liberté noch ein bisschen warten muss. „Madame, encore deux kir cassis, s’il vous plaît.”

      Wenn man schon mal hier ist …

      Wir gehen ins Kloster. Wir steigen hoch. Ein Vogel spielt sich auf.

      Es muss ein karges Leben gewesen sein, das die Zisterzienser im 12. Jahrhundert in der Abbaye de Fontenay führten, aber sie führten es im Einklang mit Gott und der Natur in Zufriedenheit und Gelassenheit. Wahrscheinlich waren sie ausgeglichener als wir modernen Menschen von heute, denn sie hatten gefunden, während wir unentwegt auf der Suche sind. Mit dem Unterschied, dass sie wussten, dennoch Suchende zu sein und wir, obwohl wir Suchende sind, fest daran glauben, gefunden zu haben. – Bevor es nun aber allzu philosophisch wird, ein paar Eckdaten: Im Jahr 1118 war die Abtei vom Heiligen Bernhard in einem sumpfigen Bachtal nahe Montbard gegründet worden. Sie ist einerseits eines der ältesten Zisterzienser-Klöster in ganz Europa und gilt andererseits vor allem als ein „zisterziensisches Prunkstück“. Die romanische Architektur der Gebäude offenbart eine erstaunliche Harmonie; die Kirche ist sehr gut erhalten, ebenso der Kreuzgang, Kapitelhaus und Skriptorium.

      Himmlisches Lichtspiel in der Abbaye de Fontenay

      Vor einigen Tagen, am Tisch im Saal der „Ferme de la Fosse Dionne“, hatte Bernard Clément nicht zu viel versprochen, als er den Besuch der Abbaye de Fontenay als herausragende Pracht burgundischer Geschichte mit jener Attitüde darbrachte, mit der man sonst eine Flasche Chablis öffnet. Das Gebäudeensemble ist schon in den Achtzigerjahren ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen worden, und die Gärten erhielten 2004 die Auszeichnung „Jardin Remarquable“. Regisseur Jean-Paul Rappeneau drehte hier aus gutem Grund Szenen für seinen Film „Cyrano de Bergerac“ – wo sonst könnten die Kulissen passender sein? Und in den Sommermonaten finden Theatervorstellungen und Konzerte statt. Das Kloster Fontenay, übrigens in Privatbesitz und nicht unter staatlicher Aufsicht, ist ein Hort der Kultur. Über die D905 führt der Weg an manchem anderen historischen Haus vorbei, an Land und Leuten und Kanal. Und als wir die Abtei verlassen, werfen wir einen letzten Blick auf die in der Sonne wie frisches Leben strahlenden Mauern und starten durch. Der Raps, die Wiesen und Wälder, die Flüsse und Kanäle, all das Schöne, das sich in verwitterten Fassaden und verwinkelten Örtchen darbietet, bereitet uns unbändige Freude. Die Kühlmittelkontrollleuchte flackert mal wieder kurz auf und ist wahrscheinlich eine Zustimmung des Renaults, dass es endlich weitergeht nach stundenlanger Standzeit. Er will fahren! Wir tun ihm diesen Gefallen. Wir kreuzen den Armançon mehr als nur einmal über unwiderstehlich entzückende Brücken, auf denen sich zwei Autos lieber nicht gleichzeitig begegnen sollten, und wenn eine D-Straße wie die D4 auch noch ein kleines „j“ als Zusatzbezeichnung erhält, wird das Cruisen darauf zur Bewährungsprobe für Mensch und Maschine. Eigentlich müssten am Straßenrand schon händereibend diverse Automechaniker stehen – leichter kann man keine Kunden abgreifen. Wenn gleich ein Wendehammer kommt, sollten wir uns nicht wundern.

      Kommt aber nicht. Tatsächlich bessert sich der Untergrund und ist wieder als asphaltierter Weg zu erkennen, die Stoßdämpfer atmen erleichtert auf. Stattdessen fahren wir durch eines der unzähligen Dörfer, bei denen man als Durchreisender schnell die Meinung gewinnen könnte, dass die Landflucht hier kein Thema ist, obwohl das sicher nicht stimmt. In Frankreich legt man aber noch großen Wert auf das Produkt, und dazu gehören die Fachbetriebe, die es in diesen Dörfern augenscheinlich weiterhin gibt. Ein Bäcker, ein Metzger, dazu die fast schon obligatorische Bar-Tabac. Vielleicht reicht das zum glücklichen Leben, das Wichtigste wäre damit jedenfalls abgedeckt. Nun also Châtel-Censoir. Groß ist das Dorf mit seinen kaum mehr als sechshundert Einwohnern nicht, und es scheint auf den ersten Blick wenig zu bieten, für das es sich länger zu halten lohnt. Aber beinahe hätten wir das kleine Schild neben einem hell geschotterten Parkplatz übersehen: ein Pfeil, eine Treppe, eine stilisierte Kirchenabbildung. Klarer Fall für die beiden Tourismusbeauftragten im Renault 4: Wir parken ein und marschieren los. Eine steile Treppe führt über 105 Stufen bis auf den Hügel. Die Kirche ist bemerkenswert. Sie steht wie ein mächtiger Wächter über das Dorf hier oben, ihre Pforten sind geöffnet, kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Weil es mittlerweile recht heiß geworden ist (105 Stufen!), freuen wir uns über die Kühle im Kirchenschiff. Es ist jedes Mal wieder erstaunlich, dass selbst bei einsam liegenden Gotteshäusern ja irgendjemand in aller Frühe, noch begleitet vom restlichen Morgendunst und dem Gesang der Vögel, mit klingendem Schlüsselbund seines Weges zu dieser Glaubensfeste geht, ihre Pforte öffnet und am Abend den selben Weg noch einmal antritt, um alle Türen wieder zuzusperren. Dieser hoffnungsvolle Geist muss somit davon ausgehen, dass es in seinem überschaubaren Dorf, knapp vierzig Kilometer von Auxerre entfernt und abseits bekannter Touristenrouten, dennoch Menschen gibt, die sich den steilen Hügel hinaufbegeben, um dann in der Kirche einige friedliche Minuten zu verbringen. Zu gerne würden wir wissen, wer zum Einbruch der Dämmerung mit großen Schlüsseln in der Hand heraneilen wird, aber die Ruhe zu warten haben wir dann doch nicht. Zudem geht es nun die steile Treppe wieder hinunter, von wo aus der Blick über die weite Flusslandschaft der Yonne und den Canal du Nivernais reicht. Sogar einen kleinen Hafen hat Châtel-Censoir! Das sollte genug sportliche Betätigung an diesem Tag sein. Jetzt wäre ein Croissant genau das richtige. Gibt’s hier irgendwo irgendwas zu essen? An der Bäckerei sind wir vorhin vorbeigefahren, jetzt sind wir aber am anderen Ende des Dorfes und zu faul, den Weg noch einmal retour zu fahren. Also hinauf auf die D, hinaus in die Landschaft, der Tag ist ja relativ frisch, zwar schon nach Mittag, aber noch vor Kaffeezeit. Château de Faulin zur Linken, Lucy-sur-Yonne durchkreuzt. Während die Zahlenkombinationen von