Erinnerungen. Bruno Kreisky

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Название Erinnerungen
Автор произведения Bruno Kreisky
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783990402665



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Schutzbund verdankte seine Entstehung nicht nur dem Wehrwillen der Arbeiterbewegung gegen die präfaschistischen Kampfbünde, sondern entsprang auch dem Bedürfnis der Menschen, die Erinnerung an das größte Erlebnis ihres Lebens wach zu halten. Ich erinnere mich deutlich an viele Nächte, die ich bei Schutzbundbereitschaften zubrachte. Man saß in irgendwelchen Kellern, döste vor sich hin und langweilte sich; eine allgemeine Munterkeit kam erst auf, wenn endlich die Würstel gebracht wurden. Und während dieser nächtelangen Schutzbundbereitschaft haben die Leute am liebsten vom Isonzo geredet, von Gorlice und von Wolhynien. So lernte ich sämtliche Schlachten kennen, auch wer ein guter General und ein tüchtiger Feldwebel gewesen war. Die Mentalität des Feldwebels steckt in vielen Menschen, auch in Zivilisten. Hinzu kam die krankhafte Uniformsucht, die gerade in Österreich sehr stark verbreitet ist. Wir hatten auf der Wieden einen etwas zu kurz geratenen Schutzbundführer, der mit Hochglanzreitstiefeln und in einer Fantasieuniform an der Spitze seiner Schutzbündler immer dicht am Rathausplatz vorbeimarschiert ist, und vielen hat das sehr gut gefallen.

      Es gab nach dem Krieg eine Reihe von militanten Organisationen: die österreichischen Frontkämpfer, die in Wirklichkeit eine monarchistische Vereinigung mit präfaschistischem Einschlag waren; die Heimwehren, denen sich vor allem die Bauern anschlossen, ebenfalls präfaschistisch; eine ganze Reihe kleinerer Organisationen in der Politik, und natürlich die sozialdemokratischen Ordnerverbände, allen voran der Republikanische Schutzbund, die bei Demonstrationen die Leut’ im Zaum hielten. Den sentimentalen Militarismus, der allen diesen Organisationen gemeinsam war, habe ich stets für eine große Gefahr gehalten. Für mich war hier eine Entwicklung vorgezeichnet, die die Jugend eines Tages zum Opfer einer viel umfassenderen, politischen Militarisierung machen würde.

      Die versteckten Waffenlager aus dem Ersten Weltkrieg wurden instand gesetzt, neu versorgt. Statt dass die schwarzen und roten paramilitärischen Verbände einander mieden, hat es immer wieder Sonntage gegeben, an denen die Rechten in provokatorischer Absicht in großen Arbeiterstädten demonstrierten, und da rückte dann auch der Schutzbund aus, um den terrorisierten Bewohnern die Angst zu nehmen. Ich erinnere mich noch, wie wir zu diesen Aufmärschen hinausgefahren sind, mit Zügen ähnlich denen, die früher einmal an die Front fuhren. Am Südbahnhof standen weinende Frauen und Mütter, und alle hatten nur eine Sorge: Hoffentlich kommst’ gut heim! Diese ewigen Aufmärsche und Gegenaufmärsche waren eine gewaltige Herausforderung an die Exekutive. Wenn sie mit ihren »Spanischen Reitern« zwischen den demonstrierenden politischen Armeen standen, müssen die Ordnungskräfte das Gefühl gehabt haben, ein Opfer dieser Spannungen zu sein. Aufgrund ihrer politischen Herkunft – die meisten kamen vom Land – haben sie ihre Abneigung natürlich vor allem gegenüber den »Roten« zum Ausdruck gebracht.

      Am 15. Juli 1927 konnte sich der Schutzbund deshalb nicht bewähren, weil er einfach nicht zusammengerufen worden war, um Brandstiftung zu verhindern. Eine vorausblickende Parteiführung hätte sich sagen müssen, dass es am nächsten Tag wegen dieses Urteils unter Umständen eine sehr aufgebrachte Stimmung geben werde, und daher hätte der Schutzbund in Bereitschaft sein müssen. Dann hätte man den Justizpalast gegen die anstürmenden Demonstranten abriegeln können. Schon an ihren Uniformen wären die Schutzbundbereitschaften erkannt worden, und Karl Seitz wäre die furchtbare Enttäuschung erspart geblieben, dass man das Feuerwehrauto, auf dem er stand, nicht hat vordringen lassen. Wenn dieser beliebte Bürgermeister dann erschienen wäre, hätten die Leute Platz gemacht. So aber haben sie ihn niedergeschrien – als »Bremser« und »Arbeiterverräter«, was beweist, dass unter den Demonstranten viele Nichtsozialdemokraten waren. Es war ein furchtbarer Tag für die Partei und, wie sich bald zeigen sollte, für die österreichische Demokratie. Es war ein furchtbarer Tag auch für mich.

      Bis dahin hatte ich immer nur die wohlgeordneten Reihen demonstrierender Arbeiter und Sozialdemokraten gesehen. Das schien mir nun plötzlich wie harmloses Flanieren im Vergleich zu den zornigen Wogen der demonstrierenden Massen vor dem Justizpalast, die man mit Gewalt und unter Blutvergießen vertrieben hatte. Damals ist mir bewusst geworden, dass die Arbeit, die ich in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler leistete, eigentlich sinnlos war, und dass ich, wenn ich wirklich etwas tun wollte, in die Bewegung der Arbeiterjugend hineingehen musste.

       Mit den Mitschülern der Bundesrealschule Wien-Landstraße: Bruno Kreisky in der letzten Reihe, Dritter von links. 1929 legt er hier die Matura ab.

      Mit diesem Entschluss zum wirklichen Engagement stand ich ziemlich allein. Plötzlich war ich die Diskussionen um der Diskussion willen satt. Denn es waren Auseinandersetzungen ohne realen politischen Sinn. Auch spielte in diesen Debatten etwas ganz anderes mit: Die Mittelschüler aus Arbeiterkreisen fühlten sich in diesem Milieu nicht wohl. Sie hielten sich auf ihre Art für eine Elite ihrer Klasse, während die Mittelschüler aus bürgerlichem Milieu sich als vom Bürgertum wegstrebende Außenseiter empfanden. Da diese oft aus jüdischen Familien kamen, schwang in allen Diskussionen immer auch eine kleine Spur des speziellen österreichischen Antisemitismus mit. Es mögen interessante Themen gewesen sein, über die wir da diskutierten, und man hat viele große Leute geholt, um sich belehren zu lassen, ob zum Beispiel in der Sowjetunion der Thermidor schon ausgebrochen sei oder nicht. Aber ich wollte mehr. Ich suchte, was mir aus meiner Klassenlage heraus nicht so leicht zu finden möglich war: den Kontakt zur jungen Arbeiterschaft.

      Und so habe ich mich auf den Weg zur Arbeiterjugend gemacht. Ich wusste, dass das kein einfacher Weg war, aber so schwierig, wie er dann wurde, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Das erste Problem war meine Mutter. Sie wollte immer wissen, wo man mich finden könne, aber ihr wollte ich von meiner neuen Welt nichts erzählen. Infolgedessen habe ich mich von ihr zum Schein überreden lassen, eine Tanzschule zu besuchen. Sie hat Elmayer geheißen und wurde von einem Rittmeister geleitet, der Generationen von Wienern nicht nur das Tanzen beibrachte, sondern auch gutes Benehmen oder was man darunter verstanden hat. Die Einschreibgebühr habe ich noch bezahlt, 20 Schilling. Aber bereits die ersten Monatsbeiträge, die ich von meiner Mutter einkassierte, habe ich schlicht veruntreut. Ausstaffiert, als ginge es zu einem Jugendball, in einem blauen Gabardineanzug mit weißem Hemd und passender Krawatte, bin ich bei der sozialistischen Arbeiterjugend in der Wiedner Hauptstraße 60 b aufgekreuzt. Mein Aufzug war offensichtlich Anlass zum Spott; manche gaben ihrem Misstrauen auch direkt Ausdruck. Nach dem Krieg wurde ich einmal gefragt, warum ich immer so fein »geschalt« gewesen sei. Als ich daraufhin zugab, dass ich meiner Mutter hatte vorgaukeln müssen, dass ich in die Tanzschule Elmayer ginge, rief das allgemeine Heiterkeit hervor. Zuhause habe ich mich dann in vieles leichter gefügt. Ich hatte geschnittene und saubere Fingernägel, die Haare waren in Ordnung, und meine gütige, naive Mutter war der Meinung, ich sei vernünftig geworden.

      Das eigentliche Problem bereitete mir die Sozialistische Arbeiterjugend selbst. Schon am ersten Tag ist mir das widerfahren, was man die »Intellektuellenfeindlichkeit« nennt. Die beiden Obmänner waren zwei baumlange Kerle: Ferdinand Nothelfer, einer der Sekretäre der Gewerkschaft der Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe, kam aus der Bahnhofswirtschaft in Linz, der andere war Heinrich Matzner. Sie haben mich in die Mitte genommen und gesagt: »Du gehörst eigentlich nicht zu uns, für dich gibt’s die Vereinigung sozialistischer Mittelschüler!« Aber von dort kam ich ja!

      Verwirrt über diese ungnädige Aufnahme, wandte ich mich an einen Freund, der den Sprung bereits geschafft hatte, und der hat mich aufgeklärt: Diese Haltung sei auf Victor Adler zurückzuführen, der immer gesagt habe, Intellektuelle müsse man dreimal wegschicken, und wenn sie dann noch immer zur Mitarbeit bereit seien, dann dürfe man sie behalten. Unter denen, die von Victor Adler dreimal weggeschickt worden waren, gab es denn auch eine ganze Reihe von Leuten, die später erbitterte Feinde der Partei wurden, wie zum Beispiel der bekannte Journalist Dr. Wengraf, der im Neuen Wiener Journal Woche für Woche seine Tiraden gegen die Sozialdemokraten losließ. Er war ein sehr begabter Literat, aber Victor Adler hatte ihn nicht haben wollen, und das hat ihn wohl in seinem Stolz maßlos gekränkt.

      Das Gespräch mit meinem Freund Baczewski, der aus einem großbürgerlichen Hause kam, hat mir wieder Mut gemacht. Es gehört zu den Paradoxien des politischen Lebens, dass er, dem ich meine Standhaftigkeit verdankte, derjenige war, an dessen Ausschluss aus der Sozialistischen Arbeiterjugend ich