Israel. Sotill Wolfgang

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Название Israel
Автор произведения Sotill Wolfgang
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990405307



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Die Idee des Messias ist hochkonzentrierte Heiligkeit, die toxisch wird, sobald man zu viel von ihr bekommt. All diese Sehnsüchte und Projektionen sind der Heiligkeit der Stadt geschuldet. Juden, Christen und Muslime sind hier mit ihren Traditionen auf engstem Raum beheimatet. In der Altstadt, die kaum einen Quadratkilometer groß ist, sind Westmauer, Felsendom, Al-Aqsa-Moschee, Via Dolorosa und Grabeskirche räumlich dicht gedrängt. Damit ist die Stadt die spirituelle Heimat der beinahe halben Menschheit. Mit solch einem Superlativ kann keine andere Stadt dieser Welt aufwarten.

      Geschichtsfälschung gehört ebenfalls zu dieser Stadt. Ein Wächter am Felsendom, der streng darüber wachte, dass kein Mann seine Frau berührt, erklärte mir bei einem meiner Besuche auf dem Tempelplatz, dass der Prophet Mohammed hierhergekommen sei, weil hier die „kürzeste Verbindung zwischen Erde und Himmel“ bestehe. Zu Zeiten des Propheten sei an diesem Ort „nichts außer dem nackten Felsen“ gewesen. Die Tatsache, dass der Felsendom am Ort des jüdischen Tempels errichtet wurde, verschwieg er. Wissentlich oder unwissentlich?

      Natürlich gehören zu den religiösen Wahrheiten, die keineswegs den historischen Wahrheiten entsprechen müssen, auch zahlreiche Legenden. Wie jene vom Nabel der Welt im griechisch-orthodoxen Katholikon der Grabeskirche. Dieser Nabel wird meist nicht als solcher erkannt, sieht er doch aus wie ein mit einem Kreuz versehener Laib Brot. Griechisch-orthodoxe Christen wissen allerdings um die Bedeutung dieses Steins: Ursprünglich sei dieser Nabel riesig gewesen. Durch die Berührung vieler Gläubiger greife er sich langsam ab und werde immer kleiner. Und wenn er einmal ganz verschwunden sein wird, erscheint der Messias. Dies erklärte mir eine Pilgerin aus Athen. Trotz der hohen Besucherfrequenz in der Grabeskirche sei tröstlich vermerkt: Das wird wohl noch einige Generationen dauern.

      Die Vorstellung von Jerusalem als dem Nabel der Welt findet sich bis ins späte Mittelalter in einzelnen Weltkarten. Am oberen Rand der Karte sieht man Jesus, der vom Osten mit der aufgehenden Sonne als der verheißene Messias erscheint. Unten, im Westen, stehen die Säulen des Herkules, der über die Meerenge von Gibraltar den Schriftzug spannt: „Non plus ultra“, „Nicht darüber hinaus“. Das war als Warnung für die Seeleute gedacht, als man noch glaubte, die Welt sei eine Scheibe. Als Amerika 1492 entdeckt wurde, strich man die Verneinung weg und machte daraus den ermutigenden Aufruf: „Plus ultra“, „Darüber hinaus“. Dieser Schriftzug findet sich heute noch in der spanische Flagge. In der Mitte der Welt war Jerusalem.

      Auch die Juden verorten den Nabel der Welt in Jerusalem. Eine rabbinische Überlieferung sagt: „So wie der Nabel in der Mitte des Menschen ist, so befindet sich das Land Israel in der Mitte der Welt. Und so ist auch Jerusalem in der Mitte des Landes Israel, und das Heiligtum befindet sich in der Mitte Jerusalems, und der Tempel in der Mitte des Heiligtums, und die Bundeslade mit den Gesetzestafeln in der Mitte des Tempels, und vom Grundstein vor dieser Lade ging die Gründung der ganzen Welt aus.“

      Jerusalem ist eine Stadt, die kaum einen Besucher unberührt lässt. Viele sind völlig hingerissen, nur wenige lehnen sie kategorisch ab. Die wechselhafte Geschichte, die wetteifernden, aber zugleich reiche Traditionen bewahrenden Religionen, die großen Ideen und die nicht minder großen Trugschlüsse machen es allerdings schwer, die Stadt zu begreifen. Der Versuch von Reiseleitern, mit mehr Information Klarheit zu schaffen, schlägt oft fehl. Diese trägt eher zur Verwirrung der Besucher bei. Eine 3000-jährige Geschichte, die man auf engstem Raum sehen kann, sowie das Nebeneinander von drei Religionen, die in sich wiederum getrennt und oft genug zerstritten sind, kennt man in Europa nicht. Das fasziniert, aber es verunsichert auch. Viele Reisende kapitulieren beim Versuch, während eines kurzen Aufenthaltes diese Stadt zu verstehen, die 17-mal zerstört und noch viel öfter erobert wurde. Sie begeben sich deshalb lieber auf eine emotionale Ebene. Es berührt sie, wenn sie den Muezzin hören, dessen Stimme von den Glocken der Grabeskirche übertönt wird. Sie sind begeistert, wenn sie einen orthodoxen Juden sehen, der sich mit seinen Kindern am Weg zur Westmauer zwischen den am Boden sitzenden arabischen Frauen durchdrängt, die intensiv duftende Minze verkaufen. Es ekelt sie, wenn sie Schafsköpfe an Haken an der Straße baumeln sehen und sie sind betroffen, wenn sie am Damaskus-Tor Bettlern begegnen. Selbst die Verunsicherung nach jedem Einkauf im Bazar, ob sie für die Holzkrippe oder das Stoffkamel womöglich doch zu viel bezahlt haben, gehört zu den emotionalen Augenblicken. Es sind viele intensive Eindrücke, die in Erinnerung bleiben. Der nachhaltigste ist aber für beinahe jeden Reisenden der erste Blick vom Ölberg auf die Stadt. Sie liegt zu Füßen des Besuchers, die Sonne spiegelt sich in der Kuppel des Felsendoms. Sie sieht so friedlich aus, auch wenn man weiß, dass dieser Schein trügt.

      Jerusalem ist für geistig eng geführte Gläubige aller Religionen eine leicht zu bereisende Adresse, denn sie wollen ohnehin nur sehen, was sie schon vor Beginn der Reise erwartet haben: die heiligen Stätten ihrer Religion. Für Reisende, die ein kulturelles Interesse über ihre Konfession hinaus haben, ist es wohl eine äußerst schwierige Destination. Sie werden bereichert und zugleich irritiert sein von der Glaubenstiefe, der Vielfalt aber auch der Widersprüchlichkeit der Stadt. Sie müssen sich entscheiden, ob sie es mit Aldous Huxley halten, der von Jerusalem als einem „Schlachthaus der Religionen“ sprach, oder ob sie Simon Sebag Montefiore zustimmen, dem Verfasser einer „Biografie“ über Jerusalem. Er kommt in seinem Buch zum Schluss, dass Jerusalem eine „tragende Säule der Weltgeschichte“ sei.

       WER IST DAS ÜBERHAUPT: EIN JUDE?

      DIE FRAGE ist ganz einfach zu beantworten: Das weiß niemand. Nicht einmal in Israel, das sich als der Staat der Juden definiert, ist man sich darüber im Klaren. Nur die Antisemiten haben es sich immer schon leicht gemacht. So meinte Wiens legendärer Bürgermeister Karl Lueger (von 1897 bis 1910): „Wer ein Jud is, das bestimm ich!“ Und andere Judenhasser glaubten, Juden am Geruch oder an der Nase erkennen zu können. Alle schienen es zu wissen, nur die Juden selbst nicht.

      Die bis in die 1960er-Jahre gültige Definition lautete: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren oder vor einem orthodoxen Rabbiner zum Judentum übergetreten ist. Die Konversionen fallen dabei kaum ins Gewicht und machen weltweit nur rund ein Prozent aus.

      Der Umstand, dass die Mutter – und nicht wie in den meisten anderen Kulturen der Vater – für die religiöse Zugehörigkeit eines Kindes zuständig ist, zeigt die praktische Denkweise im Judentum. Denn „mater certus, pater semper incertus est“ sagt der Lateiner, der damit ausdrückt: Wer die Mutter eines Kindes ist, ist immer sicher; wer der Vater ist, hingegen nicht. Diese Definition nach der Mutter trägt aber auch noch die Komponente einer sozialen Verantwortung für die Frauen in sich. Wird eine Frau nach einer Vergewaltigung schwanger, dann wird diese häufig – und das nicht nur im Orient – aus der Gemeinschaft ausgestoßen und bleibt schutzlos zurück. Im Judentum hingegen verbleibt sie mit ihrem Kind im Schutzbereich der Familie und damit auch im Volk. Was der Ausschluss aus einer Gesellschaft bedeutet, in der die Familie – und nicht ein säkularer Staat – das soziale Netz bildet, kann man sich vorstellen.

      Die Bedeutungslosigkeit des Mannes in dieser Frage verkehrt sich in den letzten Jahrzehnten allerdings gegen das Judentum: Viele Juden in den USA, die nur eine geringe Bindung an ihre Herkunft und Religion haben, ehelichen auch Nichtjüdinnen, deren gemeinsame Kinder dann freilich keine Juden mehr sind. Das bedeutet für ein kleines Volk einen erheblichen Aderlass. Deswegen gibt es auch immer wieder Vorstöße von Politikern, auch jene Kinder als Juden anzuerkennen, bei denen nur die Väter, nicht aber die Mütter jüdisch sind. Aber bislang war diesen Bemühungen kein Erfolg beschieden – zu restriktiv denken die religiösen Parteien und die wichtigen Rabbiner des Landes.

      Nach dem Schock der Shoa war es für den 1948 gegründeten Staat Israel ein zentrales Anliegen, Juden aus der ganzen Welt die Einwanderung zu ermöglichen und ihnen die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Israel brauchte die Zuwanderer auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den arabischen Nachbarn und die heimatlosen Menschen aus dem Nachkriegseuropa nahmen die Einladung gerne an. In dieser Situation kümmerte man sich wenig um die Frage „Wer ist ein Jude?“, die es zwischen