Briefe aus der Ferne. Группа авторов

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Название Briefe aus der Ferne
Автор произведения Группа авторов
Жанр Зарубежная публицистика
Серия
Издательство Зарубежная публицистика
Год выпуска 0
isbn 9783867549523



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wie vor von Sexismus durchdrungenen Gesellschaft ist es notwendig, zu Gleichberechtigung und Respekt für Unterschiede zu erziehen. Ein gravierendes Zeichen für diese Erfordernis ist die Gewalt gegen Frauen. 2008 wurden mindestens 70 Frauen von meist aus ihrem sozialen Umfeld stammenden Männern umgebracht. Kürzlich sind neue Gesetze erlassen und neue Mittel der Strafverfolgung geschaffen worden, um derlei Gewalttaten zu bestrafen, zu verhindern und potenzielle Opfer zu schützen. Es handelt sich hier jedoch nicht nur um ein rechtliches Problem, sondern um ein Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Ein linker Feminismus, geübt in der Analyse von Sexismus in Alltagspraxen, kann auf allen Ebenen wesentlich dazu beitragen, Aufklärung und kritisches Bewusstsein zu fördern.

      Abigail Bray

      Perth, Australien

      Dr. Abigail Bray, Forschungsassistentin an der University of Western Australia in Perth; 2006–2009 Leitung ­eines Gemeinschaftsprojekts zwischen den Women’s Studies und dem »Centre for the Vulnerable Child« zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern.

      Veröffentlichung: »Governing the Gaze: Child Sexual Abuse, Moral Panics and the Post-feminist Blind Spot«, in: Feminist Media Studies, 9:2, 2009, S. 173–191.

      Liebe Frigga,

      es tut mir leid, dass ich so spät erst antworte. Es ist schwer zu sagen, was ein feministisches Projekt wäre, ohne einfach nur die schon in der Vergangenheit verfolgten Anliegen zu wiederholen. Deine Idee vom vierstündigen (Erwerbs-) Arbeitstag ist ausgezeichnet und berücksichtigt, dass Arbeit sich in der post-fordistischen Wirtschaft weiterhin radikal verändern wird.

      Mit der Intensivierung der barbarischen Formen des patriarchalen Kapitalismus muss die Abwertung der Schwächsten, der proletarischen Frauen, Kinder und Jugendlichen als eine sozioökonomische Realität der Gegenwart angesprochen werden, was Lösungen verlangt, die die spezifischen Formen von Ungerechtigkeit, die ihnen von oben auferlegt werden, erkennen.

      1921 vermerkte Lenin, dass »die weibliche Bevölkerung im Kapitalismus doppelt unterdrückt ist«. Unter den Bedingungen des barbarischen Kapitalismus ist das Schicksal proletarischer Frauen, Jugendlicher und Kinder ineinander verwoben, da ihre Unterdrückung aus einem ökonomischen System herrührt, welches Mütter, werdende Mütter und ihre Kinder herabsetzt und zugleich Familienwerte gefühlvoll anruft und Arbeitern ein Eigenheim anbietet als Hafen, in dem sie sich vom Stress eines unbarmherzigen ökonomischen Wettbewerbs erholen sollen. Die Hausarbeit, die Frauen verrichten (wie saubermachen, kochen, die komplexe Arbeit der Sorge für die Kinder, die emotionale und sexuelle Arbeit in den Geschlechterbeziehungen) bleiben für die kapitalistische Buchhaltung unsichtbar. Und doch wird aus dieser unsichtbaren Arbeit großer Profit gezogen. Solche unsichtbaren Arbeitsbeziehungen innerhalb des Hauses bringen nicht nur die Körper der zukünftigen Arbeiter hervor, die selbst profitlich ausgebeutet werden. Strom, Ernährung, Kleidung, Reinigungsmittel und -maschinen, Küchengeräte und Unterhaltungstechnologie, um nur einige Konsumtionsbereiche zu nennen, sind erforderlich, um einen privaten Raum aufrechtzuerhalten, in dem Frauenarbeit fortgesetzt ausgebeutet und unsichtbar gemacht wird. Um ihre unbezahlte Hausarbeit fortzuführen, muss sie eine endlose Vielfalt von stets auf den neuesten Stand gebrachten Waren kaufen. In dieser Hinsicht ist sie einzigartig: Von keiner anderen Arbeiterklasse wird erwartet, dass sie Werkzeuge für eine Arbeit kaufen, für die sie nicht bezahlt wird, und sich zu schämen, wenn sie sich nicht die besten Arbeitsmittel leisten können, die beste Waschmaschine, den modernsten Herd, die neusten Reinigungsmittel.

      Diese Abwertung ihrer Arbeit wird durch die neoliberalen ­Ideologien der freien Wahl und der Selbstermächtigung verstärkt, welche Frauen ­demütigen, die nicht in der Lage sind, die Doppelschicht von außerhäuslicher und innerhäuslicher Arbeit zu leisten und von Verzweiflung und Erschöpfung übermannt werden. Sie wird als unordentlich und unorganisiert stigmatisiert, geschmäht, die Gesundheit ihrer Familie aufs Spiel zu setzen. Mehr noch, sie muss, um ihr Recht auf eine Doppelschicht zu behalten, um eine verlässliche Arbeiterin, Partnerin und Mutter zu sein, an ihrer eigenen Unterdrückung mitwirken, indem sie große Mengen von Waren kauft, die sie schöner zu machen versprechen, gesünder und sexuell reizvoller. Der Kapitalismus profitiert aus der Unterdrückung von Frauen, indem er verlangt, dass sie die Werkzeuge für ihre unbezahlte Arbeit kaufen, und dann noch verlangt, dass sie ihre eigene Verdinglichung aufrechterhalten, indem sie Produkte konsumieren, die gemacht sind, um die Zeichen dieser Herabwürdigung an Körper und Geist zu verbergen.

      Außerhalb dieser Einhegung ist die Frau einem System ausgeliefert, das sie in diese Gefangennahme treibt, das romantische Liebe verspricht, Sicherheit und Mutterschaft, oder ihren Widerstand in Versagen umbenennt.

      Die Furien der kapitalistischen Elemente werden auf sie losgelassen durch ein Wohlfahrtssystem, das ihre Sexualität und Würde demütigt durch ein männlich dominiertes und vom Profit getriebenes Erziehungs- und Gesundheitssystem und einen ausbeuterischen Arbeitsplatz. Sie weiß, dass das optimistische Lächeln neoliberaler Selbstverbesserungs-Politik die stets gegenwärtige Drohung sozialen Ausschlusses und der Armut maskieren soll, ebenso wie jede Hochglanzanzeige für Gesichtscreme von der Aussicht auf Hässlichkeit überschattet ist. Aber sie kann mit diesem aufkommenden Klassenbewusstsein sehr wenig ausrichten, da sie von anderen Frauen durch unentwegte Arbeit abgeschnitten ist. Wenn sie durch Unterhaltung zu entkommen sucht, wird sie wiederum von Erzählungen bombardiert, die ihr eintrichtern, dass die Geschlechterverhältnisse des Kapitalismus eine unveränderbare Lebenstatsache sind, natürlich und von Anfang an. Es ist daher bloß natürlich, dass sie für die Arbeitsmittel wie Waschmaschine, Staubsauger, Reinigungsmittel, Mopp, Schwamm, Herd, Kühlschrank bezahlen sollte, um umsonst zu arbeiten. Freiheit heißt, jemand anderen zu haben, der diese Arbeitsmittel bezahlt, oder eine andere Arbeiterin zu bezahlen, die mit ihnen arbeitet.

      Kulturell lebt sie unter der Bedrohung durch männliche Gewalt, die es zur Gefahr macht, nachts allein auf die Straße zu gehen, die sie zu Hause erwartet und ihre Kinder sich ducken lässt. Es wird ihr versichert, dass Männergewalt gegen Frauen von neoliberalen kapitalistischen Regierungen nicht geduldet wird, und doch begegnet ihr ein Rechtssystem, das sie demütigt, weil sie keine Gegenwehr gezeigt hat, und ein soziales Urteil, das ihr bedeutet, »Ausschuss« zu sein, wenn sie sich als verletzt identifiziert. In ein Frauenhaus gegangen zu sein, in eine Notaufnahme im Krankenhaus, die Polizei um Schutz gerufen zu haben, vor Gericht gegangen zu sein, um Gerechtigkeit zu finden, heißt soziale Isolation und Stigma einzuladen. Sie wird eine Last für die Wirtschaft und eine Ausgestoßene, selbst wenn verschiedene profitgetriebene Systeme noch von ihrem Leid gewinnen.

      Man sagt ihr, dass das Glück ihrer Kinder in ihrer Verantwortung liegt, ebenso wie die Bedingungen ihres Lebens, und ihre wachsende politische Erkenntnis des Systems, welches sie unterdrückt, wird durch die hegemoniale Demütigung zum Schweigen gebracht, ihr beginnendes Gewahrwerden sei ein »bloßes Opferbewusstsein«. Erst wenn die materiellen Bedingungen des Lebens proletarischer Frauen und Kinder geändert sind, sind sie frei, in Würde zu leben. Ein sozialistischer Feminismus könnte damit beginnen, auf die emotionalen, psychologischen und physischen Zerstörungen des Lebens von Frauen und Kindern aufmerksam zu machen, die durch ein männlich dominiertes profitgetriebenes System, das auf der unsichtbaren Sklaverei des Heims basiert, verursacht werden. Wenn das Ausmaß des Leides anerkannt ist, lässt sich ein sozialistischer Feminismus nicht länger als naive und idealistische Forderung des Unmöglichen abtun, sondern kann verstanden werden als notwendige Umwälzung eines Systems, das menschliches Leben beschädigt.

      Mögliche Forderungen könnten sein:

      • Rentenalter für Frauen mit 55

      • Geringere Steuern für arbeitende Mütter und Jugendliche bis zu ­einer vernünftigen Schwelle

      • Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs

      • Nationalisierung der Banken. Banken und Unternehmen sollten einen Prozentsatz ihrer Gewinne an den Staat geben zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Frauen, Kindern, Jugendlichen.

      • Staatliche Krankenhäuser für Frauen und Kinder, wo sie umsonst behandelt werden.

      • Die Umverteilung eines Prozentsatzes der obszönen und antigesellschaftlichen