Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier

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Название Auf Wiedersehen, Kinder!
Автор произведения Lilly Maier
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990406144



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Touristeninfo kaufe ich ein Buch über die alte Brünner Kaffeehauskultur, dann spaziere ich Richtung Malinowskiplatz. Hier endet die Altstadt, ab jetzt dominieren heruntergekommene Fabriken und Wohnhäuser das Bild. Ich biege in die Cejl – die Zeile – ein und erschrecke, als plötzlich ein großes hölzernes Schiff in die Straße ragt. Bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als liebevoll gestaltetes Puppenmuseum. Fünfzig Hausnummern später bin ich an meinem Ziel: Cejl 83.

      In der Zeile 83 waren lange Zeit der tschechische Konsumverein und die Arbeiterbäckerei untergebracht. Im Februar 1934 überließ der sozialdemokratische Stadtrat Václav »Wenzel« Kovanda seinem österreichischen Kollegen Otto Bauer den vierten Stock. Bauer gründete hier noch am Tag seiner Ankunft das Auslandsbüro. Neben der Unterstützung der österreichischen Flüchtlinge und der in Wien verbliebenen Genossen gehörte das Drucken der nun illegalen Arbeiter-Zeitung zu den wichtigsten Aufgaben des ALÖS.

      Von seiner historischen Bedeutung für das sozialdemokratische österreichische Exil lässt das Haus in der Zeile 83 heute nichts mehr erahnen. In der Toreinfahrt stapelt sich der Müll, leere Limonadenflaschen liegen neben einem kaputten Autositz. Erst von der anderen Straßenseite aus kann man sich ein besseres Bild machen. Im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut, erinnert der rotgestrichene siebenstöckige Bau an den Karl-Marx-Hof in Wien. Über einem hohen industriell genutzten Erdgeschoss ist, wie bei alten Manufakturen üblich, ein niedriges Zwischengeschoss eingezogen, darauf folgen fünf Stockwerke mit tief gesetzten Fenstern. Hinter einem davon arbeitete Ernst Papanek im Frühjahr 1934.

      Von der heute etwas tristen Cejl 83 fahre ich mit der Straßenbahn zur Mährischen Landesbibliothek, einem modernen Glasbau im Stadtteil Ponava. Hier lagern 6.400 Bücher mit Österreichbezug – darunter auch das einzige Werk zum österreichischen Exil in der mährischen Hauptstadt: Drehscheibe Brünn.

      Brünn war bereits 1933 nach der Machtergreifung Hitlers Anlaufstelle der deutschen Emigranten, ein Jahr später folgten dann die Österreicher. Für die Tschechoslowakei als Asylland gab es viele Gründe: Die Nähe zu Deutschland und Österreich ermöglichte den Grenzübertritt über die grüne Grenze und da es keine Visumspflicht gab, konnte man eine Flucht leicht als Wochenendausflug tarnen. Außerdem hatte man keine Sprachschwierigkeiten, da im Sudetenland, in Prag und in Brünn drei Millionen Deutsche lebten. Und besonders wichtig für die Exilanten: Das Land war eine der letzten verbliebenen Demokratien Mitteleuropas und ließ sich weder von schweren Nationalitätenkämpfen noch von der Wirtschaftskrise davon abhalten, Flüchtlinge zu unterstützen. Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk setzte sich persönlich für Intellektuelle ein – unter anderem erhielten Thomas und Heinrich Mann nach ihrer Ausbürgerung tschechische Pässe. Zahlreiche Hilfskomitees halfen den Neuankömmlingen. Allein die sudetendeutschen Sozialdemokraten brachten monatlich rund 50.000 Kronen auf.

      Treffpunkt der Exilanten wurde – wie kann es anders sein – ein Café. Im Kaffeehaus Biber im sogenannten DOPZ-Gebäude traf man sich zum Politisieren und um Nachrichten aus der Heimat auszutauschen. Also stelle ich das Buch in der Bibliothek zurück ins Regal und mache mich auf den Weg zu meinem letzten Stopp des Tages: dem Mährischen Platz.

      Inzwischen ist die Sonne untergegangen, trotzdem kann ich das hell erleuchtete DOPZ-Gebäude leicht erkennen. Einst gehörte es der Gewerkschaft der Privatangestellten und beherbergte neben dem zweistöckigen Kaffeehaus Biber auch ein Kino und einen Speisesaal der Young Men’s Christian Association (YMCA). In den 1930er Jahren galt das Kaffeehaus Biber als Zentrum der Brünner Antifaschisten. Heute residiert hier das beliebte Kino Scala. In der Lobby erinnert eine Gedenktafel an den »kulturellen Treffpunkt der Künstler, Schriftsteller, Publizisten und Politiker, die in Brünn im Exil lebten«.

      ***

      In Wien war Ernst Papanek Berufspolitiker gewesen, nun wurde er zum Berufsexilanten. Mit einigen Unterbrechungen arbeitete er zwei Jahre lang im ALÖS.96

      Das ALÖS sah sich als »Auslandsstützpunkt« der in Österreich verbliebenen Genossen sowie als »Erbschaftsverwalterin der österreichischen Sozialdemokratie«.97 Letzteres darf man durchaus im finanziellen Sinne sehen, denn Fritz Adler hatte es geschafft, beträchtliche Teile des Parteivermögens über die Grenze zu schmuggeln.98 Dezidiert sollte das Auslandsbüro allerdings kein Parteivorstand sein – die zerstrittene Exil-Führung der deutschen SPD galt als abschreckendes Beispiel.

      Otto Bauer und Julius Deutsch übernahmen die Leitung des ALÖS, auch Fritz Adler war sehr involviert, obwohl er weiterhin in Zürich als Sekretär der Internationalen arbeitete. Ernst Papanek leitete das Ein-Personen-Komitee des Jugend-ALÖS.

      In der Anfangszeit des Exils lebten rund 3.000 österreichische Flüchtlinge in der Tschechoslowakei, viele von ihnen in Lagern in Grenznähe. Das ALÖS unterstützte sie finanziell und schickte beachtliche Mengen Geld an die Familien von verhafteten Parteifunktionären. Bereits am 25. Februar, nur sieben Tage nach ihrer Ankunft in Brünn, erschien die erste in der Zeile 83 gedruckte Arbeiter-Zeitung, die sofort illegal nach Österreich geschmuggelt wurde. Die Stückzahlen konnten sich sehen lassen: Die 22 Ausgaben, die in Brünn erschienen, brachten es auf eine Gesamtauflage von 752.898 Stück. Daneben druckte das ALÖS fast zwei Millionen Aufkleber und Flugzettel für die Widerstandsarbeit.

      Im Exil schreibt Ernst Papanek eine Broschüre über den Arbeiter Josef Gerl …

      … und ist mehrere Jahre fast durchgängig am Reisen, wie seine zahlreichen Taschenkalender zeigen (für das Jahr 1936/37).

      Wenn er sich in Brünn aufhält, arbeitet Papanek im ALÖS-Büro in der Zeile 83, die ich im Januar 2020 besucht habe.

      Am 1. Mai 1934 trat in Österreich unter Kanzler Dollfuß eine neue Verfassung in Kraft. Das Land war nun ein austrofaschistischer Ständestaat, die parlamentarische Demokratie und das pluralistische Parteiensystem waren abgeschafft. Als sichtbarstes Zeichen der neuen Machtverhältnisse benannte man einige Gemeindebauten um: Der Karl-Marx-Hof wurde zum Heiligenstädter Hof, der Austerlitzhof zum Rabenhof und der Engels-Hof verlor sein »s« und war von nun an der Engel-Hof.

      Dollfuß selbst konnte seinen Erfolg allerdings nicht lange genießen: Am 25. Juli 1934 wurde er während eines Putschversuchs im Bundeskanzleramt von den Nationalsozialisten ermordet. Der Putsch scheiterte, die österreichische NSDAP wurde verboten und Kurt Schuschnigg neuer Bundeskanzler. Am System des Austrofaschismus änderte sich vorerst einmal nichts.

      Im Frühjahr 1934 gründeten die Sozialdemokraten im Geheimen als Nachfolgeorganisation der SDAP die Revolutionären Sozialisten (RS) und als Nachfolger der SAJ die Revolutionäre Sozialistische Jugend (RSJ). In der Anfangszeit kam es bedingt durch Verhaftungen zu vielen Führungswechseln, später gewöhnten sich die Mitglieder an die konspirative Arbeit und wurden vorsichtiger.

      Ernst Papanek war für die Verbindung mit der RSJ und anderen verbotenen Jugendorganisationen in Österreich zuständig. Regelmäßig schickte er ihnen Materialien für die illegale Jugendarbeit – die Zeitung Rote Jugend etwa ging getarnt als Rätselheft auf den Weg.99 Für Propagandazwecke verfasste Papanek das Büchlein Die Idee steht mir höher als das Leben über den 22-jährigen Arbeiter Josef Gerl, der am 21. Juli 1934 ein Sprengstoffattentat in Wien verübt hatte und nur drei Tage später hingerichtet worden war.100 Obwohl Papanek nach Kriegsende erklärte, er habe Gerl persönlich von dem Attentat abgeraten, verklärte er ihn in seiner Propagandabroschüre zum sozialistischen Märtyrer. Die tschechoslowakische Arbeiterjugend finanzierte eine Auflage von 20.000 Stück, der belgische Jugendverband brachte eine französische Ausgabe heraus.

      Neben seiner Tätigkeit als Verbindungsmann war Papanek Auslandsvertreter für die RSJ bei den Treffen der Sozialistischen