Tödlicher Orient. Inka Claussen

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Название Tödlicher Orient
Автор произведения Inka Claussen
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960085683



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um sich zu der Stelle, wo es einen Zugang zu einem Gewölbe oder Tunnel geben muss, durchzuschlagen. Geduckt und ängstlich nach rechts und links schauend, sich teilweise vor Vorhängen versteckend, schleicht sie sich davon. Entsetzt muss sie mit ansehen, wie Männer, Frauen und Kinder ohne Rücksicht auf Alter oder gesellschaftlichen Stand wie Vieh zusammengetrieben und mit Stricken bündelweise gefesselt werden. Schon beginnen sich die ersten Soldaten dem Inventar zuzuwenden. Reliquien werden zerschlagen, wertvolle Gegenstände auf dem Boden zertrümmert, andere Kostbarkeiten ergriffen und unter der Soldateska verteilt.

      Wie durch ein Wunder erreicht sie unbehelligt die Südwand neben der Gebetsstätte. Jetzt muss sie den Durchlass finden. Nur wie? Schon nähern sich die Geräusche der Zerstörung und Verwüstung. Wenn sie jetzt entdeckt wird, ist es zu spät. Dann ist der Schatz verloren. Für immer. Die Soldateska wird auch auf eine vermeintlich Schwangere keine Rücksicht nehmen. Ihre Hand tastet an der Wand entlang. Irgendwo muss doch etwas sein, das ihr den Zugang ermöglicht. Da schlägt auch schon ein reich verziertes, wunderschönes Kristallglas an die Wand direkt neben ihr und zerspringt in alle Einzelteile. Diese Barbaren denkt sie. Sie muss es schaffen. Sie darf nicht entdeckt werden.

      Diese Jahrhunderte alte unglaubliche Kostbarkeit, sie könnte in wenigen Minuten zerstört sein. Das darf nicht geschehen. Weiter. Nur weiter. Nicht aufgeben. Da! Eine Hand scheint nach ihr zu greifen. Ihr Herz setzt für einige Sekunden zu schlagen aus. Schließlich atmet sie auf: Es war nur ein Schatten. Verzweifelt tastet sie die Wand ab, immer hektischer werden ihre Bewegungen. Wieder ein Schatten. Doch dieses Mal kommt er näher. Alles ist verloren. Dann: ein Wunder! Ein Teil der Wand öffnet sich unvermittelt und als eine Hand schon nach ihr greifen will, kann sie in die Dunkelheit eintauchen, den Schatz der Menschheit immer noch unter ihrem Kleid verborgen. Die Tür schließt sich wieder.

      »Nie, niemals soll dieser Schatz von Andersgläubigen oder von Männerhand wieder an das Tageslicht gebracht werden!«, murmelt sie, noch immer bleich vor Schreck vor sich hin. Bei diesen Worten legt sie ihre Hände sanft auf die geheimnisvolle Kostbarkeit unter ihrem Gewand.

      Dann verschwindet sie mit dem Schatz in der Dunkelheit.

KONSTANTINOPEL 1910

       Kapitel 1

      Was war das? Befindet er sich auf einem schwankenden Schiff? Oder träumt er nur? Schlaftrunken richtet sich Otto von Wesenheim in seinem Bett auf. Ihm ist schwindlig. Doch zu viel Alkohol gestern Abend beim Empfang hier in der Kaiserlichen Botschaft? Da ist es schon wieder, dieses Rucken und dann das Knarzen der Wände.

      Plötzlich schießt es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Ein Erdbeben! Konstantinopel ist ja ein besonders gefährdetes Gebiet. Schnell raus aus dem Bett und hinaus ins Freie, so seine spontane Reaktion. Wieder wackelt das Gebäude, bewegen sich die Wände und Otto schwankt wie auf einem großen Dampfer im Sturm, als er in der Dunkelheit, so schnell es eben geht, die Treppe vom zweiten Obergeschoss hinunterrennt. Er kennt den Weg seit nunmehr fast zwei Jahren schon quasi blind. Jeden Abend und jeden Morgen nimmt er ihn. Na ja, zumindest fast jeden.

      Im ersten Stock angekommen, hört er ein fürchterlich lautes Krachen. Otto zuckt zusammen. Der schreckliche Lärm kommt aus dem prächtigen Festsaal. Er ist mit Stuckornamenten und einer mit plastischen Hängezapfen verzierten, teilvergoldeten, schweren Kassettendecke ausgestattet. Die Vertäfelungen sind in tiefroten Mahagonifarben gehalten, während die Wände mit rötlichgelbem Stuckmarmor bedeckt sind.

      Als Otto die Tür öffnet, sieht er im hellen Mondschein das Malheur. Einer der drei großen bronzenen Kronleuchter, Augenfang des Festsaals, liegt auf dem Boden und um ihn herum Tausende von Kristallsplitter. Sie sind erst vor kurzem kontrolliert und gereinigt worden. Dabei hat niemand die anscheinend defekte Aufhängung bemerkt. Verdammte Schlamperei, denkt Otto von Wesenheim wutentbrannt. Aber da ist doch noch mehr, oder? Otto glaubt unter dem zerborstenen Leuchter etwas liegen zu sehen. Einen Menschen?

      Er geht näher an den heruntergefallenen Kronleuchter heran und macht erschrocken einen Schritt zurück. Das kann doch nicht sein, denkt er sich. Aber die Figur, die Kleidung, das blutige, zerschnittene Gesicht. Jetzt macht er einen Schritt näher heran. Es ist der Kanzler Hermann von Darius!

      Sehr seltsam, schießt es ihm durch den Kopf. Was hat von Darius hier denn noch zu suchen gehabt?

      Und nun diese Bescherung, alles nur wegen dieses verdammten Erdbebens. Doch im Moment ist es wieder ruhig und friedlich. Tatsächlich hielt das Beben nur kurze Zeit an, aber es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor. Otto beugt sich nieder, um zu sehen, ob von Darius doch noch lebt. Aber das wäre ein wahres Wunder, denn der Kronleuchter wiegt schon etliche Kilo. Und in der Tat, als Otto zunächst zögernd, die aufkommende Übelkeit herunterschluckend, seine rechte Hand an der ausgelaufenen Hirnmasse vorbei an den Hals des Kanzlers legt, stellt er fest, was er angesichts des Zustandes des Körpers bereits vermutet hat: Dieser Mann ist tot.

      Ihm wird nun wirklich schwindlig. Sein Kreislauf droht zu kollabieren. Einen Augenblick muss er, auf dem Boden sitzend, verweilen, dann kann er sich wenigstens hinknien, ohne dass ihm gleich schwarz vor Augen wird. In diesem Augenblick bleibt sein Blick an etwas Weißem, Blutverschmierten hängen. Aus der Anzugjacke des Kanzlers ragt etwas hervor, das wie ein Brief aussieht. Ohne recht nachzudenken, greift Otto mit der linken Hand danach und zieht das Papier heraus. Tatsächlich! Ein Brief mit arabischen Zeichen auf dem Umschlag. Mittlerweile sind Rufe und Schritte im Hintergrund zu vernehmen. Otto schaut sich verstohlen um und versteckt den Umschlag unter seinem Schlafrock.

      In diesem Moment treten auch schon die ersten Mitarbeiter der Botschaft in den Festsaal und erkennen zunächst Otto von Wesenheim. »Herr Legationsrat, alles in Ordnung?«, ruft der erste Sekretär Franz Wohlleben voller Sorge, als er seinen am Boden knienden Vorgesetzten erspäht.

      »Mit mir schon, Wohlleben. Aber schauen Sie hier. Unseren Herrn von Darius hat es erwischt.«

      Franz Wohlleben erstarrt. Als er das ganze Ausmaß der Katastrophe erkennt, weicht alle Farbe aus seinem Gesicht, ihm wird schwindlig und er muss sich an der Wand abstützen. Seine Muskeln verkrampfen. Vor Übelkeit muss er sich übergeben.

      Otto von Wesenheim zögert einen Augenblick, gibt dann aber, wie von ihm erwartet, klare Anweisungen: »Holen Sie augenblicklich den Botschaftsarzt! Gehen Sie mit allen verfügbaren Leuten durch das gesamte Gebäude! Stellen Sie die entstandenen Schäden fest und ob es noch weitere Opfer zu beklagen gibt! Und, Wohlleben, wischen Sie Ihr Malheur weg!«

      Schon nach kurzer Zeit erhält er die Meldung, dass glücklicherweise keine weitere Person ernsthaft verletzt worden ist oder gar ihr Leben verloren hat. Auch die Schäden am Gebäude der Botschaft scheinen, soweit man das in der Kürze der Zeit feststellen kann, eher gering zu sein.

      Trotz der Gefahr von Nachbeben begibt sich Otto von Wesenheim, nachdem er sich noch einmal umgeblickt hat, wieder zurück in sein Gemach im zweiten Obergeschoss, um sich endlich die blutverschmierten Hände zu waschen.

      In seinen privaten Gemächern schließt er erst einmal die Augen. Ihm ist wieder schwindlig, kein Wunder nach dem eben Erlebten. Er atmet tief durch, lehnt seinen Kopf zurück und greift nach seinem Wasserglas. Doch das liegt in kleine Glassplitter zerbrochen auf dem Boden. Das sind unwirkliche Minuten gewesen, wie in einem Traum, einem Albtraum. Doch dann hat er sich wieder gefasst.

      Als er ganz in Gedanken seinen Schlafrock ablegt, um sich anzukleiden, fällt der Umschlag auf den Boden. Ach ja, denkt Otto, den habe ich schon ganz vergessen und steckt ihn beiläufig in die Tasche seines Gehrocks. Der muss warten, denn Otto ist nach diesem Schock fest entschlossen, etwas zu tun, was er sonst nach einem festen Rhythmus nur einmal in der Woche heimlich im Schutze der Dunkelheit der Nacht macht: seine Ayşe besuchen.

      Seit seiner Scheidung vor nun fast genau zehn Jahren hat Otto so einige interessante Frauenbekanntschaften gemacht, aber keine der Damen ist mit der faszinierenden Ayşe vergleichbar. Für Otto bedeutet Ayşe orientalische Verführung und Mystik pur.

      Noch innerlich aufgewühlt von den schrecklichen Ereignissen sehnt er sich förmlich nach der wohligen Geborgenheit in ihren Armen und er beschließt, sich sofort zu ihr