Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga

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Название Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt
Автор произведения Uwe Klöckner-Draga
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783939478423



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Foto: Binder, Berlin

      II.

       Der Weg zur Bühne

       „Es glaubt der Mensch, sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksale gezogen.“

      Johann Wolfgang von Goethe („Egmont“)

      Berlin ist 1924 die interessanteste Stadt Deutschlands, nein Europas.

      Mit dem Eingemeindungs-Gesetz vom 27. April 1920 war sie zur zweitgrößten Metropole Europas aufgestiegen, ist somit flächenmäßig eine der größten Städte der Welt. Nach dem verlorenen Krieg und der Überwindung der Inflation zeichnet sich eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung ab. Überall spürt man neuen Auftrieb, jeder will dabeisein. Die Prüderie der wilhelminischen Ära ist endgültig vorbei. Ob Künstler oder Intellektuelle, ob Handwerker oder Arbeiter, alle strömen in die vier Millionen Einwohner starke Kulturmetropole. Die Stadt ist nur auf Zukunft ausgerichtet und vereinigt Ordnung und Zügellosigkeit, Natur und Künstlichkeit, Empfindsamkeit und Krach, Schönheit und Häßlichkeit aber auch Gemütlichkeit und störende Hektik. Ein vielschichtiges Gebilde, das nicht nur Kunst- und Amüsierstadt ist, sondern auch noch Industriestadt, in der darüber hinaus sogar noch landwirtschaftliche Erzeugnisse produziert werden. Bis zum amerikanischen Börsenkrach 1929 ist die Stadt bunt, reich und glitzernd, mit einem ganz besonderen Lebensgefühl. Es ist der Auftakt für fünf sorglose Jahre, die als die „goldenen zwanziger Jahre“ in die Geschichte eingehen werden. Zwischen Charleston und Straßenkampf, Kokainpartys und Massenarbeitslosigkeit wird es der Nährboden für die braune Saat.

      In dieses kosmopolitische Berlin kommt Familie Müller. Sie beziehen eine geräumige Wohnung in der Bregenzer Straße in Berlin-Schöneberg im Haus Nr. 9. Karl-Eugen ist einem Ruf als politischer Redakteur und Leitartikler beim liberalen Berliner Tageblatt, dem „BT“, gefolgt. Die im Dezember 1871 zum erstenmal erschienene Zeitung, ist das international beachtete Sprachrohr des liberalen Deutschlands der Weimarer Republik. Hier eine Anstellung zu bekommen ist eine neue Herausforderung, die Karl-Eugen Müller reizt, denn die von Chefredakteur Theodor Wolff geschliffenen Leitartikel (stets nur mit „T.W.“ gezeichnet) werden als nationale Institution angesehen und gerne im Ausland zitiert. Wolff ist bis heute unzweifelhaft eine der bedeutendsten Journalisten Deutschlands.

      Berlin ist in den zwanziger Jahren die Zeitungsstadt Deutschlands, in der ein paar Dutzend Tageszeitungen erscheinen. Eine Glanzperiode des Zeitungsviertels hat begonnen, die wie ein einziger internationaler Diskutierklub das Geschehen der Welt erörtert. Karl-Eugen Müllers neue Wirkungsstätte ist das Mosse-Haus an der Jerusalemer - Ecke Schützenstraße, mitten im Berliner Zeitungsviertel. Der Journalist Fred Hildenbrandt erinnert sich: „Wir waren am Berliner Tageblatt 92 Redakteure. Ein Stab ohnegleichen. Diese jungen, älteren und alten Männer waren, zusammengenommen, ein Wunderwerk an Organisation, Präzision und Zuverlässigkeit. In der politischen Redaktion arbeitete der Kollege Karl-Eugen Müller. Ein mittelgroßer, stämmiger, sehr breitschultriger robust aussehender Mann mit rotblondem Haar und kurz gestutztem Schnurrbart. Im linken Auge funkelte ein Einglas. Dass einer vom BT ein Monokel trug, erscheint außergewöhnlich, denn dieses Augenglas galt gemeinhin ein Überbleibsel aus feudalen Zeiten bei feudalen Leuten oder solchen, die es scheinen wollten. Wir vom Feuilleton kannten ihn nicht näher. Unter den vielen Redakteuren der Zeitung bestand kein enger persönlicher Kontakt. Eine angenehme Loyalität herrschte im Hause. Ein guter Ton regierte. Man verstand sich großartig ohne viel Worte. Jenen Dr. Karl-Eugen Müller nun mochten wir alle seiner Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, seiner ruhigen und stets gelassenen Art wegen gern.“ 1

      Das pulsierende Leben der Millionenstadt gefällt den Müller-Töchtern, Gabriele besucht weiterhin die Schule und Renate nimmt wieder Gesangstunden. Die Eltern haben nichts einzuwenden, doch Karl-Eugen stellt eine Bedingung: Renate soll wenigstens eine Schule für Stenografie und Schreibmaschine besuchen. Wenn es mit dem Gesangstudium doch nicht klappen sollte, hat sie wenigstens eine solide Ausbildung für eine Bürotätigkeit. Ohne Widerspruch akzeptiert Renate den Rat des Vaters.

      In dieser Zeit tritt eine entscheidende Wende in Renate Müllers Leben ein. Eine Freundin der Familie, die am Deutschen-Theater beschäftigt ist, gibt den Rat, dass Renate unbedingt auch Bühnenpraxis haben sollte, wenn sie wirklich eine Opernkarriere einschlagen will. Denn für moderne Opernsänger sei es von entscheidender Bedeutung, dass sie zur darstellerischen Ergänzung der Gesangsausbildung auch mit der Sprechbühne vertraut werden und spielen können. Sie schlägt die Max-Reinhardt-Schauspielschule vor, die zu den wichtigsten und vor allem modernsten Schulen Europas zählt. Max Reinhardt, ein magischer Name für alle Schauspieler in Berlin, in Deutschland. Die ganze Theaterwelt ist von ihm und seinem Können, seiner kulturellen Größe, fasziniert.

      Gesagt getan, durch Vermittlung und Beziehungen ihres Vaters, kann sich Renate zur Aufnahmeprüfung anmelden und macht vor Aufregung in der Nacht vor dem Einzelvorsprechen kein Auge zu. Obwohl das Schuljahr bereits begonnen hat, wird Renate noch aufgenommen, denn ihr Talent wird vom Gremium sofort erkannt und ohne Einschränkungen akzeptiert. Sie wird sogar direkt in die zweite Klasse aufgenommen. Es ist eine besondere Auszeichnung, denn in einer Satzung der Schule heißt es: „Es werden nur sehr begabte Schüler in beschränkter Anzahl aufgenommen.“

      Die im Herbst 1905 gegründete Schule befindet sich im zweiten Stock des Hauses der Kammerspiele in der Schumannstraße 14. Die Anforderungen der Schule sind sehr hoch und viele der besten Schauspieler jener Zeit haben hier ihr Handwerk erlernt. Alexander Granach, Karl Ludwig Diehl, Otto Wallburg, Paul Graetz u.v.a. gehören dazu.

      Geleitet wird die Schule von Direktor Berthold Held, einer von Reinhardts ältesten Mitarbeitern aus seiner Salzburger Theatertätigkeit. Held über die „Erziehung des Schauspielers“: „Ich sage absichtlich Erziehung und nicht Ausbildung, weil die Ausbildung nur die Erlernung eines Teilgebietes die Erwerbung von Fähigkeiten bedeutet, die Erziehung dagegen das Wesen des ganzen Menschen umfaßt. Die Schauspielkunst in ihren letzten Forderungen aber verlangt den ganzen Menschen, die Beherrschung aller geistigen, seelischen und physischen Kräfte, die leichte Beweglichkeit des Körpers sowohl wie das rasche Erfassen aller Gefühlszustände. Erfassen - und wiedergeben! Unterricht kann schädigen, wenn er anstatt das Wesen des Individuums zu erkennen und dessen Besonderheit zu fördern, Selbstgewolltes einzwängen will. Der Lehrer soll keine Treibhauspflanze züchten, keine regelrecht zugeschnittenen künstlichen Gewächse, denen die Kraft des Wachstums, die Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, gewaltsam beschnitten wird, er soll nichts an Echtheit der Empfindung rauben, aber doch zum Verständnis für Kultur der Kunst erziehen, er soll lehren, mit den vorhandenen Mitteln zu rechnen, und wird dadurch von selbst zu weiser Beschränkung anleiten. Die Aufgabe eines vernünftigen Lehrers ist es, darauf zu achten, dass durch den Unterricht eines reich veranlagten Menschen nicht die Entwicklung der Besonderheit seiner Persönlichkeit Schaden nehme, denn diese muß dem Künstler gewahrt werden. Das ist die Grenze, an der der Lehrer sich zurückzuziehen hat. Das bewußte Schaffen, das Handwerkliche gewinnt an Wert, man erinnert sich, dass Kunst von Können stammt. Darum muß bei der Erziehung des Schauspielers die größte Sorgfalt auf Erlernung aller technischen Fertigkeiten gelegt werden. Allem voran auf die Beherrschung des Wortes. Die Beherrschung der Sprache, mit Rücksicht auf Klang, Tonfarbe, Tonstärke, Deutlichkeit, Richtigkeit, mit allen den vielen Schattierungen des Ausdrucks. Gleichgewichtig ist die Beweglichkeit des Körpers, wozu Gymnastik-, Tanz- und Fechtunterricht unbedingt zu fordern und mancher Sport, wie Reiten, Schwimmen, zu empfehlen ist. Großes Gewicht lege ich darauf, dass der Schauspielschüler sehen und hören lerne. Um zu sehen, werde er in die Museen geführt. Und hören! Der Sprachunterricht geschehe auf musikalischer Grundlage, damit die Sprache klinge und Wohllaut gewinne, und weil dadurch das Gefühl für Rhythmus und Stil geweckt wird. Der heutige Schauspieler muß alles können, er soll Sprecher, Sänger, Tänzer, Musiker, Akrobat sein; er soll alle Stile und Spielarten beherrschen, den klassischen Vers, den leichten Konversationston, die stilisierte Sprache, alles. Die Schule soll dem Schüler für sein ganzes künstlerisches Leben den Rückhalt geben und ihn auch zum disziplinierten Menschen erziehen.“ 2

      Max Gülstorff, Professor Ferdinand Gregori, Carl Heine,