Es ist kompliziert. Rachel Held Evans

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Название Es ist kompliziert
Автор произведения Rachel Held Evans
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783865069146



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      Tatsächlich können unsere Sünden – Hass, Furcht, Gier, Eifersucht, Lust, Materialismus, Stolz – zuweilen so konkrete Formen in unserem Leben annehmen, dass wir sie in den Formen und Grimassen der grotesken Wasserspeier über unseren Kathedralentüren wiedererkennen. Und diese Sünden stimmen ein in einen Chor – man könnte auch sagen, in die Legion – der Stimmen, die in einen immerwährenden Kampf mit Gott verstrickt sind, bei dem es um das Anrecht über unsere Identität geht, Stimmen, die uns davon überzeugen wollen, dass wir zu ihnen gehören, dass sie das Recht haben, uns zu benennen. Wo Gott die Getaufte Geliebte nennt, nennen die Dämonen sie Abhängige, Schlampe, Sünderin, Fehler, fett, wertlos, Hochstaplerin, Versagerin. Wo Gott sie Kind nennt, locken die Dämonen mit reich, mächtig, hübsch, wichtig, religiös, geschätzt, kultiviert, richtig. Satan begann seine Schmeicheleien nicht aus Zufall, indem er sagte: „Wenn du der Sohn Gottes bist …“, als er Jesus nach seiner Taufe in Versuchung führen wollte. Wir alle sehnen uns danach, dass uns jemand sagt, wer wir sind. Der größte Kampf im Leben eines Christen ist es, den Namen, den Gott für uns hat, anzunehmen, zu glauben, dass wir geliebt sind, und zu glauben, dass das genug ist.

      Ob sie nun aus uns herauskommen oder von außen, ob sie als reale Persönlichkeiten auftreten oder als Systeme, die um unsere Treue wetteifern: Dämonen sind so wirklich wie die rivalisierenden Identitäten, die von uns Besitz ergreifen wollen. Aber anstatt sie aus unseren Kirchen zu verbannen, neigen wir dazu, sie hereinzubitten, wo sie sagen, dass wir Kinder Gottes sein werden, wenn …

      wir die Sucht besiegen.

      wir die Lehrmeinung unterschreiben.

      wir im Kinderdienst aushelfen.

      wir unseren Scheiß zusammenkriegen.

      wir unseren Zehnten bezahlen.

      wir uns an die Regeln halten.

      wir glauben, ohne zu zweifeln.

      wir verheiratet sind.

      wir heterosexuell sind.

      wir religiös sind.

      wir gut sind.

      Aber „die erste Handlung im christlichen Leben“, sagt Schmemann, „ist eine Entsagung, eine Herausforderung“. In der Taufe steht der Christ nackt und ohne Scham vor all diesen Dämonen – all diesen Impulsen und Versuchungen, Sünden und dem Versagen, den leeren Verkaufsversprechen und seltsamen Etiketten – und sagt: „Ich bin ein geliebtes Kind Gottes, und ich entsage allem und jedem, der etwas anderes behauptet.“12 In manchen orthodoxen Traditionen spuckt der Bekehrte tatsächlich dem Bösen ins Gesicht, bevor er untergetaucht wird.

      Das zu tun ist mutig und trotzig. Und Christen sollten es viel häufiger tun, wenn nicht in unseren Taufen, dann in unserer Erinnerung an die Taufe. Oder vielleicht immer, wenn wir duschen.

      Zusätzlich dazu, dass sie Gottes Macht über Mächte und Gewalten erklären, erklären die ältesten Taufriten auch Gottes Macht über den Tod. Viele der ersten Taufbecken hatten die Form von Särgen. Taufen fanden am Ostersonntag kurz vor Sonnenaufgang statt, um Christi Triumph über den Tod zu gedenken. Das Hinabsteigen des Christen in das Wasser stellt ein Aufgeben, einen Tod des alten Lebensstils dar. Sein Auftauchen symbolisiert die Auferstehung, einen Neuanfang.

      „Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind?“, schrieb der Apostel Paulus den Römern. „Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben“ (Römer 6,3+4). Cyril von Jerusalem sagte den Frischgetauften: „Durch diese Handlung seid ihr gestorben und geboren worden, und für euch war das rettende Wasser Grab und Mutterschoß zugleich.“ Luther beschreibt die Taufe als das Ertränken des alten, sündigen Selbst, von dem er sagt, dass es „ein mächtig guter Schwimmer“ sei. Und der argentinische Prediger Juan Carlos Ortiz ist bekannt dafür, eine verstörende Taufformel zu verwenden: „Ich töte dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und ich gebäre dich in das Reich Gottes hinein, in seinen Dienst und zu seiner Freude.“13

      Tod und Auferstehung. Das ist die Unmöglichkeit, um die herum alle anderen Unmöglichkeiten des christlichen Glaubens kreisen. Die Taufe erklärt, dass es Gottes Sache ist, Totes wieder lebendig zu machen. Wenn du also in Gottes Angelegenheiten unterwegs sein willst, stell dich besser darauf ein, Gott bis in die hinterletzten Ecken dieser Welt zu folgen, in die verkrusteten, wo die Erde verbrannt und man selbst bei der Ankunft schon tot ist – auch in die Ecken deines eigenen Herzens –, weil Gott genau dort arbeitet, weil er genau dort gärtnert. Die Taufe erinnert uns daran, dass es keine Leiter gibt, auf der man Richtung Heiligkeit klettern kann, keinen Selbstverbesserungsplan, dem man einfach nur folgen muss. Es gibt nur Tod und Auferstehung, wieder und immer wieder, Tag für Tag, während Gott in unsere tiefsten Gräber hineingreift und uns unserem Stolz, unserer Gleichgültigkeit, unserer Angst, unseren Vorurteilen, unserer Wut, unseren Verletzungen und unserer Verzweiflung abringt mit derselben Kraft, die Jesus von den Toten auferweckte. An den allermeisten Tagen weiß ich nicht, was ich schwerer glauben kann: dass Gott die Gehirnfunktionen eines Mannes, der bereits drei Tage lang tot war, reanimiert hat oder dass Gott all die schönen Dinge, die wir getötet haben, wieder ins Leben zurückholen kann. Beides scheint mir ziemlich unwahrscheinlich.

      Dieser Tage haben alle so ihre Meinung, warum Menschen die Kirche verlassen. Manche wollen das Problem lösen, indem sie das Christentum gefälliger machen – du weißt schon, den ganzen seltsamen, mystischen Kram von wegen Sünde, Dämonen und Tod und Auferstehung weglassen und durch Selbsthilfebücher, Politik, theologische Systeme oder hippe Kaffeebars ersetzen. Aber manchmal glaube ich, was die Kirche am meisten braucht, ist die Wiederentdeckung ihrer seltsamen Seiten. Es hat wenig Sinn, sie einer Typberatung zu unterziehen, wenn sie immer das seltsame, ungelenke Mädchen sein wird, das nur aufgrund einer Wette zum Abschlussball eingeladen wird.

      Beim Taufritual spielten unsere Vorfahren die bizarre Wahrheit der christlichen Identität durch: Wir sind Menschen, die ganz und gar entblößt vor dem Bösen und dem Tod stehen und diesen erklären, dass sie der Liebe gegenüber machtlos sind.

      Nichts daran ist normal.

      VIER

      Chubby Bunny

       Es muss wunderbar sein, 17 zu sein und alles zu wissen.

      – Arthur C. Clarke

      Am Tag nach dem Amoklauf auf der Columbine Highschool bin ich zur Schule gegangen, obwohl die meisten meiner Klassenkameraden zu Hause blieben.

      „Es ist die perfekte Gelegenheit, Zeugnis abzulegen“, sagte ich meiner Mutter auf dem Weg zum Bus, schon halb aus der Tür. „Alle haben Angst.“

      Die Rhea County Highschool in Dayton, Tennessee, ist genau 2121 Kilometer von der Columbine Highschool entfernt, wo tags zuvor, am 20. April 1999, Eric Harris und Dylan Klebold zwei Sturmgewehre, 99 Sprengkörper und zwei Schrotflinten unter ihren schwarzen Trenchcoats hervorzogen, um ein Dutzend ihrer Mitschüler und einen Lehrer umzubringen, bevor sie sich selbst töteten. Ich hatte in den Nachrichten gehört, manche der Opfer seien gefragt worden, ob sie an Gott glaubten. Während also das erste bläuliche Morgenlicht durchs Busfenster fiel, betete ich, Gott möge mir im Falle eines befürchteten Trittbrettfahrerszenarios, das an jenem Morgen so vielen Eltern, Schülern und Lehrern Sorgen machte, die Stärke verleihen, zu meinem Glauben zu stehen.

      Als Oberstufenschülerin und Präsidentin des Bibelclubs hielt ich es für meine Pflicht, die Erweckungsbewegung anzuführen, die von der Tragödie unter den Schülerinnen und Schülern der Highschools im ganzen Land ausgelöst werden würde, wie ich ganz sicher glaubte. Ich bereitete mich innerlich auf eine Erweckung vor, seitdem wir zwei Jahre nach meiner Taufe nach Tennessee gezogen waren. Ein Plan, der jedoch nicht unwesentlich von der Tatsache erschwert wurde, dass sich beinahe jeder in Dayton ohnehin schon als Christ bezeichnete (immerhin war die Stadt Schauplatz des berühmten Scopes-Affenprozesses,