Der Mund ist aufgegangen. Tilman Allert

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Название Der Mund ist aufgegangen
Автор произведения Tilman Allert
Жанр Социальная психология
Серия
Издательство Социальная психология
Год выпуска 0
isbn 9783866744943



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und übersieht die Linien, die die Erfahrung in die Wahrnehmung gezogen hat. Deshalb sei das historisch Besondere unserer Sammlung kurz skizziert. Unverkennbar entstammen die Erinnerungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als aus den Trümmern der Anstoß zu einer vorsichtigen Lebenszugewandtheit erwuchs. Während der Zeit der Knappheit, eingedenk der Erfahrung des Hungers, war es geboten zu essen, was auf den Tisch kam. Zwischen Notwendigem und Überflüssigem zu unterscheiden, bildete die Grundlage der Gewohnheiten. Über das Essen nachzudenken, dergleichen gab es kaum; ob etwas bekömmlich war, galt als eine Frage des Maßes. Informationen über Nährstoffe und den Kaloriengehalt, geschweige denn Intoleranzen oder Allergiepotentiale, waren allenfalls Bestandteil von Folklore, nicht mehr als implizites Wissen. Von zuviel Senf, so hieß es, bekomme man Pickel, Spinat enthalte reichlich Eisen, Fisch wichtige Vitamine – auf dergleichen Alltagswissen beschränkten sich die Essensregeln. Das kulinarische Wohlergehen zählte nicht zur Philosophie des Lebens, geschweige denn, dass es je Gegenstand des Familiengesprächs oder gar angestrengter semantischer Verfeinerung geworden wäre. Der Speisezettel war dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen, war Nebensache und heilig zugleich – zwei Dimensionen, die dem Essen Würde verliehen ohne die grelle Aufmerksamkeit, die ihm in unserer heutigen Gesellschaft entgegengebracht wird.

      Was für die Eltern eine Anstrengung bedeutete, hatte sich den Kindern eher vermittelt mitgeteilt – das Essen zu respektieren, derartige Mahnungen zählten zum Alltag, riesig die Freude der Kinder, wenn es das gar nicht selbstverständliche Süße gab, dessen wortloser Trost schon früh zu allen erdenklichen Manövern des Hinauszögerns Anlass gab. Süßigkeiten bildeten die große Ausnahme, etwas üppiger verteilt an den Feiertagen, sehnsüchtig erwartet an Geburtstagen oder auch mal, wenn die Verwandten oder Nachbarn zu Besuch kamen. Fürs Naschen galt es, sich einer ausgeklügelten Strategie des Anschleichens zu den versteckten Leckereien zu bedienen.

      Für die Kinder musste es genügend Soße geben. Der Routine des Kochens ausgeliefert, taten sie, die im Einerlei des Hinzunehmenden mal Gourmands, mal Gourmets waren, im übrigen gut daran, sich in der Kunst des Herunterwürgens zu üben. Schmalhans war Küchenmeister – Fernsehköche oder Kochkurse gab es nicht. Das Gefühl für Gerechtigkeit entstand bei Tisch. Pedantisch wurde unter Geschwistern etwa darauf geachtet, dass bei den Buchstabenkeksen, Russisch Brot genannt, das »I« und das vielbeinige »M« oder »W« in gleichen Teilen auf die Teller verteilt wurde. Einzig das Weihnachtsfest und der Advent eröffneten mit »Apfel, Nuss und Mandelkern«, Datteln, Feigen und Pistazien eine heilige Zeit im Kalender, überwältigend opulent, als hätten die drei Könige aus dem Morgenland einen Zwischenstopp im Elternhaus eingelegt.

      Dass auch unter den historisch besonderen Bedingungen der Kargheit ein Gespür für das Gute des Essens entstand, hat mit dem Wesen des Geschmacks zu tun. Er setzt nicht Theorie oder Belesenheit voraus, nicht Erkenntnis, sondern gründet in der erfahrungsgeschulten Klugheit des Empfindens. Nun liegt uns fern, diese Klugheit zu verklären. Eher sind wir bemüht, das geschmacklich Vertraute, das wir vergessen haben, von innen her zu verstehen, und vom Schicksal, Fetisch zu werden, zu befreien – eine gedankliche Bewegung, die gerade zugänglich ist, wem es gelungen ist, zu vergessen. Treue zur Kindheit bewahrt, wer vorm Erwachsensein nicht davonläuft und den frühen Erfahrungen nicht nachtrauert.

      Die im folgenden versammelten Zugänge zum Erlebten stellen nicht mehr als einen Versuch dar. Unterschiedlich lassen sie sich lesen, als Propädeutikum für eine Phänomenologie der Geschmacksbildung, als Führer einer Bildungsreise zurück zu den Anfängen des eigenen sinnlichen Vermögens oder als Kommentar zu einer Soziologie der Mahlzeit. Wer nach einer Vorlage sucht, dem seien Robert Schumanns »Kinderszenen« empfohlen, um auf das einzustimmen, was den Leser an kulinarischen Causerien erwartet: eine Sammlung von Miniaturen oder, wie der Komponist selbst es formulierte, »Rückspiegelungen eines Älteren und für Ältere geschrieben«. An jeder Stelle läßt sich beginnen, und ähnlich wie das Essen und Trinken mit dem Atemholen in dynamischem Gleichgewicht erfolgt, so lädt das Lesen zum Verweilen ein. Innezuhalten mag auf den schönsten Schatz einstimmen, der im Oralen geborgen ist. Im überaus sensiblen Areal des Mundraums gewinnt die vokale Geste Kontur, entstehen Kraft und Klang der Stimme. In deren Resonanz spüren wir uns und werden unserer Gegenwärtigkeit gegenüber dem anderen gewahr, und ohne dass erinnerbar ist, wie sie ihren Weg zum Singen und Sprechen gefunden hat. Im Lallen und im Brüllen, im Krächzen und Grunzen, im Seufzen und Schnaufen zu einem unverwechselbaren Timbre geschult, in den hellen Koloraturen des Soprans ebenso wie, nach ihrem Bruch, im dunklen Ton des noch kaum vertrauten Bass, variantenreich und verspielt, im Wimmern wie im Jubel unverkennbar, ist die Stimme in allen Künsten der Verstellung zuhause und noch in der Vielfalt ihrer Variationen Zeuge eines unverwechselbaren Selbst.

      Der Geschmack der Kindheit gibt Raum für das Atmosphärische, umspielt die Lust auf das Sprechen, das, zum Ruf und zur Kundgabe, zur Bitte und zum Dank verwandelt, das Draußen der Welt im Drinnen der Person zum Klingen bringt. Der Mund geht auf – den anderen zu erreichen, ist sein ewig strebender Wunsch.

Süßer Schmerz

      Das Gute erscheint selten unmittelbar, es bevorzugt den Auftritt in der Verhüllung. Sie verzögert, erhöht die Erregung und kitzelt die Vorfreude. Nicht so beim Himbeerbonbon, lange Zeit ein Solitär unter den frühen Wonnen der Oralität. Verlockend war es aufgrund seiner Nähe zum schnellen Verzehr. Schnörkellos seine Präsenz, wurde es unter Hunderten seinesgleichen mit einem Griff aus dem bauchigen Glas geholt und direkt in die offene Hand gereicht wie die Scheibe Lyoner beim Metzger, als Geschenk beim Einkauf mit der Mutter oder auch schon mal gegen einen Pfennig eingetauscht. Umwege wie etwa beim Marzipan oder beim Karamelbonbon, die geschmacklich zu einer anderen Liga gehörten und deshalb zweifach akkurat und fein umhüllt waren, gab es beim Himbeerbonbon nicht: Unverpackt war es zum Klassiker geworden. Als Bonbon war es eine ehrliche Haut, sein plumpes Aussehen vertrauenerweckend – eine Kugel zwar, aber irgendwie ramponiert durch das Gedränge unter den vielen, mit denen zusammen es aufbewahrt wurde – und erst recht in dem Zustand, in dem es in der Tüte mit den hellblauen Sternchen als Wochenration tief unten in der Hosentasche sein Dasein fristete.

      So herrlich es schmeckte, so prekär waren die ersten Minuten seines Auftritts, ein Gaumenschreck – in krassem Gegensatz zum fruchtigen Original vom Strauch, dem eher das Gelupft- als Gepflücktwerden würdig schien. Es dauerte eine Weile, bis das zuckrig Harte des Bonbons auf die Größe einer glatten Murmel abgeschmolzen war, die sich unterm Gaumen hin- und herrollen ließ oder der man großzügig Ausflüge in die entferntesten Winkel des Mundraums gestattete. Ja, im geduldigen Lutschen – was für ein Wort für die hohe Kunst des sublimierten Konsums – zollte man seiner Anwesenheit dadurch Respekt, dass man ihm gestattete, beim Sprechen zu lauschen. Diese Lässigkeit, es im Mund herumlungern zu lassen, hatte ihren Preis. Das Bonbon war geschickt, und je heimischer es wurde, desto tollkühner konnte es sich gebärden. Dabei passierte es manches Mal, dass es, eben noch hoch in der Gaumenkuppel turnend, plötzlich abstürzte und viel zu früh verschwand und dazu womöglich noch kaum verkleinert. Das Verschlucken: ein kleiner Weltuntergang! Einen Augenblick lang schaffte es das Bonbon, jede Aktivität zu stoppen, die einem kurz zuvor noch wichtig erschienen war. Sein Abgang in den Schlund entfaltete sich als verwirrend mühsam. Das rumpelnde Rumoren in der Herzgegend war noch zu spüren, wenn es längst den Magen erreicht hatte, und das Gefürchtete – die Blockade mit anschließender Ohnmacht und Ersticken – ausgeblieben war. Im Moment des Schreckens konnte das Wissen kaum beruhigen, dass neben der einen Röhre wohl noch eine weitere lag, die eine fürs Essen und Trinken zuständig war, während die andere sich aufs noch viel wichtigere Atmen spezialisiert hatte. Der Ärger darüber, dass sich das Bonbon in einem Akt der Dreistigkeit auf und davon gemacht hatte, lenkte schließlich von der nagenden Sorge ab, ob vom einst willkommenen Gast, der unvermittelt zu einem Fremdkörper im eigenen Leib geworden war, womöglich späterer Aufruhr zu gewärtigen sei.

      Bis man der Verlockung erneut verfiel, dauerte es eine Weile.

      Der Liebesapfel, wie alles Runde eine überwältigende Augenweide, eine funkelnde Versuchung, zum Greifen nahe, hatte auf der gläsernen Theke der Kirmesbude seinen glänzendsten Auftritt. Um von ihm verführt zu werden,