Mann und Frau und Reisehunger. Karsten Meyer

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Название Mann und Frau und Reisehunger
Автор произведения Karsten Meyer
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783946769118



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so gebe ich dem Medicus der alten und jungen Zeit meinen Medi-Kuss.

      

       Film

      Mit Meybod haben wir so etwas wie den Mittelpunkt des Irans erreicht. Steckt man gedacht eine Nadel in die Stadt und dreht das Land in einem Kreis drum herum, gibt es keine Unwucht, nichts klappert und beult aus. Das Herz des Irans schlägt in der Wüste. So mein Empfinden. Dabei scheint selbst die Stadt pure Wüste zu sein. Kneife ich inmitten der Altstadt stehend meine Augen zu, ist mir, als stünde ich in Dünen aus Lehm. Das gleißende Licht nimmt den sandfarbenen Gebäuden jede Kontur, nirgends sichtbare Ecken und Kanten. Alles ist umhüllt von einem Schleier purer Sonne. Es ist, als bilde ich mir die Stadt nur ein, als sei sie die Fata Morgana meines Wahns in der glutheißen Hitze des Frühlings. Was wird das erst im Sommer werden? Ich zerfließe fast in meiner Montur aus dunkler Hose, langer, bis zu den Knien reichender Jacke und dem Schal um den Kopf. Die Männer um mich herum haben sich heute für die Version luftiges Kurzarmhemd entschieden. Mir blieb die Qual der Wahl dankenswerter Weise erspart. Die Langvariante, wie an jedem Tag, und fertig. Körperkonturen dürfen bei Frauen nicht sichtbar sein. Geschweige denn Fußknöchel oder freiliegende, dem Licht ausgesetzte Schultern. Dabei liebt meine Haut nichts mehr, als das wohlige Verschmelzen mit dem Sonnenschein.

      In Meybod treffen wir Ali Reza. Er ist ein Verwandter von Dr. Ali, der wiederum der Vater unseres Freundes Hassan aus Jena ist. Was ist die Welt zerwürfelt in ihre tausenden von Puzzlesteinen? Und wie geschmeidig passen mitunter die Teile ineinander, wenn wir sie zuvor in Ruhe betrachten. Im Haus von Ali Reza treffen wir zum ersten Mal im Iran auf tief verwurzelten Glauben. Die Männer tragen stolz dunkle Stellen an der Stirn. Als hätte sich Hornhaut gebildet, so sieht es aus, was sie sich tatsächlich mithilfe eines heißen Gebetssteines zum Zeichen ihres tiefen Glaubens in die Stirn gebrannt haben. Gebetssteine, Mohr genannt, sind dominogroße Tonsteine aus der Erde Mekkas oder anderer heiliger Orte. Schiiten benutzen sie im Gebet, indem sie ihren Stein vor sich auf dem Boden ablegen, auf die Knie fallen, den Kopf nach unten richten, um so mit der Stirn heilige Erde in Form des Gebetssteines zu berühren.

      Ali Reza hat einen Teil seiner großen Familie um sich versammelt und obendrein zwei Freunde eingeladen. Die beiden sind pensionierte Englischlehrer und so eine große kommunikative Stütze und verbale Brückenpfeiler für uns. Als Lehrer hat man im Iran nicht unbedingt sein Auskommen. Es ist ein wichtiger Beruf. Doch sein Ansehen zeigt sich nicht durch die Entlohnung. So haben beide in ihrem Leben mehr als nur einen Job gehabt. Unter anderem waren sie jahrelang nebenher als Brotfahrer in Kuweit unterwegs. Eine Zeit, in der sie Ali Reza kennenlernten. Freunde fürs Leben also, die drei.

      Der Wohnbereich, abermals ein großer leerer Raum mit dicken weichen Teppichen. Eine Ecke fürs Gebet, eine andere für den Fernseher. Das Leben spielt sich auf dem Fußboden ab: Zusammensitzen, Reden und Warten aufs Essen. In diesem Haus aber bitte nur die Männer. Sämtliche Frauen sind in der Küche versammelt. Und auch hier hocken alle auf dem Boden. Nüsse knacken, Kartoffeln schälen, Fleisch würfeln, Zwiebeln hacken, Limetten auspressen. Die Frauen in Ali Rezas Familie sind alle verhüllt, auch in der Wohnung. Das bedeutet auch für mich, meinen Schal auf dem Kopf zu belassen. Doch freundlich und auf ihre Art witzig sind sie auch hier. Um mich an die Regeln zu halten, habe ich mit einem weiteren Tuch meinen Haaransatz komplett abgedeckt. Ja, so fühle ich mich wohler unter all den Frauen. Nur die engsten männlichen Verwandten, so wird mir erzählt, wie der Ehemann, Vater, Bruder, Großvater, Schwiegersohn und Schwiegervater sowie der Bruder des Vaters dürfen in sehr gläubigen Gegenden und Haushalten die Frau ohne Kopfbedeckung sehen. Sten und die Englischlehrer sind definitiv fremde Männer in ihrem Haus, so dass die Frauen ihre Tschadors, die Kopfbedeckungen, die nur das Gesicht frei lassen, nicht ablegen. An der Eingangstür hängen zwei Arten von Klopfern. Links ein rund Geformter, welchen die Frauen betätigen, wenn sie zu Gast kommen. Und rechts ein länglicher Klopfer, der für die Männer bestimmt ist. So weiß die Frau des Hauses, wie verhüllt sie sich zu kleiden hat, und öffnet obendrein nicht versehentlich einem fremden Mann die Tür.

      Ich setze mich ebenfalls auf den Boden, um mitzuhelfen beim Kochen. Nebenher notiere ich zügig, um die Abfolge der Handgriffe nicht zu vergessen. Die Frauen sind schüchterner hier, auch stiller und zurückgezogener. Besonders deutlich wird mir das, als es ans Essen geht. Um das auf dem im Wohnzimmer am Boden ausgebreitete Tuch sitzen außer mir nur Männer. Die Frauen setzen große Schalen und Teller mit lecker duftenden Speisen auf der Mitte des Tuches ab. Ich selbst beginne zu rutschen, damit Platz zum Sitzen für die Frauen wird. Bis ich merke, dass sie nicht kommen, sondern stattdessen in der Küche essen. Niemand außer mir scheint auch nur den Hauch eines Anstoßes daran zu nehmen. Ich fühlte mich unwohl im Kreis der Männer. Und weiß doch, dass die Frauen es auch nicht mögen würden, wenn ich zu ihnen in die Küche käme. Ich bin schließlich Gast, und als dieser ein Geschenk Gottes. Gern hätte ich die Frauen gefragt, wie sie es tatsächlich selbst empfinden, getrennt von den Männern zu essen. Doch leider bleibt uns nur die Sprache der Blicke und Gesten und Deutungen. Frage ich die beiden Englischlehrer danach, antworten sie nur kurz: Völlig normal, das ist bei uns traditionell einfach so. Womit der Fall erledigt ist. Die Atmosphäre an unserer Bodentafel ist entspannt. Auch die Frauen sehen beim Nachfüllen der Teller zufrieden aus. In mir rattert und klappert und kämpft das Frauenzahnradgerechtigkeitswerk. Und doch weiß ich, dass es ausschließlich mein Blick auf die Dinge ist und die Frauen in ihrem Glauben einen ganz anderen haben. Wochen später erreicht uns eine Nachricht. Die von Ali Rezas Tod. Als habe er es geahnt, in unseren gemeinsamen Tagen in Meybod. So großzügig seine Gesten, so bedeutungsgeladen sein Handeln. Der stille große Mann, dessen Augen intensiver mit mir sprachen, als es beide Englischlehrer zusammen vermochten. Wie viel ist Sprache am Ende tatsächlich wert? Und inwieweit lässt sie uns das Wahrnehmen mit allen Sinnen verlernen, zumindest vordergründig brachliegen, als Schatz in einer unserer geheimsten Truhen? So sehr verlassen wir uns auf die Worte und überhören, übersehen, übergehen dabei feine Regungen, die uns vielleicht vom Eigentlichen erzählen. Denke ich an Ali Reza, ist mir eines klar: Die Sprache seiner Seele war es, die mich erreichte. Gemeinsam ließen wir uns ein auf die alten Zeiten, in denen die Karawanen durch Meybod zogen und in der Karawanserei Rast abhielten. Zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer legte eine Karawane im Schnitt täglich zurück. Genau das ist die Distanz, in der auch wir entlang der Seidenstraße mancherorts noch auf Karawansereien stießen. Manchmal haben sich drum herum Städte entwickelt, wie hier in Meybod. Manchmal wurden die Stallungen und Schattenplätze wieder der Wüste übergeben. Dann finden sich vielleicht noch ein paar blaue Mosaiksteine verstreut irgendwo im Sand.

      Ein Kommen und Gehen nicht nur der Kamele. Die Müden wurden durch erholte Tiere ersetzt. Nachdem die Männer oft mehr als nur eine Nacht gemeinsam am Ort des Schutzes, des Wassers, der Ruhe und vor allem der neuen Nachrichten verbrachten. Die Karawanserei war Zeitung und Rundfunk und TV-Nachricht und Seifenoper in einem. Die Karawanenführer sind sozusagen die Journalisten der frühen Tage. Vielleicht auch Schauspieler und Märchenerzähler? Denn wie viel von dem Berichteten entsprang der Phantasie des Erzählenden, wurde unter dem Sternenhimmel am Feuer verändert und neu weitergetragen? Menschen reden gern, besonders über andere.

      Ali Reza hat sich also auf und davon gemacht. Auf einem gelben Teppich, aus festem Faden von zerfurchten Männerhänden gewebt, die aussehen, als haben sich ihre Gesichter in den Händen als Spiegel vergraben. Ich kann ihn sehen in meinen Träumen, den Mann mit dem weitherzigen Blick. Und weiß heute ganz genau, warum ihm so unglaublich daran gelegen war, uns jedem einen dieser gelben Teppiche als Zeichen unserer ewigen Verbundenheit in die Arme zu legen. Nur Ali Reza wusste in dem Moment um die Tragweite seines Schenkens. Und er war sich darüber im Klaren, dass es seine Art zu gehen sein wird. Auf dem dahinfliegenden gelben Teppich, gewoben in der Karawanserei seiner Stadt Meybod.