Letzter Tanz auf Sankt Pauli. Claudius Crönert

Читать онлайн.
Название Letzter Tanz auf Sankt Pauli
Автор произведения Claudius Crönert
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839269305



Скачать книгу

Sie lebten in der Provinz, und dorthin kam einfach nichts, was modern war, es sei denn, jemand wie Christian oder ihr Kunstlehrer Jessen wurde durch einen Zufall dorthin verschlagen. Aber dann blieben sie fremd in ihrer neuen Umgebung.

      Sie hätte Christian gerne gefragt, ob seine Freunde auch nicht zur HJ gingen. Im Abteil war das nicht möglich. Sie sprachen auch nicht weiter über die Musik, sondern über unverfängliche Dinge, und auch das so leise wie alle anderen.

      Als sie in Rissen ankamen und sich vorm Bahnhof die Hand reichten, schlug sich Christian mit der flachen Hand an die Stirn: »Jetzt haben wir deinen Einkauf vergessen!«

      Sie spürte, wie ihr zum zweiten Mal an diesem Nachmittag die Röte ins Gesicht schoss. Ganz am Ende war ihre Lüge doch noch aufgeflogen. »Äh …«, entfuhr es ihr. Sie riss sich zusammen. »Das mache ich hier in der Gegend.«

      »Soll ich mitkommen?«

      Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und eilte davon. Sofort danach pochte das Gefühl, einen verkorksten Abschied hingelegt zu haben, in ihr. Weder hatte sie sich bedankt noch sonst irgendwie gezeigt, wie beeindruckt sie war. Sowieso war es fraglich, wie sie in der Schule, vor den Augen und Ohren der anderen, an diesen Nachmittag anknüpfen sollten. Es gab keine Worte dafür. Sie zumindest hatte keine.

      Als sie um die Ecke bog, wurde sie langsamer und ließ die Sorgen fortziehen. An ihre Stelle trat die Musik, die Melodien und der Rhythmus, die in ihren Kopf zurückkehrten. Sie wünschte sich, sie würde sie nie vergessen, selbst wenn sie niemandem davon je erzählen könnte und auch wenn sie in ihrem ganzen Leben keinen Swing mehr hören würde. Dieser Nachmittag war außergewöhnlich gewesen. Sie ging besser nicht davon aus, dass er sich wiederholen würde.

      Sechs

      Kriminalrat Tessow hatte sein Büro, mit Hakenkreuzfahne und übergroßem gerahmtem Foto von Reichsinnenminister Frick, im zweiten Stock des Polizeigebäudes an der Stadthausbrücke. Weiter unten saß die Gestapo, die außerdem im Keller Zellen eingerichtet hatte. Neben Tessow residierten die leitenden Beamten der anderen Kripo-Abteilungen, alle mit Besprechungstischen, Porzellanaschenbechern und großen Fenstern zur Straße. Im obersten Stockwerk, wo die Kommissare saßen, ließ sich der Kriminalrat praktisch nie sehen. Wollte er einen seiner Untergebenen außerhalb der morgendlichen Lage sprechen, ließ er ihn zu sich rufen. Gerade in letzter Zeit, als mehrere der Männer Einberufungsbescheide erhalten hatten, war das öfter passiert. Kriminalrat Tessow besaß genügend Respekt vor seinen Mitarbeitern, um einen Kommissar, bevor er sich für dessen Verbleib im Dienst einsetzte, zu fragen, ob er das überhaupt wollte. Im Falle einer Zustimmung schrieb er einen Brief an das Wehrmachtskommando, legte dar, warum ausgerechnet auf diesen Beamten nicht verzichtet werden konnte, bat um Rückstellung und unterzeichnete mit Deutschem Gruß. In der Regel wurden diese Bitten abschlägig beschieden. Die Kollegen aber sahen das Bemühen ihres Vorgesetzten und empfanden Dankbarkeit. In der Grundausbildung taten sie sich dann hervor, weil sie bereits schießen konnten. Nach einigen Wochen wurden sie verlegt, seit Beginn des Russlandfeldzuges in der Regel an die Ostfront.

      Als Kriminalrat Tessow nun die Tür zu ihrem Flur öffnete und eintrat, blickten die Kommissare erstaunt auf. Er war ein Herr von 60 Jahren mit länglichem Habichtsgesicht und Nickelbrille, sein dünnes weißes Haar war streng nach hinten gekämmt. Trotz der spätsommerlichen Wärme trug er einen Dreiteiler mit einfarbiger Krawatte. Sein Parteiabzeichen steckte am Revers, über der Weste hing seine goldene Uhrenkette. Hannes Krell fragte sich, was dieser Besuch wohl zu bedeuten hatte, und ging davon aus, dass er eine schlechte Neuigkeiten verhieß, also weitere Einberufungen. Krells Nacken spannte sich an. Er musste an Wiebke denken und stellte sich vor, wie sie eine solche Nachricht aufnehmen würde. Auch die Kollegen schienen nichts Gutes zu erwarten. Sie gaben sich besonders geschäftig, taten so, als durchforsteten sie Akten auf der Suche nach einem übersehenen Hinweis oder als läsen sie konzentriert. Zwei von ihnen zündeten sich beinahe gleichzeitig eine Zigarette an, die Geräusche der Rädchen am Feuerzeug, die sich schnell über die Feuersteine drehten, gingen ineinander über. Kriminalrat Tessow begann eine Runde durch die Abteilung. Er blieb bei Hagemüller stehen, stellte mit vernehmlicher Stimme zwei Fragen zu Fortschritten beim laufenden Fall des Kollegen, wartete die Antwort ab, nickte befriedigt, sagte ein aufmunterndes Wort und zog weiter. Kam zu Idstein, wiederholte die Prozedur. Grüßte den Assistenten Schubert, der aufstand und den rechten Arm hochriss, hielt vor Krell und wollte wissen, wie es bei ihm voranging.

      Krell wiederholte, was er bereits am Morgen in der Lagebesprechung gesagt hatte, dass man im Falle Limba nach jetzigem Stand von einem Mord auszugehen habe. Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin lägen allerdings immer noch nicht vor.

      Kriminalrat Tessow stand vor ihm und schien nachzudenken. Im Saal herrschte Stille. Tessow stützte die Fingerkuppen auf Krells Schreibtisch und beugte sich vor. »Angesichts der Personalsituation«, erklärte er, »sind wir gezwungen, uns auf die wichtigen Fälle zu beschränken. Das gilt ab sofort. Ich hoffe, Kommissar Krell, Sie haben mich verstanden.«

      »Die wichtigen Fälle«, wiederholte Krell. »Selbstverständlich, Herr Kriminalrat.«

      Tessow trat zwei Schritte zurück, sodass alle ihn sehen konnten, und hielt wie ein alter Soldat die Hände an die Hosennaht: »Meine Herren, ich wünsche allseits einen erfolgreichen Tag.« Er schlug die Hacken zusammen, drehte sich um und verschwand wieder.

      Krell sah ihm nach. Nach diesem Auftritt hatte er mehr Fragen als Antworten. Er schaute zu Schubert hinüber, der seinen Blick aber nicht erwiderte. In der Mittagspause fragte er die Kollegen, wie sie Tessows Anweisung verstanden hatte, musste aber feststellen, dass weder Hagemüller noch Idstein oder ein anderer die Worte des Kriminalrates überhaupt mitbekommen hatten. Tessow hatte zwar etwas leiser gesprochen, geflüstert hatte er aber keineswegs.

      Krell wiederholte seine Frage an die Kollegen: »Sie haben das wirklich nicht vernommen, meine Herren? Die wichtigen Fälle, das hat er eindeutig gesagt.«

      Die Kollegen blieben bei ihrer Antwort und schauten ihn an, als redete er wirres Zeug oder hätte Gespenster gesehen. Krell wechselte das Thema. Er zweifelte dennoch nicht an sich, er hatte die Worte des Kriminalrates eindeutig gehört. Aber warum nur er? Schubert war nicht da. Er würde ihn fragen, fand aber, dass das Zeit hatte. Es war Sonnabend, ein angenehmer Nachmittag mit klarem Himmel, ein paar kräftig weißen Wolken darauf und leichtem Wind. Milde Luft kam durch das offene Fenster. Ob der Fall des toten Limba in Tessows Sinne wichtig war, konnte er einschätzen, aber er war sicher nicht so bedeutend, dass Krell dafür auf einen pünktlichen Feierabend verzichtet hätte. Wenn er es recht bedachte, hatte Kriminalrat Tessow ihm auf seine etwas umständliche Art wohl genau das mitteilen wollen, dass er besser keine weiteren Überstunden anhäufte. Im Falle einer Einberufung würden sie eh ersatzlos verfallen. Man durfte es gemächlich angehen, solange das noch möglich war.

      Am Sonntag traf Krell seinen Freund Bernd Euler, der am Heiligengeistfeld bereits auf ihn wartete. Männer in abgetragenen Anzügen, mit fleckigen Hüten oder ausgeblichenen Elbseglermützen zogen in Richtung Stadioneingang an ihnen vorbei. Euler und er kamen, wann immer es ihnen möglich war. Der Fußball hatte sich in den acht NS-Jahren nur wenig verändert. Es gab keine Juden mehr, und mancher Spieler war eingezogen und durch einen ersetzt worden, der aus der eigenen Jugendmannschaft stammte. Das gesamte Sankt Pauli-Mittelfeld bestand inzwischen aus Halbwüchsigen mit rosigen Gesichtern, ebenso der Torwart. Aber der Ball lief nach wie vor.

      Krell schüttelte Eulers leicht verschwitzte Hand. Euler hatte ein rundes Gesicht und einen Bauch, sein Atmen war, vor allem, wenn er sich anstrengte, eher ein Schnaufen. Innerlich pflegte Krell ihn seinen »dicken Freund« zu nennen. Euler gehörte zu der Sorte Mann, die sich mit dem Älterwerden nicht veränderten, sein Gesicht blieb rund und faltenlos, die Haare behielten ihre blonde Farbe, die Augen strahlten.

      Sie kannten einander, seit sie im Jahr 1927 gemeinsam an einer Serie von Raubmorden in Blankenese und Nienstedten gearbeitet hatten. Nach den ersten beiden Einbrüchen, einer davon mit einem Todesopfer, war eine Ermittlungseinheit eingerichtet worden, der Kollegen vom Raub und vom Mord gleichermaßen angehörten. Zu Euler hatte er vom ersten Moment an einen Draht gehabt. In der Ermittlung allerdings waren sie nicht vorangekommen. Die Täter waren kaltblütig und machten keine Fehler,