Nox Arcanum. Asenath Mason

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Название Nox Arcanum
Автор произведения Asenath Mason
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783944180304



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„Fanatismus“ aber etwas böses. Schon allein dadurch sollte klar sein, dass ein angemessen finsterer Luziferianer den Fanatismus viel interessanter zu finden hat. Aber interessant finden ist eine Sache, verstehen ist eine ganz andere. Was heißt Fanatismus eigentlich?

      Der diamantene Hort aller letzthinnigen Weisheit, die Wikipedia, erzählt mir gerade, das Wort bedeute „das unbedingte Festhalten an einer Idee oder theoretischen Vorgabe weitgehend ohne Rücksicht auf praktische Konsequenzen für [sich selbst] oder andere.“ Sehr schön, das ist genau worauf ich als erstes hinauswollte: ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Einen kleinen Schritt weiter gedacht bedeutet das: Fanatismus ist irrational.

      (Und wenn mir jetzt jemand unterstellen will, das wäre der Grund, warum ich als Chaosmagier mich dafür interessiere, bekommt er keinen Keks.) Diese Irrationalität ist vielleicht auch der Grund, warum kaum jemand sich die Mühe zu machen scheint, Fanatismus verstehen zu wollen. Damit meine ich nicht so sehr die Wikipedia. Eher Leute wie den Anthropologen Scott Atran, der zwar mühsam nachgewiesen hat, dass die ziemlich eindeutigen Beispiele für Fanatiker, die sich mit Sprengstoff bekleidet in israelische Busse setzen, ein bestimmtes Profil aufweisen (geistig gesund, gebildet, intelligent, von Fanatikern umgeben), der aber keine wirkliche Analyse liefert, was so jemand fühlt und denkt, wenn er sich entscheidet, dem Fanatismus sein Leben zu opfern. Es herrscht – nicht nur psychologisch, sondern auch politisch – eine große Ratlosigkeit.

      Dann versuchen wir doch mal, ob wir es selbst besser hinbekommen. Bis jetzt haben wir den Hinweis auf die „göttliche Inspiration“ und die Irrationalität. Und weiter? Wo fangen wir an? Am besten mit Beispielen, das ist immer am einfachsten.

      Die Geheimakten der Gestapo über deren Folterungen von Gegnern der Nazis enthalten ein bemerkenswertes Detail. Hilters Folterknechte berichteten, dass sie jede Opfers brechen konnten und dazu brachten, preiszugeben und zu gestehen, was immer sie wollten. Kommunisten, Juden, Sozialdemokraten und alle sonstigen tatsächlichen oder scheinbaren Regimegegner brauchten allesamt nur brutal und ausdauernd genug gepeinigt zu werden – mit Ausnahme einiger Zeugen Jehovas. Denen gelang, was bis heute als praktisch unmöglich gilt: ihren Widerstand entgegen jeder Folter durchzuhalten, die sich die Gestapo ausdenken konnte. Genützt hat es ihnen wenig, denn umgebracht wurden sie anschließend trotzdem. Dennoch haben sie eine Willensstärke bewiesen, die kaum zu überbieten ist. (Zynischer weise hatten sie die Gelegenheit dazu nur, weil ihre Leitung, die Wachtturmgesellschaft, mit den Nazis kooperiert und ihnen die Namen von Mitgliedern gegeben hatte. Aber ich will ja auch nicht behaupten, alle Zeugen Jehovas wären in ihrem Glauben unbeugsam; nur diese waren es offensichtlich.)

      Sie sind nicht die einzigen, die es geschafft haben, sich ihren Folterern zu verweigern – aber unter denen, die das geschafft haben, sind sie als streng religiöse Menschen in der übergroßen Mehrheit. Die Anführer der Wiedertäufer sind relativ bekannte Beispiele, wie auch verschiedene Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg. Auch der relativ bekannte Fall James Stockdale, ein Kriegsgefangener in Vietnam, der jahrelange Folter durchlitten hat und sich als Atheist bezeichnet, war überzeugter Stoiker und damit Anhänger einer „Philosophie“, die bei genauer Betrachtung sehr religiös daherkommt und dem Neuplatonismus wesentlich näher verwandt ist als dem Atheismus.

      Natürlich wissen wir nichts genaues über den Anteil streng religiöser Menschen unter denjenigen, die der Folter widerstanden haben. Erstens wird oft gefoltert ohne dass es Ziel der Sache wäre, den Willen des Opfers zu brechen. Zweitens haben dort, wo das doch der Fall ist, die wenigsten Folteropfer hinterher die Gelegenheit, darüber zu reden. Nach den wenigen Daten, die zu dem Thema vorliegen, scheinen streng religiöse – fanatische – Opfer jedenfalls im Vorteil zu sein.

      Das könnte allerdings damit zusammenhängen, dass solche Leute, zumal heutzutage, besonders oft gefoltert werden. Wirft man einmal einen langen Blick in die Geschichte von kleinen Widerstandsgruppen gegen übermächtige Staatsgebilde, so stellt sich schnell heraus, dass sie fast immer von besonders entschlossenen Gläubigen bestimmt werden. Ulrich Köhler – noch ein Anthropologe – hat dazu eine Theorie der „Revitalisierung“ aufgestellt, in der er feststellt, dass der Großteil der Volksbewegungen, die sich gegen eine dominante Kultur (bzw. den Staat) auflehnen, nicht nur religiös sind, sondern auch normalerweise von visionären Erlebnissen einiger weniger ausgelöst werden, die berichten, sie hätten mit irgendeiner Gottheit gesprochen und würden deren Befehle ausführen. Womit wir wieder beim Fanatismus wären.

      Wo in einer Revolte Religion eine geringe Rolle spielt, zum Beispiel in der Französischen Revolution, stehen hinter der revolutionären Bewegung große Menschenmassen. Das hat andere Gründe und ist für uns jetzt nicht interessant. Jedenfalls braucht es entweder einen großen Rückhalt in der Bevölkerung oder eben Fanatismus, um eine solche Entschlossenheit zu entwickeln, wie man sie braucht, um sich mit einem Staat anzulegen.

      Damit will ich nicht sagen, dass es besonders sinnvoll ist, eine Revolution anzetteln zu wollen – das wäre nochmal ein ganz anderes Thema. Ich erlaube mir aber den Hinweis, dass wenn Richard Cavendish meint, das Ziel des Schwarzen Magiers wäre letztlich die Eroberung des Universums, der unmittelbar relevanteste Teil des Universums – zumindest vorerst – natürlich der Staat und die Kultur sind, in denen der Schwarze Magier lebt. Wenn fanatische Menschen bei solchen Eroberungsversuchen im Vorteil sind, dann ist das für Schwarzmagier aus ganz pragmatischen Gründen von Interesse.

      In dem uns nächsten Beispiel für eine Revolte, der Opposition gegen die Regierung der ehemaligen DDR, waren es die Christen, die an vorderster Front standen und lange vor den großen Montagsdemonstrationen eine oppositionelle Szene etabliert haben. Natürlich sind auch dort Leute verschwunden und natürlich wurde auch dort gefoltert, wenn auch dank der modernen Massenmedien nur in relativ gut versteckten Ausnahmefällen. Im Klima der permanenten Stasiüberwachung Verbrechen wie „Staatsfeindliche Hetze“ zu begehen, erforderte mehr innere Stärke, als die meisten damals hatten. Die Christen hatten die nötige Entschlossenheit und den Christen verdanken wir die friedliche Revolution von 1989.

      Aktuellere Fälle von Widerstand gegen eine übermächtige und folternde Staatsmacht sind natürlich vor allem die Muslime im Irak (und anderswo) und die Falun-Gong-Bewegung in China. Und schon wieder: alles religiöse Leute. Aber natürlich sind das nur die besonders eindrücklichen Extrembeispiele, an denen sich am besten zeigt, was es für Möglichkeiten eröffnet, fanatisch zu sein. Aber schau dich nur um, such nach außergewöhnlich erfolgreichen Leuten und du wirst fast immer feststellen, dass sie in irgendeiner Weise Fanatiker sind. Vielleicht ist es ihnen nicht bewusst, und vielleicht sehen sie es selbst nicht so. Aber außergewöhnlicher Erfolg hat in vielen, meiner Meinung nach den meisten, Fällen einfach damit zu tun, dass jemand bereit ist (oder es zumindest einmal war) wesentlich mehr Einsatz für etwas zu bringen als es normale (das heißt: nicht außergewöhnlich erfolgreiche) Menschen tun. Das betrifft ebenso den besessenen Künstler, der wochenlang 16 Stunden am Tag eine fixe Idee auf eine Leinwand bannt wie den Unternehmensgründer, der „unbedingt“ (ohne Rücksicht auf Verluste, das heißt: fanatisch) geschäftlichen Erfolg will und dafür die 80-Stunden-Woche und den Herzinfarkt mit 55 in Kauf nimmt. Immer ist Fanatismus die Triebfeder, die den Einzelnen aus den Milliarden heraushebt. Gegenbeispiele gibt es natürlich – die haben eben Glück gehabt, das gibt‘s auch. Aber wie man sich Glück verschafft, wird schon in genügend anderen Büchern besprochen, also zurück zum Thema.

      Es lohnt sich, das eben Gesagte im Hinterkopf zu behalten, wenn man sich anschaut, wie der Fanatismus, dieses böse böse Wort, im Allgemeinen beschrieben wird – von Postings in satanischen Internetforen bis zu Artikeln in der FAZ. Da ist die Rede von „Dummheit“ (was Unsinn ist, denn fanatische Menschen sind erfahrungsgemäß eher überdurchschnittlich intelligent), „Rückständigkeit“ (als ob Fanatismus ein Phänomen der Vergangenheit wäre) oder „Irrationalität“ (was stimmt, aber nicht gerade präzise ist). Wäre es nicht viel treffender, Fanatismus durch „Entschlossenheit“ zu charakterisieren? Oder, wenn wir in der Sprache des Okkultismus bleiben, durch „Willenskraft“? Damit hätten wir dann ein drittes Merkmal für Fanatismus.

      Das vierte und an dieser Stelle letzte Merkmal ist eines, in dem ich den Feuilletons ausnahmsweise Recht gebe, und zwar Intoleranz. Fanatiker sind nicht nur oft gefoltert worden, sie haben auch besonders oft selbst