Das Leben sein lassen. Thilo Gunter Bechstein

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Название Das Leben sein lassen
Автор произведения Thilo Gunter Bechstein
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783961451401



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Uhr in den Pässen etwaiger Pilger.

      Das muss für die ankommenden Pilger die gängigste Zeit sein, sich einen Stempel zu holen. Pilger starten meist nachts gegen ein Uhr, um am Morgen rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen und vor allem den wichtigen Stempel in ihren Pass zu erhalten. Daran hätte ich denken müssen. Dann wäre ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, zu einer so unchristlichen Zeit wie fünfzehn Uhr, kurz vor Feierabend, noch einen Pilgerstempel haben zu wollen. Eben Pech gehabt!

      „Der Stempel ist nur eine Randglosse. Du aber gibst ihm eine Bedeutung, die dich von dem abbringt, was du üben und erfahren sollst: das Leben sein zu lassen. Anstatt zu akzeptieren, hast du einen enormen Widerstand aufgebaut, der sich in Ärger und Wut in dir zeigt. Du hast die bischöfliche Bürokratie zum Teufel gewünscht, anstatt ihr zu danken für die Gelegenheit, Gelassenheit üben zu dürfen.

      Mit Zorn im Bauch hast du nun den falschen Weg gewählt. Im Zustand der Abwehr kannst du den gesuchten und dir bestimmten Weg nicht finden, darüber solltest du nachdenken. Du bist heute so etwas wie ein sturer Bock und um den in dir aufzuweichen, könnte etwas Regen nicht schaden.“

      „Ich habe zwar Königsbrunn auf einigen Umwegen erreicht, aber den verdammten Radweg nicht gefunden. Was du mir da unterschiebst, kann ich im Moment nicht annehmen und dass es jetzt auch noch anfängt zu regnen, finde ich … beschissen! Jetzt lasse ich dich erst mal sein. Ich habe alle Hände voll zu tun, mein Fahrradcape festzuhalten und mich gegen den Wind und den Regen nach Bobingen hin zu kämpfen. Dort soll es einen Bahnhof geben und sicher auch eine Bahn, die mich weiterbringt.“

      Meine Seele hat die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen erkannt und lässt mich stumm gewähren. Ich fahre trotzig die restlichen zwanzig Kilometer von Bobingen bis Landsberg mit dem Zug. Denen werde ich es zeigen, doch ich weiß nicht, wer „denen“ ist. Unterwegs im Zug rufe ich eine Pension an, die in meinem Pilgerführer verzeichnet ist. Ich habe Glück und bekomme ein Zimmer in Pitzling. Dorthin muss ich vom Bahnhof Landsberg aus bei strömendem Regen noch runde sechs Kilometer strampeln und komme ziemlich aufgeweicht an Leib und Seele dort an. Ein Lichtblick ist die Verheißung der Wirtin, dass es heute Abend Sauna geben wird, die ich nach dem Kochen eines Abendessens dann auch ausgiebig genieße. Damit kann ich wenigstens dem dringenden Bedürfnis abhelfen, alles auszuschwitzen, womit ich in mir im Hader bin.

      Danach will ich mich für die heutigen Strapazen mit einem Bier belohnen, das mir ein Getränkeautomat anbietet. Aber statt eines Biers ziehe ich eine Flasche Wasser heraus.

      „Ätsch, falsch gegriffen!“

      Dumm ist nur, dass ich offenbar die Orientierung verloren habe und auch beim zweiten Versuch nur Wasser ziehe. Für einen dritten reicht mein Kleingeld nicht mehr. Gehe ich also mit Wasser ins Bett.

      Vielleicht sollte ich endlich zur Klarheit meines Anliegens zurückfinden, deute ich im Bett liegend die Fehlkäufe, die jetzt auf meinem Nachttisch stehen. Offensichtlich bin ich bereits in einem vernebelten Zustand und brauche dazu kein Bier mehr. Diesen Hinweis meiner Seele versuche ich jetzt zu verstehen und zu akzeptieren.

      Vor dem Einschlafen taucht eine Erinnerung an ein Erlebnis auf dem Jakobsweg in mir auf, das mich sehr beeindruckt hat. Ich sehe noch den roten Mohn vor mir, rieche den üppig blühenden gelben Ginster auf dem Weg über Estella nach Villamayor. Dort habe ich am Rotweinbrunnen der Bodega Irache eine Zwischenpause eingelegt, um mich zu stärken. Anschließend genehmigte ich mir einen Viertelliter des kostenlos abzufüllenden leichten Rotweins.

      Bei meiner Ankunft an der Bodega musste ich warten, bis eine Schar von Touristen wieder in den Bus eingestiegen war. Sie hatten sich, nach meinem Gefühl unberechtigterweise, mit dem kostenlosen Wein ihre mitgebrachten Flaschen und Behälter gefüllt. Die dahinter zu vermutende Raffgier hat mich ziemlich geärgert.

      Am Nachmittag bin ich in Villamayor angekommen und habe in einer Herberge Quartier gefunden, die von einer freikirchlichen Gemeinde aus den Niederlanden betrieben wurde. Ich glaube, dass mich weniger das Beten vor der Abendmahlzeit und die Meditation beeindruckten, sondern vielmehr ein kleines Heftchen, das mir in die Hand gedrückt wurde. Es war das Johannesevangelium und es verkündete mir auf der ersten Seite, dass das Licht alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.

      „Du hast verstanden, dass das göttliche Licht gemeint war, und dieses Verstehen ging über deinen Verstand bis tief in dein Herz. An diesem Punkt deines Weges hatte sich für dich etwas verändert.“

      „Ich kann das mit Worten nur unzureichend beschreiben. Es war eine tiefe Erkenntnis, sogar eine Gewissheit, dass auch ich für dieses Licht bestimmt bin, dass ich selbst Teil dieses Lichtes bin und dass es eigentlich nur darum geht, dies zu erkennen.“

      „Das Erkennen ist die eine Seite der Wahrheit. Die andere Seite ist es, dieses Erkennen zu leben, das Licht in deinem Dasein sichtbar werden zu lassen. Fühle, ob dies die Bestimmung ist, zu der dich auch dieser Pilgerweg führen will.“

      Ich weiß es, und ich fühle es jetzt sehr deutlich. Mit diesem Fühlen ist eine Gewissheit verbunden, die mich ruhig und sicher sein lässt. In diesem Frieden kann ich mich leicht in den Schlaf gleiten lassen.

      Am Morgen wache ich erfrischt und gestärkt auf. Der Regen kann meinen unerschütterlichen Willen vorwärts zu kommen nicht aufhalten. Ich frühstücke in aller Ruhe und verabschiede mich von der Pension in der festen Absicht, heute Mittenwald zu erreichen. Das ist natürlich nicht mit dem Fahrrad möglich. Aber anstatt irgendwo herumzusitzen und zu warten, dass der Regen aufhört, kann ich auch die Bahn benutzen. Zudem habe ich über die Nachrichten im Fernsehen mitbekommen, dass auch am Alpenrand schwierige Wetterverhältnisse herrschen und der Straßenverkehr davon beeinträchtigt wird.

      Da es beim Losfahren in Pitzling vorübergehend zu regnen aufgehört hat, bin ich guter Laune. Die verlässt mich auch nicht, als das Tropfen wieder einsetzt. Heute kenne ich mein Ziel. Ich muss allerdings anhalten, mir den knallgelben Regenponcho überstülpen und mich gegen den Wind, der sich boshaft in ihm verfängt, durch einen langgestreckten Park vorwärts kämpfen. Den Bahnhof erreiche ich nach einer halben Stunde, in der ich trotz Poncho ganz schön durchnässt bin. Es gibt einen Zug nach Mittenwald, den ich über München-Pasing erreiche. Mir wird jetzt bewusst, wie nah ich an München bin.

      Auch die Fahrt nach Mittenwald dauert nicht lange. Kurz nach Mittag steige ich dort aus dem Zug. Jetzt regnet es nicht mehr, es gießt in Strömen. Da muss ich einfach eine Weile abwarten. Ein Kaffee wärmt mich auf, und der Regen lässt tatsächlich etwas nach. Nachdem ich mich nach dem Weg zur Jugendherberge erkundigt habe, strample ich die acht Kilometer bergauf. Dabei werde ich doppelt durchfeuchtet: unter dem Cape vom Schweiß, den mir die stattliche Steigung aus allen Poren treibt, und darüber vom Regen, der ununterbrochen auf mich niedergeht. Telefonisch hatte ich mich bereits vergewissert, dass ein Bett für mich frei ist. Beim Einchecken lege ich mich noch nicht fest, ob ich eine oder eventuell zwei Übernachtungen benötige. Die Wetteraussichten sind nicht sehr rosig, es ist außerdem lausig kalt geworden.

      Am Abend sehe ich im Wetterbericht, dass der Brennerpass eingeschneit ist. Endlosstau durch die vielen Autos mit Sommerreifen. „Wer denkt schon Ende Mai an Schnee? Na, vielleicht bleibe ich doch zwei Tage hier.“

      In der Jugendherberge frühstücke ich exzellent. Ein leckeres Buffet lädt mich zum Zulangen ein. In dem Bewusstsein, nicht gleich wieder etwas zu essen zu bekommen, zieht sich mein Frühstück hin.

      Dabei versuche ich, mir Klarheit darüber zu verschaffen, was ich tun soll: Weiterfahren oder hierbleiben? Mein Bauch sagt mir weiterfahren, also wieder mit der Bahn.

      Doch zuvor will ich mich von meinen durchgeweichten, in Auflösung begriffenen Sportschuhen verabschieden, die für Sonne und Wärme gedacht sind und den Dauerregen nicht aushalten. Ich kaufe mir in Mittenwald für teures Geld ein paar grundsolide leichte Berg-Halbschuhe. Damit fühle ich mich sofort wohler und überlasse dem Schuhgeschäft das Entsorgen der alten Turnschuhe. Sie haben ihren Dienst getan.

      Meine eiskalten Finger am Lenker erinnern mich daran, dass ich bei der Alpenüberquerung noch ein paar hundert Meter höher hinaufkomme. Da ist die Luft nicht nur dünner, sondern auch kälter, vermutlich deutlich kälter als jetzt vor dem Bahnhof in Mittenwald. Ich mache mich auf die