Schicksalsmomente. Stefan Fröhling

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Название Schicksalsmomente
Автор произведения Stefan Fröhling
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783865065919



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Menschen, noch einigermaßen in den Rahmen eines geschlossenen Weltbildes eingebunden. Dieses existiert heute wohl nicht mehr. Weltbilder, ob gemeinsam oder nicht, spielen kaum mehr eine Rolle.5 Nach den „gescheiterten Utopien“6 bzw. Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts sind große, übergreifende Denksysteme zumindest in der westlichen Welt in Misskredit geraten.

      Die Schicksalsmomente großer Persönlichkeiten früherer Zeiten hatten eine transzendentale Dimension. Sie empfingen ihre Inspiration aus dem „Reich der Ideen“, um es mit Platon7 zu formulieren. Aus einzelnen Inspirationen wurden Schicksalsmomente insofern, als dass sich die Denker bzw. Künstler damit existenziell befassen; das heißt, sie waren auf der Suche danach, wie sie die gewonnene Idee mit ihrem Leben und ihren sonstigen geistigen Entwürfen vereinbaren könnten und schufen neue gedankliche Möglichkeiten. Dabei war das zwischenzeitliche Scheitern, so wie Goethe es bei sich sah, durchaus nicht ausgeschlossen. Aber sie wagten große neue Schritte, welche manchmal geeignet waren, die „Gewichte der Welt“ zu verschieben.

      Die Schicksalsmomente im Leben von Menschen aus jüngerer Zeitgeschichte resultierten ebenfalls aus einer Suche, doch sie blieb unerfüllt, wenn die Anbindung an eine Religion oder vertiefte Weltanschauung fehlte. Die Suche selbst wurde zur Lebensform. Die große Inspiration, empfangen aus der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt der Ideen, ist dann nicht mehr vorhanden oder basiert auf Hilfskonstruktionen; denn über „Visionen“ oder „Philosophie“ wird durchaus viel gesprochen, mehr als jemals zuvor: Jede Firma entwickelt eine „Firmenphilosophie“, jeder neue Chef präsentiert in seinem Betrieb oder in seiner Abteilung eine „Vision“, wobei man die eigentliche „Letztbegründung“8 vermisst. Der Gesamtrahmen ist nicht mehr da, er wird hilfsweise durch begrenzte „Projekte“ ersetzt.

      Im geistigen Bereich sind die empirischen Naturwissenschaften, trotz aller Einschränkungen, zunehmend anerkannt und im Vordergrund. Sie haben sich aber, so gewinnt man den Eindruck, gerade durch die Entwicklung neuer Technologien, auf das Speichern von unzähligen Daten aus Erhebungen, Dokumentationen und Begutachtungen aller Art verlegt. Gliederungen und ethische Strukturen scheinen in der Sammelwut unterzugehen, eine unübersichtliche „Multi-Welt“9 tut sich auf, die Sprache wird undeutlich, Interpretationen, inhaltliche Auseinandersetzungen, Inspirationen oder gar Schicksalsmomente scheinen kaum noch denkbar. Wie in einer – echten – Vision hat schon Goethe jenen Projekten ein paar Verse gewidmet:

      Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen!

       Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos;

       Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,

       Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;

       Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,

       Naturgeheimnis werde nachgestammelt.10

       Apostel Paulus (5/​10 – 63/​64)

      „Paulus scheint ein Mensch gewesen zu sein, der Schweres anzog. Sein Wesen war so, dass er die Widerstände und Widersprüche des Daseins zu voller Schärfe hervortrieb; sein ganzer Lebensweg zeigt es. Er war ein geplagter Mensch. Die letzten Kapitel des zweiten Korintherbriefs reden von unendlicher Mühsal.“11

      Mit diesen Worten hat der katholische Theologe Romano Guardini (1885 – 1968) den Apostel charakterisiert. In seinem 1. Brief an die Korinther beschreibt Paulus – dem Gefängnisaufenthalte, die Gefährdung durch Räuber oder selbst Schiffbrüche nicht erspart geblieben sind (2 Kor 11,23 – 28) – seine Missionstätigkeit sogar noch drastischer, indem er glaubt, dass Gott die Apostel wie Todgeweihte auf den letzten Platz gestellt hat (1 Kor 4,9). „Bis zur Stunde hungern und dürsten wir, gehen in Lumpen, werden mit Fäusten geschlagen und sind heimatlos. Wir plagen uns ab und arbeiten mit eigenen Händen; wir werden beschimpft und segnen; wir werden verfolgt und halten stand; wir werden geschmäht und trösten. Wir sind sozusagen der Abschaum der Welt geworden, verstoßen von allen bis heute“ (1 Kor 4,11 – 13).

      Obwohl der Apostel Paulus zu den am häufigsten genannten Personen des Neuen Testaments zählt, ist über sein Leben historisch gesichert nur wenig bekannt. Am aussagekräftigsten sind seine an junge christliche Gemeinden gerichteten autobiographischen Briefe, sieben an der Zahl, in denen er ganz individuell als Mensch in Erscheinung tritt. Diese besitzen als situations- sowie adressatenbezogene Schreiben einen persönlichen, einen theologischen oder einen offiziellen Tonfall.12 Sie gelten als die ältesten literarischen Zeugnisse des Neuen Testaments und wurden zwischen den Jahren 50/​51 (1. Brief an die Thessalonicher) und den Jahren 55/​56 christlicher Zeitrechnung (Brief an die Römer) verfasst. Somit liegen sie zeitlich vor der Entstehung des frühesten Evangeliums, nämlich des Markus-Evangeliums (vor 70 n. Chr.). Zu den authentischen, also den von Paulus geschriebenen oder diktierten Briefen (Protopaulinen), die in den Gemeinden vorgetragen und besprochen wurden, gehören außerdem die beiden Korintherbriefe sowie der Galaterbrief, der Philipperbrief und der Philemonbrief.

      Die anderen unter seinem Namen weitergegebenen Briefe, die zwischen den Jahren 70 und 100 nach Christus entstanden sind, werden als Deutero- oder Tritopaulinen bezeichnet, weil sie von seinen Schülern resp. Nachfolgern oder von Gemeindeleitern stammen, die bereits über die Theologie des Apostels reflektieren und sich sein hohes Ansehen bei der Angabe des Absenders zunutze machen (Kolosserbrief, Epheserbrief, 2. Thessalonicherbrief, 1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief). Briefe wurden in damaliger Zeit meist einem Schreiber oder Sekretär diktiert und von diesem auf Wachstäfelchen notiert, um sie später auf Papier aus Papyrusblättern oder Pergament aus Tierhäuten zu übertragen. Anschließend wurden sie durch Boten zugestellt.

       Die Apostelgeschichte

      Eine zweite Quelle, die über die Missionstätigkeit des Apostels Paulus Auskunft gibt, ist die sogenannte „Apostelgeschichte“ im Neuen Testament. Für deren Entstehungszeit werden die Jahre vor oder um 90 nach Christus angesetzt. Als Verfasser der Apostelgeschichte gilt der Autor des Lukas-Evangeliums (vor oder um 80 n. Chr.). Ob dieser freilich den Namen Lukas getragen hat, lässt sich nicht nachweisen, da die namentliche Zuordnung der beiden Schriften erst ab dem zweiten Jahrhundert nach Christus historisch fassbar wird. Sicher ist nur, dass „Lukas“ ein gebildeter Heidenchrist war, der wie Paulus die griechische Sprache sehr gut beherrschte, also im hellenistisch geprägten Teil des römischen Imperiums gelebt hat. Das „lukanische“ Doppelwerk könnte folglich sowohl in Griechenland als auch in Kleinasien (heute Türkei) oder in der Hauptstadt der römischen Provinz Syrien, Antiochia13, entstanden sein und somit in Gebieten, in denen der Apostel Paulus unterwegs gewesen war. Mit Palästina, wo Jesus gelebt hat und gestorben ist, war „Lukas“ nicht vertraut.

      Dass jener ein Paulus-Begleiter oder ein Arzt war, gehört eher in das Reich der Legende, obgleich sich unter den Mitarbeitern des Apostels wohl ein Lukas befunden hat. Als Mitarbeiter oder Begleiter sind etwa 50 Männer und Frauen aus den überlieferten Quellen namentlich bekannt.14 Einem Begleiter freilich wären keine „so kompakten historischen Irrtümer über das Leben des Paulus“ unterlaufen, wie sie in der zweiten „lukanischen“ Schrift zu entdecken sind.15

      Die Apostelgeschichte, die ebenfalls erst seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus diese Bezeichnung trägt, ist mehr ein theologisches denn ein geschichtliches Werk und richtet ihren Blick zunächst auf das Wirken des Apostels Simon Petrus in Jerusalem und Palästina. Laut dem Markus-Evangelium (3,16) hat Jesus seinem Jünger Simon den aus der aramäischen Sprache kommenden Beinamen „Kephas“ gegeben, der übersetzt „Edelstein“ bedeutet und im Griechischen mit dem Wort „Petros“ („Fels“ oder „Stein“) wiedergegeben wird. Nach dem Tod Jesu um das Jahr 30 und seiner Auferstehung hat Petrus bald die Leitung der Jerusalemer Gemeinde übernommen, die er bis um das Jahr 43 innehatte, als er im Zuge einer Christenverfolgung zusammen mit dem Apostel Jakobus d. Ä. verhaftet wurde, aber aus dem Gefängnis und aus Jerusalem fliehen konnte. Jakobus d. Ä. wurde hingerichtet. Dessen Bruder, der Apostel Jakobus d. J., war fortan Leiter der Gemeinde. Um das Jahr 35 und somit gut zwei Jahre nach seinem Bekehrungserlebnis war Paulus zum ersten Mal dem Apostel Petrus in Jerusalem