Inferno Ostpreußen. Fisch Bernhard

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Название Inferno Ostpreußen
Автор произведения Fisch Bernhard
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783943583779



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blieb er auch für Wochen auf der Insel im See. Dort sahen sie ihn in der Nacht am Feuer sitzen, wie einen Häuptling bei der Totenklage, und oft lauschten sie, ob nicht ein eintöniger Gesang herüberkomme, aber es war alles still.“71

      Die Dorfbewohner konnten „die Gestalt des Großvaters in der Ferne erblicken, wie er aus den Wäldern am andern Ufer auf das Eis nieder stieg, den Schlitten mit Holz beladen, oder wie er unter den kahlen Eichen der Insel stand“.72

      c) Später bezog Jons Bruder Friedrich die Insel. „Auf dem Hügel hörten sie seine Flöte“, „wie die Stimme eines vergehenden Menschen“.73 Vom See aus gesehen, liegt der Hügel mit der Kirche jenseits des Dorfes. Der Hügel ist also weiter von der Insel entfernt als das Dorf. Wie weit mag sie reichen, „die Stimme eines vergehenden Menschen“? Ein Gespräch hört man auf 200 m, einzelne Worte daraus auf 75, ein Husten auf 50 m. Die reale Insel im Niedersee, südöstlich von Sowirog, liegt aber über 500 m entfernt. Selbst bei günstigsten Bedingungen konnten solche Töne von dort nicht zum Dorf dringen.

      d) Schließlich die optischen Angaben: Jons Großvater sahen die Dorfbewohner nachts „am Feuer sitzen“. Die Gestalt eines Pfarrers erblickten sie manchmal „in der Ferne … am andern Ufer“ des Sees. Einzelne Menschen sieht man als Punkte auf 1,2 bis 1,5 km, im Gesamtumriss auf 800 m, einen Kopf kann man auf 400 m unterscheiden. Diese Entfernungen entsprechen den Realitäten.

      Resultat 3: Lediglich die Angaben zum Flötenspiel schließen Sowirog aus, alle anderen optischen und akustischen Angaben treffen zu und sprechen für den Ort.

       Umschau 4: Der See

      Wiechert hat zwei ausführlichere Beschreibungen der Umgebung des Sees geliefert: einmal als Naturbild und zweitens sozusagen als sportliche Leistung, nämlich der Ritt des Wachtmeisters Korsanke um den See herum. Wenden wir uns den Naturbildern zu: „Hinter der Insel stiegen sie ans Ufer, alle nun fiebernd vor Aufregung, und Christian steuerte das Boot langsam in das schwarze Fließ, das düster und fast ohne Bewegung unter Erlenwipfeln dahinfloss und wo in schwarzen Höhlungen und unter grauen Wurzeln die Krebse wohnten. Hier war eine fahle, geheimnisvolle Landschaft, Ausläufer des Moores mit Hügeln, auf denen alte Eichen wuchsen.“74 Und „man kommt tief ins Moor hinein. Keiner kann einen mehr sehen. Dort habe ich eine kleine Hütte gebaut, aus Rasen und Schilf“.75

      Hier das zweite Bild: „Jons und Hanna aber fuhren am Nachmittag vor Ostern in dem kleinen Boot den See hinunter, wo zwischen hohen Schilfwänden eine schmale, dunkle Straße in ein stilles Waldgewässer führte. Eichen und Kiefern standen über dem sandigen Ufer, und nur nach Westen öffnete der Wald sich und ließ den Blick auf Hügel und Wiesen frei, bis eine ferne, blaue Linie ihn wieder begrenzte, aus der Rauch aufstieg wie aus Dörfern, die in der Einöde lagen.“76

      Wenn wir davon ausgehen, dass hier der Niedersee beschrieben wird, dann stimmt keines der Bilder mit der Wirklichkeit überein. Die Leute erreichen an der Insel vorbei das gegenüberliegende Seeufer. Dort aber befinden sich weder Fließ noch Moor, denn da erhebt sich über dem See ein teilweise bis zu 20 m hoher Steilhang. Zweitens: Jons und Hanna: Sie fuhren den See „hinunter“. Das lässt eine Abfahrt sowohl nach Nordosten als auch in entgegengesetzter Richtung zu. Im ersten Fall landen sie am Dorf Jaschkowen, danach erreichen sie Wiartel. Sie kommen also in belebte Gegenden, heraus aus der Waldeseinsamkeit. Fahren sie Richtung Rudzanny, dann finden sie dort keine Wasserverbindung zu einem stehenden Gewässer. Und schon gar nicht öffnet sich da der Blick nach Westen auf Hügel und Wiesen, eben wegen des Steilhanges.

      Nun zum Ritt des Wachtmeisters Korsanke. Er will zu dem Mädchen, das den flötenspielenden Friedrich auf der Insel besucht hatte. Welche Route schlägt er ein? „Korsanke ritt um den See herum.“ Durch den Weißbuchenwald, „das Paradies“, „nach dem Dorfe, in dem das Mädchen zu Hause war, das dem Toten die ‚letzte Freude‘ geschenkt hatte … Der Polizist ritt nicht denselben Weg zurück. Er setzte ihn fort, um den ganzen See herum, langsam und in Gedanken verloren“. Und dann, ganz logisch und gleichsam den Umritt bestätigend: „Er kam von der andern Seite ins Dorf zurück.“77

      Sehen wir uns die Wegstrecke um den Niedersee herum auf der Karte an. Er durchritt auf seinem Pferd die Dörfer Jaschkowen, Wiartel, Vorder- und Hinter-Lippa, Przyroscheln (in diesem Abschnitt mag der Buchenwald liegen), dann Curwien, Nieden, Rudzanny und Kowallik, um dann geradewegs durch die Heide nach seinem Dienstort zu traben. Das ist eine Tagesstrecke von über 40 km, eine sehr große Leistung für ein Polizeipferd. Außerdem entbehrt der lange Weg einer inneren Logik. Wenn wir annehmen, dass das Mädchen in Przyroschl gelebt hat, dann hätte der Polizist über Wiartel hin und zurück nur 16 km zurückzulegen gehabt. Wiechert gibt keinen Grund für diesen riesigen Umweg an.

      Gehen wir also vom Niedersee aus, dann hat Wiechert entweder einen anderen See im Auge gehabt oder er lässt uns über Korsankes Motive im Stich, was angesichts des tiefen psychologischen Eindringens Wiecherts in seine Helden äußerst unwahrscheinlich ist. Es kommt ein zweiter Einwand hinzu, den wir aber nicht beweisen können. Hier wird ja die Amtshandlung eines Polizisten beschrieben. Jeder Beamte hatte einen bestimmten genau umrissenen Bezirk, in dem er dienstlich tätig sein durfte. Mir erscheint es unwahrscheinlich, dass Korsankes Territorium nach Süden über den See hinausreichte. Es dürften in den dortigen größeren Dörfern ebenfalls Gendarmerieposten bestanden haben.

      Ergebnis 4: Wiecherts Sowirog lag nicht am Niedersee.

       Umschau 5: Die Schlacht bei Tannenberg

      Nach dem Erscheinen der ersten Kosaken und dem Brand der Kirche „zogen nun ohne Aufhören Truppen durch ihr Dorf, solange, bis im Nordwesten das Gebrüll der Kanonen sich zu einer einzigen Donnerstimme erhob, die Tag und Nacht nicht schweigen wollte. Da begann der Strom zu stocken, der nach vorwärts floss … Danach begann der Strom sich zu stauen und rückwärts zu fluten“.78 Die Weichenden legten im Dorf Feuer und es entstand eine „Feuermauer, die zu beiden Seiten der Straße stand, und in deren Schein der Rest des geschlagenen Heeres in den Wäldern verschwand“.79

      Augenscheinlich wird hier der Durchmarsch bedeutender Truppenmassen der russischen Armee beschrieben. Wiechert schildert sowohl die angreifenden wie auch die zurückgehenden Einheiten. Massen von derartigen Umfang, Wiechert sagt: ein Strom, ohne Aufhören, pflegten sich aber nicht auf Seitenwegen zu bewegen. Sowirog liegt innerhalb des hufeisenförmigen Niedersees, es war also in Richtung auf die russische Grenze völlig geschützt. Wollte der Gegner den Ort erreichen, dann musste er von der Hauptstraße, auf der er sich bewegte, ein bedeutendes Stück zur Seite und gar nach rückwärts abweichen. Fliehende Gegner befanden sich dagegen dort wie in einem Sack ohne schnellen Ausgang. Während des ersten Weltkrieges führten nur zwei bedeutendere Straßen von den südlich gelegenen russischen Festungen Ostrołęka und Łomża nach Ostpreußen hinein. Die eine über Myszyniec – Friedrichshof – Puppen nach Sensburg, die andere über Kolno nach Johannisburg. Sie umgingen also das große Waldgebiet der Heide. Zusätzlich sperrt noch der Niedersee. Die Straße Johannisburg – Turoscheln endet dort, verläuft außerdem quer zur Marschrichtung und hat auf russischer Seite keinen direkten Anschluss zu den Bereitstellungsräumen der Russen. Außerdem, auf polnischer Seite, im Rechteck zwischen Grenze und den beiden Festungen, verlaufen die unbefestigten Landwege eher in Ost-West-Richtung, als auf die Grenze zu.

      Es gibt also keinen vernünftigen Grund, warum die russische Armeeführung einen solchen „Strom“ unbedingt um den See herum in das völlig unbedeutende Sowirog führen sollte, der dann weiter durch die trockene, sandige und heiße Heide geführt hätte. Wäre man von hier aus auf den schnurgeraden Schneisen weiter nach Norden marschiert, wäre man in den Halbinseln vor dem Spirding gefangen gewesen. Man hätte also vorher nach Rudzanny oder Johannisburg abbiegen müssen. Soviel logistischen Unsinn wollen wir der russischen Generalität nun doch nicht zutrauen. Genauso wenig hat ein vernünftiger Grund für die Auswahl des Fluchtweges durch die Heide bestanden.

      Ergebnis 5: Die Beschreibung des Truppendurchzugs lässt sich mit den realen Gegebenheiten von Sowirog nicht verbinden. (Ein noch sicherer Beweis aus dem Jahre 2009: Hier die Bewegung der russischen Einheiten, die dem Dorfe am nächsten kamen. Während der Schlacht bei Tannenberg im August 1914 stieß das russische VI. Armeekorps über Ortelsburg bis nördlich Bischofsburg