Название | Der arme Trillionär |
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Автор произведения | Georg Ransmayr |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990404263 |
Seine Firmenzentrale hatte Sigmund Bosel hinter dem Wiener Rathaus am Friedrich-Schmidt-Platz Nummer 5. In diesem Bürohaus geht der schillernde Kommerzialrat mit seinem Beraterstab damals ein und aus. 18 Automobile sollen für Bosel und seine Prokuristen in den besten Zeiten in der Garage bereitgestanden sein. Ein ehemaliger k. u. k. Rittmeister war damit beauftragt, die neumodernen Pferdestärken im Fuhrpark zu betreuen. Bosel lebt auf großem Fuß. Er ist ein Unternehmer mit einem veritablen Hofstaat.3 Obwohl Bosel mit seinem Bankhaus mächtig Eindruck machte, haben viele seinen Broterwerb für ein liederliches Gewerbe gehalten. Denn Bosel war ein Inflationsgewinnler, der mit eiskalten Geschäftsmethoden aus dem Sturm der Geldentwertung Kapital geschlagen hatte. Auf diese Weise wurde er die umstrittene Ikone einer New Economy von Spekulanten, die ganz Österreich in ihren Bann zog. Eine kleine Schicht von talentierten Aufsteigern machte der Bevölkerung vor, wie man der grassierenden Inflation ein Schnippchen schlagen und dabei astronomische Vermögenswerte anhäufen konnte. Für viele Menschen hatte sich ein historisches Zeitfenster aufgetan. Die Geldentwertung hatte abertausende Vermögen ausradiert und Elias Canetti zufolge vorübergehend soziale Unterschiede aufgehoben, „die wie für die Ewigkeit geschaffen schienen“.4
Auf sonderbare Weise hatte die Inflation scheinbar Chancengleichheit geschaffen. Reichwerden war eine Beschäftigung für jedermann geworden – vorausgesetzt, man hatte Talent und auch die nötige Portion Rücksichtslosigkeit. Sigmund Bosel brachte beides mit, und er hatte obendrein das Glück, dass er den Grundstein für seinen Reichtum schon im Ersten Weltkrieg legen konnte – als Lieferant vieler Flüchtlingslager. Der Publizist Karl Kraus spuckte deshalb Gift und Galle auf Bosel, weil der Emporkömmling seiner Meinung nach zu einer Sorte Mensch gehörte, die Kraus um nichts in der Welt leiden konnte: Kriegsgewinnler. Kraus hielt solche Leute für abscheuliche Siegertypen, die „durch das Blut anderer“ zu Geld gekommen waren.5
Dem frischgebackenen Wiener Bürgermeister Karl Seitz wäre 1923 so eine Kritik wohl nicht in den Sinn gekommen. Er und die Sozialdemokratische Partei mussten froh sein, dass der Milliardär aus dem Rathausviertel die SP-eigenen Hammerbrotwerke mit einer Finanzspritze gerettet hatte. Womit der Bürgermeister und der Turbo-Kapitalist fortan gemeinsam im Verwaltungsrat der Brotfabrik saßen. Mit solchen Husarenstücken versetzte Bosel die Öffentlichkeit in Staunen, weil er sich nicht in die Schablone des ruchlosen Profiteurs pressen ließ und eine soziale Ader bewies. „Er gab mit vollen Händen und musste nicht immer erst gebeten werden“, meinte das Berliner Tageblatt. Bosels Erfolg war zwar vielen nicht ganz geheuer, aber sein wundersamer Aufstieg vom kleinen Textilverkäufer zum überdimensionalen „Kronen-Trillionär“ sorgte für eine Sensation. 1923 war Bosel gemeinhin der reichste Österreicher, und als Präsident der Unionbank war er Nachbar der berühmten Rothschilds geworden.6
Humorvolle Dame mit rauchiger Stimme: Julie Marks, die Tochter Sigmund Bosels, erinnert sich an glückliche Kindheitsjahre im fernen Wien.
Weil Bosel als „bunter Hund“ aus der Wiener Bankiersriege hervorstach, ist er auch früh literarisch verewigt worden. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich trotz seiner gepflegten Umgangsformen in ein finanzielles Raubtier verwandeln konnte. Der Schriftsteller Felix Dörmann nahm in seinem Roman Jazz Bosel als Vorlage für seine Figur des Bankdirektors „Wiesel“, der es nicht nur auf Geldgeschäfte, sondern auch auf weibliche Beute abgesehen hat.7
War Bosel also ein Schürzenjäger mit anzüglichen Manieren? Wohl kaum: Der junge Aufsteiger soll ein charmanter Typ gewesen sein, der privat in festen Händen war. Nun ja, das zu behaupten, wäre nur die halbe Wahrheit. Sigmund Bosel ist nämlich über viele Jahre hin zwischen zwei attraktiven Frauen hin- und hergerissen gewesen. Zwischen der Mutter seiner Kinder und einer Nebenbuhlerin, die mit ihren resoluten Reizen dafür gesorgt haben soll, dass Bosel nie geheiratet hat. Inwieweit sich noch andere Damen für den steinreichen Junggesellen erwärmt haben, ist nicht verbürgt. In jedem Fall scheint es so gewesen zu sein, dass Bosel hinter dem Geld doch mehr her war als hinter den Frauen. Wobei dem Finanzabenteurer ein leicht gestörtes Verhältnis zu seinem Vermögen nachgesagt wurde. Ihm sei „nichts an dem Geld gelegen, das er auftürmte“, hieß es über Bosel, der persönlich so gar nicht wie ein Milliardär daherkam, sondern zum Beispiel mit einem altmodischen Schlapphut unterwegs war. Aus dem Rahmen fiel er damit nicht. Auch viele Adelige mit wuchtigen Stammbäumen stapften während der schlimmen Geldentwertung mit löchrigen Socken durch die Welt.8
Worauf war Bosel aber scharf, wenn es nicht der feine Zwirn und das süße Leben waren? Der öffentlichkeitsscheue Mann wurde als persönlich bescheidener Draufgänger beschrieben, der sich an waghalsigen Ideen berauschen konnte und von einzelnen Projekten nahezu hypnotisiert gewesen sei, wie die ihm nahestehende Boulevardzeitung Die Stunde schrieb: „Im Grund seines Herzens verachtete er das Geld, dem die anderen so nachjagen, und freute sich nur an der Macht, die an diesem Gelde hängt, und der Kombinationsfülle, die es erlaubt.“9
Manche Berichte waren hart an der Grenze zur Werbeeinschaltung – so, als wäre Bosel ein Meister der Selbststilisierung gewesen. Er habe „mit Geld gespielt wie Kinder mit Schnee“, meinte das Finanzblatt Die Börse, das ihm ebenfalls gut gesinnt war. „Der kleine Mann mit der mangelhaften Bildung, die er emsig sich zu stopfen bemühte“, habe herrschen und die öffentliche Meinung kontrollieren wollen.10 Haben wir es bei Sigmund Bosel mit einem Geld- und Machtmenschen zu tun, der innerlich mit dem Luxusleben auf Kriegsfuß gelebt hat?
Am Höhepunkt seines Erfolges rollte das offizielle Österreich für Bosel den Teppich aus. Es gab nämlich damals nur ganz wenige, die genug Kapital hatten, um die arme Republik aus der Lethargie zu holen. Weil Bosel an mehr als 210 (!) Aktiengesellschaften im In- und Ausland beteiligt war, galt er als Geldanlage-King.11 Wer konnte schließlich schon von sich behaupten, Bankier, Gutsbesitzer, Frauenfreund, Hotelier, Hundebesitzer, Immobilieninvestor, Industriekapitän, Mäzen, Ölbaron, Spekulant, Zeitungseigentümer und Nachtclub-Miteigentümer in einer Person zu sein? In Österreich konnte da bestenfalls der aus Triest stammende Finanzkapazunder Camillo Castiglioni mithalten. Nicht zuletzt deshalb sind Castiglioni und Bosel als Galionsfiguren der europäischen „Inflationsritterzeit“ in die Geschichte eingegangen.
Wer glaubt, dass Sigmund Bosel damit nur eine Figur aus der historischen Mottenkiste ist, täuscht sich. Der schräge Millionensassa hat Entwicklungen verkörpert, die für das moderne Wirtschaftsgeschehen und den Superreichtum unserer Tage typisch sind. Nicht selten sorgen ja die neuen Milliardäre von heute für eine Mischung aus Bewunderung und Argwohn, weil sie entweder als blutjunge Unternehmer auf die Forbes-Listen dieser Welt kommen oder ihr Geld im oligarchenhaften Dämmerlicht gescheffelt haben. Auf Sigmund Bosel trifft beides zu. Wie kein anderer hat er schon vor knapp hundert Jahren in einem wirren Konjunktur-Umfeld den „Traum vom schnellen Geld“ und vom „Aufstieg aus dem auch Nichts“ verkörpert.12
Eine bemerkenswerte Erscheinung war Bosel auch dadurch, dass er die Dauerkrise nach dem Ersten Weltkrieg als seine persönliche Jahrhundertchance begriffen hat und dabei die Coolness hatte, Geschäfte und Aufgaben zu übernehmen, die den Obrigkeiten zu heiß waren. Das war schon im Ersten Weltkrieg so. Die Zehntausenden Kriegsflüchtlinge, die ab Herbst 1914