Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland. Группа авторов

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Название Die Mainzer Republik und ihre Bedeutung für die parlamentarische Demokratie in Deutschland
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Жанр Историческая литература
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Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783961760978



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       Demokratie- und Freiheitsdiskurse als Bestandteile der europäischen Geschichte

      Begriffe, die zu den zentralen Bestandteilen unserer politischen Kultur zählen, reichen, wie der aus dem Griechischen stammende Begriff der Politik selbst, weit in die europäische Geschichte zurück. In zentralen Texten ihrer Erinnerungskultur von Solon, Kleisthenes, Perikles über Platon und Aristoteles, Thomas von Aquin, Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham bis zu Max Weber und Jürgen Habermas spielten und spielen sie eine Rolle. Der Begriff der Demokratie ist bekanntlich kein deutsches Wort, ihn verdanken wir der griechischen Sprache und Kultur. Noch heute erweist sich die Antike für Europa als unverzichtbarer Bezugspunkt, fasziniert die attische Demokratie mit ihrem Prinzip, Macht breit zu verteilen, ihrem hohen Grad an bürgerlicher Partizipation und einer enormen Wertschätzung rhetorischer Kompetenz. Damals galten Rede- und Überzeugungskunst als unverzichtbare Voraussetzung politischen Erfolgs und im Wettbewerb zu erringender Autorität. Die Polis der Athener gilt in Schulen und Universitäten zurecht als eine unverzichtbare Referenz bei der Erkundung demokratischer Herrschaftsformen. Sie kannte bei allen Differenzen zu modernen Demokratien sowohl direkte Elemente, in denen das Volk (der demos) unmittelbar an Entscheidungen beteiligt war, als auch repräsentative Institutionen, in denen Vertreter anstelle des Volkes handelten und allgemein verbindliche Entscheidungen trafen. Dies gilt, obgleich in Athen Instrumente moderner Demokratien wie Parlament und Parteien unbekannt waren, und von einer Gleichheit aller Bewohner der Polis keine Rede sein kann.6 Auch an den Wahlen zum Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent 1793 konnten nicht alle teilnehmen. Frauen, Knechte und Mägde waren bei der Konstituierung dieses auf deutschem Boden erstmals nach allgemeinem Wahlrecht gewählten Parlaments nicht zugelassen. Alle selbständigen Männer ab 21 Jahren konnten ihre Stimme abgeben, freilich erst nach einer verordneten und gegebenenfalls erzwungenen Eidesleistung.

      Auf Etappen der europäischen Freiheitsgeschichte verweist auch der Begriff der Republik, den wir bekanntlich römisch-republikanischen Traditionen verdanken.7 In der europäischen Vormoderne konnte dieser auch auf monarchische Regierungsformen bezogen werden. Im modernen Sinne verstand aber bereits in der Renaissance Niccolò Machiavelli die Republik als Gegenpol zur Herrschaft von Fürsten und Monarchen. Auf die Begründer und Verteidiger der Republik, wie an die sich opfernde Lucretia und den ersten Konsul L. Junius Brutus, der die eigenen nach der Monarchie strebenden Söhne hatte hinrichten lassen, wurde immer wieder in Freiheitskämpfen der Moderne erinnert. Mit den Begriffen Demokratie und Republik sind wie mit anderen für unsere politische Kultur unverzichtbaren aus der Antike stammenden Worten nicht nur spezifische Vorstellungen von Verfassungen, sondern auch komplexe Rezeptions- und Wandlungsprozesse der jeweiligen Inhalte verbunden. Mit dem Ausgreifen Europas in die Welt spielen sie längst nicht mehr nur dort eine Rolle, wo sie ursprünglich diskutiert, entwickelt und in Verfassungen und politischen Systemen umgesetzt wurden.

       Mainzer Republik vor der Mainzer Republik?

      Die bewusst provozierend formulierte Frage sei umgehend beantwortet. Nein, eine Mainzer Republik im Sinne des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat es in Mainz zuvor nicht gegeben. In Abwandlung eines Zitates von Franz Dumont (gest. 2012), dem wir ein unverzichtbares Referenzwerk zur Mainzer Republik verdanken, und der im Laufe seines Lebens bei der Beurteilung der damaligen Ereignisse durchaus unterschiedliche Akzente setzte, wurde 2013 in problematischer Zuspitzung formuliert: Man sollte sich bewusstmachen, „dass die Mainzer Jakobiner unserem Grundgesetz viel näherstehen, als alle Kaiser, Kurfürsten, Großherzöge und Generäle, die je über Mainz herrschten.“8 In seiner 2013 posthum erschienenen und von Stefan Dumont und Ferdinand Scherf bearbeiteten Publikation wurde die Mainzer Republik programmatisch als „französischer Revolutionsexport und deutscher Demokratieversuch“ bezeichnet.9

      Wurde aber Mainz tatsächlich in den Jahrhunderten vor der Französischen Revolution nur von Kaisern, Kurfürsten, Großherzögen und Generälen beherrscht? Aus einer solchen Perspektive wird die Französische Revolution zum Bruch und zur undurchdringlichen Barriere historischen Geschehens stilisiert. Nicht nur in der Schweiz10 wurden die im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert geführten Demokratiediskurse von französischen, aber auch von nordamerikanischen, englischen, und nicht zuletzt von älteren lokalen und regionalen Traditionen der Freiheit und Partizipation sowie deren Wahrnehmungen und Rezeptionen beeinflusst. Die Akteure der in Bergzabern gegründeten „besondere[n] Republik“ bezeichneten die dort konstituierte Versammlung als „Schweitzerische[n] Landtag.“ Dies dürfte mit Migrationen zwischen der Schweiz und der südlichen Pfalz und mit ihnen in Zusammenhang stehenden Orientierungen an älteren kommunal-bündischen Formen der Selbstverwaltung zu erklären sein.11 Für die Instrumentalisierung von Freiheitskämpfen der lokalen und europäischen Geschichte bietet auch die Mainzer Republik – wie zu zeigen sein wird – aussagekräftige Beispiele. Mit dem Paradigma der Französischen Revolution als eines Bruchs wird bestritten bzw. übersehen, dass die durch die europäische Aufklärung und die Französische Revolution in Gang gesetzten Dynamiken vormoderne Formen überlagerten und transformierten, diese aber im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts weiterhin eine Rolle spielten. Daher erscheint es plausibel, ja gefordert, sowohl von Kontinuitäten als auch Brüchen auszugehen sowie Transformationen zwischen vormodernen und modernen Konzepten, Organisations- und Praxisformen auszuloten.12

      Hier sei über die bereits angesprochene attische Polis auf weitere Kapitel der Geschichte von Freiheiten in Europa verwiesen und damit auf Versuche, Gemeinwesen durch Elemente der Wahl und der politischen Partizipation zu gestalten. Auf sie verweist der Begriff des Bürgers. Dieser entspricht dem früher belegten lateinischen civis, dem Einwohner einer civitas (Stadt) und steht im Kontext eines Prozesses, der seit dem 10. und 11. Jahrhundert große Teile des lateinischen Europa erfasste. Starke Impulse erhielt diese kommunale Bewegung aus den mediterranen Landschaften, vor allem aus Italien, jahrhundertelang Vorbild und Impulsgeber für Politik, Wirtschaft und Kultur in den Ländern nördlich von Alpen und Pyrenäen. Dabei kam es zu einer engen Symbiose zwischen jüdisch-christlichen Vorstellungen und Normen brüderlicher Gemeinschaft sowie den sich ausbildenden politischen genossenschaftlichen Strukturen. Vor allem dank königlicher, schließlich auch landesherrlicher Privilegierung von ländlichen und städtischen Siedlungen gelang es tausenden von Menschen, sich aus herrschaftlichen Bindungen zu lösen und persönliche Freiheit und Sicherheit zu erlangen. Im Rahmen des hochmittelalterlichen Urbanisierungsprozesses erhielten sie individuelle und kollektive Freiheitsrechte. Konservative Beobachter, vor allem Kleriker und Theologen, beurteilten diese genossenschaftlich organisierten Akteure mit Abscheu. Aus ihrer Perspektive handelte es sich um Bewegungen, welche die traditionelle hierarchisch-strukturierte und gottgewollte Ordnung revolutionierten. Positiv konnotierte Bewertungs- und Wahrnehmungsmuster begründete im 13. Jahrhundert der einflussreiche Theologe und Philosoph Thomas von Aquin unter Rückgriff auf das Werk des Aristoteles. Die Stadt produziere demnach die zum Leben unverzichtbaren materiellen Güter, und ihr rechtlicher Ordnungsrahmen ermögliche zugleich die Verwirklichung menschlicher Tugenden. Die von Natur aus auf Gemeinschaft bezogenen Bürger könnten durch gemeinschaftlich füreinander einstehendes Handeln zur societas perfecta gelangen, zur vollkommenen Form der Vergesellschaftung von Menschen.13

      In der genannten, an Franz Dumont anknüpfenden und zugleich zuspitzenden Formulierung fehlen jene Mainzer, Speyrer und Wormser, Koblenzer und Trierer Stadtbürger, die seit dem hohen Mittelalter wichtige Teile der Geschicke Ihres jeweiligen Gemeinwesens gestalteten, jedenfalls soweit dies angesichts weiterbestehender stadtherrlicher Rechte möglich war. Es handelt sich um im lateinischen Europa weitverbreitete Laboratorien politischer Partizipation. Max Webers Idealtyp von der „okzidentalen Stadt“ verdanken wir die faszinierende, wenngleich nicht unumstrittene These: Wirtschaftlich und kulturell blühende Städte gab es in vielen Ländern und Kulturen. Ein in beachtlichem Maße autonom handelndes Bürgertum ist ein Spezifikum des lateinischen Europas.14 Mit gemeinschaftlich-genossenschaftlichen Organisationsformen, mit Schwureinigungen und Bruderschaften, entstanden jenseits der etablierten Stände von Klerikern, Kriegern und Bauern neue Akteure, die sich Handlungsspielräume und Freiheiten erkämpften und sich diese durch Privilegien sichern ließen.15 Mit der Genese des mittelalterlichen