Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi

Читать онлайн.
Название Marivan unter den Kastanienbäumen
Автор произведения H. Ezadi
Жанр Исторические любовные романы
Серия
Издательство Исторические любовные романы
Год выпуска 0
isbn 9783957442185



Скачать книгу

ganz andere Uniformen“, erzählte sie weiter „und die nennen sich dort Polizei. Ach, was soll ich sagen, unsere Männer wollten sich sogar verstecken, hatten keinen Mut wie ich. Echte Jammerlappen sind das. Aber ich, die Tele von Darsiran, bin eine echte Kurdin, und echte Kurden haben und zeigen ihren Mut mit hochgehaltenem Kopf und scheuen sich nicht.“ Sie blickte stolz in die Runde und sprach weiter. „Am Eingang des Palastes standen Wachsoldaten. Die wollten mich nicht in den Palast hineinlassen. Ich wollte schon laut losschreien, als plötzlich eine sehr hübsche Frau das Fenster des Palastes öffnete und hinausrief: ‚Was ist denn hier los?‘ Ich dachte, sie sei die Gattin des Schahs, weil sie wie Farah Diba auf Bildern in Schulbüchern aussah. Also rief ich: ‚Ich möchte den Schah sprechen. Ich bin die Vertreterin der Bauern Kurdistans.‘ Sie reagierte freundlich und lachte. ‚Lasst die Frau herein!‘, befahl sie den Wachsoldaten. Und ihr werdet nicht glauben, was ich gesehen habe. Der Palast ist ein riesengroßes Gebäude. Da sind die Häuser der Aghwat hier Spielzeug! Schon die Eingangshalle ist mit Seidenteppichen ausgelegt und an der Decke hängen Leuchter mit Glitzersteinen. Die Wände sind aus purem Gold. Da hängen große Bilder und auf dem Boden stehen riesige Vasen, die mit prächtigen Blumen gefüllt sind. Farah Diba trug ein langes weißes Kleid und kam aus ihrer Küche in die Halle geeilt. Sehr wahrscheinlich hatte sie gerade das Mittagessen für den Schah gekocht. Sie begrüßte mich, gab mir sogar ihre Hand, stellt euch das einmal vor. Ich entschuldigte mich: ‚Ich komme bestimmt zum falschen Zeitpunkt, aber wissen Sie, ich hatte keine andere Möglichkeit. Ich musste kommen, weil ich die Bauern von Kurdistan vertrete.‘ Ich brachte natürlich unsere Hochachtung vor dem Schah zum Ausdruck und versicherte, dass wir ihrem Mann sehr dankbar seien. Dann fasste ich den Mut, ihr zu sagen, dass die Aghwat und die Gendarmen in Kurdistan den Namen des Schahs in den Dreck ziehen. Farah Diba lächelte mir zu. So eine schöne Frau habe ich noch nie zuvor gesehen.“

      Ich beobachtete Dade Tele in ihrem Redeschwall. Sie erzählte, erzählte und hörte nicht auf, die Märchengeschichte fortzuführen. Sie konnte doch nicht mit Messer und Gabel essen. Vor den Augen der Bauern und Bäuerinnen nahm sie immer wieder ein Stück Obst aus der Schüssel und wollte zeigen, dass sie nun anders war. Die Bauern und deren Frauen staunten mit offenem Mund über jede ihrer Bewegungen. Ich war mittlerweile in tiefe Gedanken versunken, weil ich den Unsinn, den sie erzählte, nicht mehr mit anhören konnte. Ihr Mann hatte recht gehabt, sie war verrückt geworden. Und tatsächlich dachte sie, wir würden ihr all diese Lügengeschichten glauben. Wie konnte sie für uns und für die Gerechtigkeit kämpfen, wenn alles erfunden war? Sie schien tatsächlich verrückt geworden zu sein. Warum waren wir nur hierher gefahren. Was hatte sich Jewad dabei gedacht?

      Jewad tippte mir auf die Schulter und holte mich aus meinen Gedanken.

      Dann hörte ich wieder Dade Tele. Sie schwelgte noch immer in ihren Erzählungen. „Ich habe dem Schah in seinem Büro gesagt, er soll nun unseren Reis von Marivan kaufen, der zwar etwas kleiner ist, aber viel besser schmeckt.“

      Oh, mein Gott, was erzählte sie da?

      Jewad bemerkte, dass ich all den Unsinn nicht mehr aushielt. Er stand auf und sagte laut: „Wir sind spät in der Zeit. Leider müssen wir uns nun verabschieden.“

      „Ja, wir müssen gehen“, fügte ich hinzu.

      Dade Tele stand auf und fragte: „Warum geht ihr schon? Ich bin noch nicht am Ende meiner Rede.“

      „Tut mir leid“, antwortete Jewad mit einem Ton des Bedauerns, „aber wir müssen leider aufbrechen. Vielen Dank für deine Erzählungen. Es war sehr gut, dass du so viel Mut bewiesen hast.“

      Unterwegs stieß Jewad mich an. „Hussein, du warst ja fast eingeschlafen.“

      „Ach, was sollte das Ganze. So viel Unsinn habe ich noch nie auf einmal gehört.“

      „Es sind arme Bauern“, erklärte Jewad. „Die haben ihre Träume. Sie wissen es nicht besser. Sie träumen wie viele hier von einem besseren Leben. Ob arm oder reich, im Grunde hat jeder Mensch Träume. Ob du nun Analphabet bist oder studiert hast. Das gibt es keinen Unterschied. Die Bäuerin war doch noch nie in ihrem Leben in einer anderen Stadt. Dass sie nun in Teheran, der größten Stadt unseres Landes, war, ist für sie ein unglaubliches Ereignis. All das, was sie berichtet hat, sind ihre Träume. Sie hat sich ihre Geschichte zusammengebastelt, und alles, was sie über den Palast erzählt hat, weiß sie aus dem Radio. In ihrer Fantasie hat sie tatsächlich Farah Diba getroffen.“

      „Aber sie ist doch verrückt. Wenn ich schon sehe, dass sie einen Apfel mit der Gabel aufspießt.“ Ich schüttelte mich. „Meine Träume sehen anders aus, Jewad. Die Bauern glauben wohl ihre Geschichte.“

      Ich weiß, Hussein, aber das sind auch einfache Menschen, und wir müssen ihnen helfen.“

      Ich zweifelte. „Denkt Dade Tele, wir sind blöde und glauben ihr diese Geschichte?“

      „Ich weiß was du meinst, aber die sind halt so.“

      „Ach Jewad, du kannst denen weiterhelfen, aber du wirst so nichts erreichen. Wie willst du mit denen gegen die Savak kämpfen und gegen dieses diktatorische Regime?“

      „Weißt du, Hussein, diese Menschen müssen durch unsere Hilfe erst einmal selbst sehen, wo sie stehen. Sie wissen zwar, was Recht und Unrecht ist, aber sie haben nicht gelernt, sich zu wehren. Deswegen werden wir sie unterstützen und ihnen Mut machen. Die Bauern sind nicht blöde. Sie wissen schon, um was es geht, weil sie von Natur aus vorsichtig sind. Und wenn sie merken, dass sie gemeinsam stark sind, werden sie auch etwas verändern können.“

      Ich überlegte. „Aber die Bauern blicken nicht über ihr Feld hinaus, sie haben doch nur darin Erfahrung, wie sie ihre Kühe auf dem Feld zu füttern oder ihre Ernte mit harter Arbeit einzuholen haben. Etwas anderes wollen sie gar nicht erkennen. Sie wissen nichts von Gerechtigkeit und Freiheit. Für was brauchen die Bauern Freiheit?“

      „Oh, Hussein, du bist noch jung und unerfahren. Natürlich braucht jeder Mensch seine Freiheit, um über sein Leben zu bestimmen, auch die Bauern Kurdistans. Du hast heute erstmals Dade Tele gehört und gesehen, aber deine Meinung über sie und ihre Leute ist falsch.“

      „Ich weiß, Jewad, aber das, was ich heute erlebt habe, zeigt mir nicht, wie sie wichtige Dinge für ein besseres Leben voranbringen können. Sie haben doch kein geistiges Wissen, waren nie auf der Schule.“

      „Doch, doch“, sagte Jewad, „und gerade deshalb haben sie die Macht der Veränderung, nicht wir. Man muss das enthusiastisch sehen. Die Bauern arbeiten Tag und Nacht auf den Feldern und werden von der Aghwat ausgenommen. Aber sie sind in der Mehrzahl. Für diese Menschen kann man ein besseres Leben schaffen. Neben der Landwirtschaft haben wir noch keine Industrie, weil die Machthaber es für Kurdistan nicht erlauben. Das ist alles gewollt und gesteuert. Aber, Hussein, denk nicht so negativ. Es gibt genug Beweise in der Welt, wie Revolutionen die Welt verändert haben. Das nächste Mal bringe ich dir ein Buch über Mao und die Revolution in China mit. Wenn du das gelesen hast, wirst du sehen, dass die Bauern ihre Macht haben werden.“

      Einige Tage später, nachdem wir Dade Tele im Dorf besucht hatten, ging ich ins Kaffeehaus. Die anderen Besucher lasen Zeitung. Irgendetwas kam mir merkwürdig vor. Ja, hier waren viel mehr Menschen als an sonstigen Tagen. Lehrer, Studenten … aber keine Spur von Savak-Leuten. Etwas muss geschehen sein, dachte ich. Sonst wurde hier doch nicht so laut gesprochen. Etwas Wichtiges musste passiert sein. Langsam ging ich von Tisch zu Tisch, wollte wissen, was es Neues in der Zeitung gab. Kein Mensch beachtete mich, bis ich Jewad sah, der sich, von vielen Leuten umkreist, über eine Zeitung beugte.

      Ich fragte: „Jewad, Jewad, was ist passiert? Was steht da geschrieben?“

      Er lachte und drückte mir eine Zeitung in die Hand. „Da, lies selbst. Es ist nur Gutes, Gutes. Wenn du das gelesen hast, wirst du verstehen, dass die Bauern auch bei uns ihre Macht haben werden.“

      Ich ging mit der Zeitung in eine freie Ecke des Kaffeehauses und begann zu lesen:

       Anti-Schah-Demonstrationen in Tabriz und Schiraz:

       In der Ark-Moschee von Teheran wurde bei der Trauerrede zu Ehren seines Sohnes, Khomeini …