sandte, schreckte er auf, war für eine Sekunde gänzlich desorientiert und dann wieder voll da. In weniger als sechzig Minuten würde er entweder mit dem Multimillionär Karl Grothner im Gepäck auf der Flucht sein oder nicht. Dieses oder nicht allerdings war der Grund für seine Nervosität, die ihn jetzt schlagartig erfüllte. Oder nicht konnte alles Mögliche bedeuten. Tod, Gefängnis, Verletzungen ... Er wischte die Bilder der unterschiedlichen Zukunftsvarianten aus seinem Verstand und begann, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Marius prüfte, ob die schwarzen Kabelbinder in seiner Tasche waren. Im Fußraum des Beifahrers hatte er eine Brechstange und einen schweren Vorschlaghammer deponiert. Er vermutete, dass er dieses Werkzeug zum Öffnen des Mercedes brauchen würde. Auf dem Beifahrersitz lag der silberne Motorradhelm, den er als Maskierung und zum Schutz tragen würde. Kurz vor acht startete er den Motor des Lastwagens, ein alter Mercedes 1017, der für die Zündung lediglich einen Nagel brauchte, den man in das Zündschloss steckte. Danach konnte man den Motor mit dem »Start«-Knopf anlassen. Er fuhr den LKW an eine Stelle, von der aus er die Landstraße sehen und erkennen konnte, wenn Grothners Wagen sich näherte. Das Innere seiner Lederhandschuhe war wegen seiner Nervosität mittlerweile schweißgetränkt. Er wusste genau, dass es darum ging, exakt in der richtigen Sekunde auf den Plan zu treten. Zu früh, würde das Grothners Fahrer die Möglichkeit zum Bremsen oder Ausweichen geben, zu spät könnte bedeuten, die Limousine zu verpassen. Marius Kleinhans verließ sich auf seinen Instinkt, seine Intuition, die ihm schon oft geholfen hatte, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Er starrte aus dem Seitenfenster, und um drei Minuten nach acht Uhr hätte er fast die ganze Aktion vermasselt, als ein ebenfalls dunkler Wagen in sein Sichtfeld kam. Er hatte bereits begonnen, den Laster zu beschleunigen, als sein Gehirn ihm mitteilte, dass es sich nicht um einen Mercedes, sondern um einen Volvo handelte. Er bremste den Laster und setzte schnell zurück, um wieder Sicht auf die Straße zu haben. Sein Herz raste und es rauschte in seinen Ohren. Unter dem Helm war ihm unerträglich heiß, und dann endlich sah er Grothners Auto mit hoher Geschwindigkeit in seine Richtung fahren. Es folgte kein weiteres Fahrzeug, dieser Teil des Plans hatte also bereits funktioniert. Er trat das Gaspedal durch, um den Kieslaster zur Straße zu fahren. Grothners Fahrer fuhr viel schneller, als Marius einkalkuliert hatte. Der Laster erreichte die Einmündung der Hofzufahrt und Marius riss das Lenkrad nach links. Der LKW neigte sich mit quietschenden Reifen zur Seite und setzte sich punktgenau vor Grothners Limousine. Marius vollführte nun eine Vollbremsung, und nur Sekundenbruchteile später spürte er einen gewaltigen Ruck, als der Mercedes in das Heck des Lastwagens krachte. Ohne nachzudenken, griff Kleinhans nach dem Hammer und dem Stemmeisen und sprang aus dem Fahrerhaus. Er wusste, es blieben ihm nur wenige Minuten, um sich Grothner zu bemächtigen. Was er sah, als er das Heck des Lasters erreichte, ließ ihn erstarren. Der schwere Mercedes hatte sich fast bis zur Hälfte unter die Ladefläche des LKW geschoben. Die Windschutzscheibe war weit nach innen gedrückt worden, die Holme hatten trotz der Panzerung der enormen Wucht des Aufpralls nicht standgehalten und waren abgerissen worden. Die Scheibe selbst war unversehrt und die Leiche des Fahrers war hinter dem Glas eingequetscht, die Hände über dem geborstenen Schädel in stiller Mahnung erhoben. Die Zähne des Toten waren überdeutlich zu sehen. Sie hatten die Lippen völlig verdrängt und waren nun fest an das Innere der Panzerglasscheibe gepresst. Ein Teil der Schädeldecke fehlte und gezackte Knochenreste umrahmten das blutige Innere des Schädels. Marius würgte unter seinem Helm. Das war nicht geplant. Er hatte nie im Leben damit gerechnet, dass ein gepanzertes Fahrzeug im Falle eines, wenn auch schweren, Unfalls solchen Schaden nehmen würde. Verletzungen der Insassen hatte er einkalkuliert und auch mit seinem Gewissen vereinbaren können, aber das? Nun war er ein Mörder. Er brauchte fast dreißig Sekunden, um sich wieder bewegen zu können. Er stellte fest, dass alle Seitenscheiben nach außen geworfen worden waren. Dann sah er Karl Grothner, der ebenfalls am Kopf blutete, im Fond des Mercedes sitzen. Die weißen Airbags hingen schlaff an den Holmen und an der Rückenlehne des Beifahrersitzes herab. Marius griff in das Fahrzeugwrack, fasste Grothner unter den Armen und zog den Mann durch das Seitenfenster aus dem Auto. Hammer und Brecheisen hatte er weggeworfen, sie waren überflüssig geworden. Für eine Sekunde geriet ihm der Geruch, den der tote Fahrer verströmte, in die Nase. Seltsam süß und herb zugleich, ein grauenvoller Duft, der mit keinem ihm bekannten Geruch vergleichbar war. Den bewusstlosen Grothner hob er auf seine rechte Schulter und trug ihn so schnell er konnte über die Straße zu dem versteckt geparkten Renault, dessen Heckklappe offenstand. Unsanft legte er den Mann in den Kofferraum und griff nach den Kabelbindern, um ihn damit an Händen und Füßen zu fesseln. Anschließend warf er eine Decke über sein Opfer und schloss den Kofferraum. Er nahm seinen Helm ab, bevor er einstieg und das Auto startete. Mit quietschenden Reifen raste Marius Kleinhans, der schon in wenigen Minuten zu einem der meistgesuchten Verbrecher der Republik ernannt werden würde, vom Tatort, um seine Beute in Sicherheit zu bringen. Gut ging es ihm nicht dabei. Das Bild des toten Fahrers hing wie ein bleierner Mantel über seinen Gedanken und Gefühlen. Das Bild und der Geruch, den der Tote verströmt hatte.
Im Keller
Als er das nächste Mal erwachte, war es wieder dunkel. Langsam kehrte die Erinnerung an seine letzte Wachphase zurück. Die Kette um seinen Hals klirrte, als er sich aufsetzte. Er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und erinnerte sich daran, dass vor der Liege die Schüssel mit dem Brot und eine Wasserflasche stand. In absoluter Finsternis tastete er danach und fand die Wasserflasche tatsächlich. Sie war wieder gefüllt worden und dankbar schraubte er den Plastikverschluss auf und trank. Das Brot in der Schüssel war hart geworden, offenbar war es nicht ersetzt worden. Er opferte etwas Wasser, weichte das Brot auf und verschlang es, von gewaltigem Hunger getrieben. Sein Magen machte einige beunruhigende Geräusche, akzeptierte aber diese Zuwendung. Noch immer war er nackt und fror. Um sich selbst zu wärmen, legte er sich in embryonaler Haltung auf die Pritsche. Seine Gedanken schwirrten wie in einem Wespennest umher und er konnte keinen einzigen fassen. In ihm war keine Erinnerung, die er abrufen konnte, kein Hinweis auf seine Identität.
»Was, was, was, was, was, was ...« entrann seiner Kehle.
»Doch, doch, doch, auf, auf, auf, auch, auch ...«
»Basedu, basedie, baseleikum, basedu, basedie.« Er kicherte. Seine Netzhäute empfingen keine Lichtsignale und das Gehirn füllte diese Informationslücke mit grellen Punkten und verschwommenen Spiralen, kleinen Lichtwürmern und farbigen Kaskaden. Dann sah er auf einmal die Treppe vor seinem inneren Auge. Die Holztreppe, die aus seinem Verlies hinausführte. Er sah sie unter sich, als würde er sie in Bauchlage hinunterfliegen. Jede Maserung des Holzes konnte er visualisieren, jede Macke und jede Stelle, an der Holzwürmer kleine, stecknadelgroße Löcher hinterlassen hatten. Der innere Film endete immer an derselben Stelle. Am Fuß der Treppe. Vielleicht war er die Treppe heruntergestürzt und hatte deswegen die Verletzungen.
»Wer weiß das schon? Wer weiß das schon? Opi riecht nach Pitralon.« Wieder musste er leise kichern.
»Auf, auf. Wasser ist zum Trinken da. Auch. Auf.« Die Flasche, die kaum einen halben Liter fasste, war leer, und auch der Blechnapf gab nichts mehr her. Er spürte, dass er sich erleichtern musste. Seine Blase war gefüllt und sandte schmerzhafte Impulse aus. Das gemarterte Gehirn suchte verzweifelt nach einer Lösung, fand jedoch keine. Doch. Eine Idee. Vielleicht konnte man ihn hören. Und ihm helfen. Er konnte doch hier nicht einfach unter sich lassen. Das war der erste logische Gedanke, seit er hier unten war. Rufen. Doch was?
»Auf, auf, doch, doch. Auch, auuuuuch. Dooooooch. Auf, auf!«, rief er, so laut es seine Stimme hergab. Wieder und wieder rief er, doch niemand kam, um ihn aus seiner Not zu befreien. Als er es schließlich nicht mehr aushalten konnte, nutzte er die gesamte Länge der Halskette und erleichterte sich an der Wand. Sein eigener Urin spritzte ihm auf die Füße und er spürte, wie das von ihm erzeugte, warme Rinnsal eine Pfütze um ihn herum bildete, einen See, in dem er nun stand. Auf Zehenspitzen ging er zurück zu seiner Liege und setzte sich. Plötzlich ging das Licht an und die Helligkeit stach ihm in die Augen, die er reflexartig schloss.
»Halloooo? Doch, doch. Kommen Sie. Doch, auf!«, rief er.
Er öffnete die Augen einen Spalt und hielt seine Hände schützend vor das Licht, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er konnte die peinliche Pfütze sehen, die er selbst erschaffen hatte und unweit davon lag etwas. Die Kette um seinen Hals erlaubte es ihm nicht, den Gegenstand zu erreichen, doch