Erinnerungen. Bruno Kreisky

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Название Erinnerungen
Автор произведения Bruno Kreisky
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990402665



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von 1926 mit der für mich nötigen Eindeutigkeit festgeschrieben war. Nur hatte das Linzer Parteiprogramm einen furchtbaren verbalen Fehler: den Satz von der »Diktatur des Proletariats«, der der Partei wie ein Brandmal anhaftete. Es hieß dort: »Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.« Es wird bestritten, dass dieser Satz von Otto Bauer stammt, aber ich schließe mich doch denen an, die meinen, dass die Dialektik, die sich um dieses Wort herum rankt, eine typisch Otto Bauersche gewesen ist. Es war eine gefährliche Formulierung, und sie stand im Gegensatz zu allem, was im Programm zu lesen war: Die Demokratie sollte gefestigt, am Proporzsystem sollte nicht gerüttelt werden. Die wesentliche Voraussetzung der Machteroberung war eine so starke Veränderung des Bewusstseins der Menschen, dass sie bei den Wahlen gar keine andere Möglichkeit hatten, als sich diesmal im Unterschied zu 1919 für die Sozialdemokratie zu entscheiden.

      Einer der »Linkesten« der Linken in der österreichischen Sozialdemokratie, der bekannte Philosoph, Neokantianer und Marxist Max Adler, hat sich in seiner Staatsauffassung des Marxismus, einem der Standardwerke des Austromarxismus, große Mühe gegeben, den Begriff der »Diktatur des Proletariats« zu demokratisieren. Mir schien dieser Versuch nicht gelungen zu sein. Andererseits glaube ich, dass der »Verbalradikalismus« sehr dazu beigetragen hat, die Spaltung der österreichischen Sozialdemokratie zu verhindern. Dabei hat es sich nicht, wie man heute sagen würde, um ein semantisches Manöver gehandelt, sondern um echte Überzeugung. Indem Max Adler immer wieder die Irrwege des russischen Kommunismus schilderte hat er Tausende junger, theoretisch interessierter Sozialdemokraten daran gehindert, sich dem Kommunismus anzuschließen.

      Um die Vorstellung von der sozialdemokratischen »Revolution« richtig zu verstehen, muss man wissen, dass die österreichische Sozialdemokratie in der Sozialistischen Internationale eine besondere Rolle gespielt hat. Die Spaltung in einen demokratisch-sozialistischen und einen kommunistischen Zweig, die für fast alle europäischen Länder bezeichnend war, hat in Österreich niemals wirklich stattgefunden. In Deutschland hat diese Spaltung zu einer großen kommunistischen Partei geführt; in der Tschechoslowakei waren die Kommunisten die stärkste Partei, weil in ihr alle Nationalitäten der neuen Republik vereinigt waren; und in Norwegen wollten Sozialisten und Kommunisten sogar geschlossen zur Komintern übertreten. Die damit verbundenen theoretischen Auseinandersetzungen haben natürlich auch die österreichische Sozialdemokratie stark beschäftigt, aber wir hatten das Glück, dass auf der Linken zwei Männer standen, die entschiedene Gegner des Kommunismus waren: Otto Bauer und Friedrich Adler.

      Diesen beiden Männern vor allem ist es zu danken, dass sich in Österreich nicht wie in Ungarn oder München die Räterevolution ereignet hat. Sie haben es fertiggebracht, dass in der berühmten Sitzung des zentralen Wiener Kreisarbeiterrats vom 13. Juni 1919 nach heftigen Diskussionen die Ausrufung der Räterepublik nach dem Vorbild von München und Budapest mit großer Mehrheit abgelehnt wurde: Ein Wunder hatte sich ereignet. Otto Bauer und Friedrich Adler haben überzeugend dargelegt, dass man ohne die Kohle aus den Nachbarländern nicht länger als eine Woche überleben werde. Nicht nur Frankreich wollte seinen Sieg über Deutschland auskosten – England war hier viel zurückhaltender, wie man den Erinnerungen des Grafen Ottokar Czernin entnehmen kann –, sondern auch die neuen kleinen Sieger wollten ihren Triumph haben, und der sollte sich in Aktionen gegen das zerschlagene Österreich manifestieren. Auch wenn nach außen hin Staatskanzler Karl Renner als Exponent der sogenannten »Rechten« die führende Rolle gespielt hat, in der Partei selbst hat die Linke gesiegt. Und es war das historische Verdienst der Linken, dem Drängen von Béla Kun, dem Führer der Räterepublik in Ungarn, standgehalten zu haben. Die erste große Spaltung in der Geschichte der Sozialistischen Internationale war die Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Sie fand 1903 in Brüssel und London statt. »Bolschewik« ist ja historisch kein Schimpfwort, sondern so nannten sich diejenigen, die auf diesem II. Parteitag die Mehrheit errangen (von russisch bolschinstwo, »Mehrheit«). Zu ihnen gehörte vor allem Lenin. Die Menschewiken waren die Minderheitler; und zu ihnen zählten so gelehrte Marxisten wie Plechanow, Axelrod und Martow. Zwischen beiden Gruppierungen gab es zwar ein ständiges Hinüber und Herüber, aber vom Londoner Parteitag an war die russische Sozialdemokratie tief gespalten.

      Lenin war kürzere, Trotzki längere Zeit in Österreich-Ungarn im politischen Asyl. Leo Trotzki hat in Österreich sogar Dauerasyl genossen und war ein häufiger Gast im Café Central, wo er hinter einem Berg von Zeitungen regelmäßig seinen Kaffee trank.

      Es gibt Wissende, die meinen, wenn Trotzki in den Tagen der Revolution nicht zu Lenin gestoßen wäre, hätte sie einen anderen Verlauf genommen. Jedenfalls kann niemand bestreiten, dass es Trotzki war, der die Rote Armee geschaffen hat. Die Armee unter Kerenski war zerfallen, weil man den Soldaten, die vorwiegend kleine Bauern waren, befohlen hatte, weiterzukämpfen, und Trotzki ihnen durch seine Emissäre sagen ließ, dass bei ihnen zu Hause der Boden verteilt werde: Wollt ihr das den Weibern überlassen? Und da sind die Bauern einfach nach Hause gegangen, um dabei zu sein, wenn man die Gutsbesitzer enteignete und verjagte. So ist eine mächtige Armee in den Weiten Russlands versickert. Als dann die Bolschewiki die Macht erobert hatten, sie aber durch die »Weißen« und ihre Armeen bedroht sahen, hat Trotzki den Bauern abermals durch seine Emissäre sagen lassen: Hinter den weißgardistischen Generalen, den Koltschaks, Denikins und Wrangels, kommen die alten Gutsbesitzer zurück und werden euch das Land wieder wegnehmen. Das hatte einen gewaltigen Mobilisierungseffekt, und die Rote Armee hat gesiegt.

      Die Unbesiegbarkeit der Roten Armee hat natürlich die Idee der Weltrevolution beflügelt. In den Köpfen der Führer der bolschewistischen Revolution entstand eine neue Ideologie: Man müsse gleich bis Warschau weitermarschieren, um die neue polnische Armee unter Pilsudski zu schlagen, dann mit den sich solidarisch erklärenden Regimentern der polnischen Armee weiter nach Deutschland und von dort zusammen mit den revolutionären Soldaten des Spartakusaufstandes an den Rhein. Am Rhein sollte es dann zur welthistorischen Begegnung mit dem revolutionären Frankreich kommen. Aber dieser Traum war bereits vor Warschau ausgeträumt. Dort wurden die Russen von Pilsudski und seiner neuen polnischen Armee total besiegt. Nur war das längst nicht mehr die Rote Armee. Denn als die große Masse der Soldaten, die Bauern, merkten, dass sie nicht mehr auf russischem Boden kämpften, sondern für Ziele eingespannt wurden, die nicht die ihren waren, sind sie abermals in der Weite des russischen Raumes verschwunden und haben sich in ihre Dörfer durchgeschlagen. Besiegt wurden vor Warschau die Arbeiterregimenter, vor allem aus Petrograd und Moskau. Die Machtergreifung des Kommunismus mit den Mitteln des Krieges war gescheitert.

      Noch einmal möchte ich sagen, dass die Niederlage vor Warschau im August 1920 die kommunistischen Arbeiterregimenter erlitten haben und nicht die Rote Armee, wie sie von Trotzki konzipiert worden war. An unseren Schulen wird diese Art Geschichte leider nicht unterrichtet, obwohl sie von folgenschwerer Bedeutung noch für unsere Zeit ist. Würde man sich mit diesen Fragen intensiver befassen, könnte man vieles besser begreifen, auch die heutige Entwicklung in China.

      Alte Bolschewiken erzählten mir, dass im Entwurf der Gründungsstatuten der Kommunistischen Internationale ursprünglich gestanden habe, ihr Sitz solle in Moskau sein. Als Lenin das las, habe er ironisch gemeint: Und die Delegierten seien im Hotel Lux unterzubringen. Er habe den Kopf geschüttelt und gefragt, wie man denn so etwas Unsinniges festlegen könne. Wenn es eines Tages in Deutschland oder in einem anderen hochindustriellen Staat zur Revolution komme, dann wäre es doch zweckmäßig, das Zentrum der Internationale in ein fortschrittlicheres Land zu verlegen. De facto ist es natürlich bei Moskau geblieben. Die Komintern hat sich zu einem immer stärkeren ideologischen Zentrum entwickelt, und die kommunistischen Parteien Europas wurden ihre immer willfährigeren Werkzeuge – und damit zu Werkzeugen der Sowjetunion. Deutlichster Ausdruck war die Breschnew-Doktrin, die das Recht zur militärischen Intervention in jedem Land statuierte, in dem eine kommunistische Partei herrscht. Diese Doktrin diente als formale Rechtfertigung für den Einmarsch in die Tschechoslowakei.

      Die Niederlage vor Warschau hat die Ideologie des Kriegskommunismus beendet. Lenin selbst beendete sie, indem