Flucht durch Schwaben. Rafael Wagner

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Название Flucht durch Schwaben
Автор произведения Rafael Wagner
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268889



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errichtet haben. Unser Vater wollte uns holen kommen, sobald er sich dessen sicher war. Ich kann euch dorthin führen.« Was bleibt uns anderes übrig?

      Während Stunden kämpfen wir uns nun schon durch den dichten Wald. Ich muss meine letzten Kräfte mobilisieren, der Schmerz ist schier unerträglich geworden. Plötzlich hören wir vor uns Schritte und das Knacken von Ästen. »Noch mehr Späher?«, flüstert mir Anna zu. Doch das konnten keine Ungrer sein, dann wären wir längst tot.

      Vor uns treten drei Mönche, zwei mit übermannsgroßen Stöcken, der dritte mit einem einfachen Jagdbogen und eingenocktem Pfeil. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Was glaubt ihr, auf der terra sancti Galli zu finden?« Wir erklären uns hastig, froh, den Vertretern des heiligen Gallus begegnet zu sein, und sichtlich erleichtert, dass der zittrige Mönch mit dem Bogen endlich den Pfeil zurück in den Köcher steckt. Die Mönche, die zur Nahrungsbeschaffung ausgeschickt wurden, führen uns in ihr Refugium an der Sitteruna.

      Schon während des Aufstiegs zum Torverhau hören wir eine halb belustigte, halb besorgte Stimme rufen: »Dachtet ihr, wenn es schon keine Nahrung mehr gibt, bringen wir stattdessen einige weitere hungrige Mäuler mit?« Ein respekteinflößender Mann von 30 bis 40 Jahren mit Kutte und Tonsur tritt vor das Tor hinaus. Sein Blick wird sogleich milder, als er die zwei Jungen in unserem Gefolge entdeckt. Er stellt sich uns als Dekan der Gemeinschaft des heiligen Gallus vor und führt uns hinein in die – wie er es nennt – »Burg«. Nun ja, Burg ist übertrieben. Arbon ist eine Burg, aber wir wollen die unerwarteten Gastgeber nicht schon bei unserer Ankunft beleidigen.

      Stattdessen fragt ihn Anna besorgt: »Sind wir hier sicher?«

      Bevor der Dekan antworten kann, hören wir eine andere Stimme: »Locus a Deo oblatus.«

      »Eine Stelle wie von Gott dargeboten«, versuche ich mit inzwischen leiser und schwacher Stimme Anna die Aussage zu übersetzen, die von einem Mann kam, vor dem selbst der Dekan ehrerbietig einen Schritt zurücktrat.

      »Der junge Herr spricht Latein. Welchem Konvent gehörst du an?« Bevor ich darauf reagieren kann, sacke ich zu Boden, und alles wird schwarz.

      »Haltet ihn so fest ihr könnt!« Ich spüre, wie ich an Armen und Beinen mit festem Griff zu Boden gedrückt werde. Alles ist verschwommen. Ich kann weder einordnen, wo ich bin, noch was gerade vor sich geht. Wer sind all die Menschen um mich herum?

      Da spüre ich eine warme Hand sanft über meine Stirn streicheln. »Sei jetzt stark, ich bin hier. Ich bleibe an deiner Seite«, höre ich Annas sanfte Stimme, während ich im schummrigen Licht ein glühendes Licht aufblitzen sehe.

      »Jetzt!« Das Glühen verschwindet aus meinem Blickwinkel, und in meine rechte Schulter bohrt sich ein stechender Schmerz. Erneut verdunkelt sich alles.

      Ich glühe und friere zugleich am ganzen Körper. Beim Versuch, mich wegzudrehen, schaffe ich es bloß, den Kopf hin und her zu werfen. »Alles ist gut. Bleib ganz ruhig. Ich bin da.« Annas Stimme gibt mir die nötige Zuversicht, dass wirklich alles in Ordnung ist. Mit einem kalten, nassen Tuch wischt sie mir den Schweiß aus dem Gesicht. Ich habe keine Vorstellung davon, wie lange ich schon hier liege oder wo ich bin. Zudem fehlt mir die Kraft, Anna zu fragen. Immer wieder schlafe ich ein und höre aus weiter Ferne besorgte Stimmen und Gespräche. Und immer wieder spüre ich Annas umsorgende Wärme und höre ihre Stimme. Alles ist gut.

      »Was ist mit meinem Arm?«, vermag ich einmal, Anna zu fragen.

      »Der Pfeil konnte entfernt werden, doch die starke Blutung musste sofort gestoppt werden. Der Infirmar hat deine Wunde mit einem glühenden Eisen ausgebrannt. Du wirst wieder gesund.« Anna flößt mir etwas Haferbrei und verdünnte Cervisa ein. Alles wird gut.

      Dazwischen plagen mich wilde Träume. Vieles davon erscheint mir so wirr, dass ich mit einem Schrei aufschrecke. Einmal befinde ich mich wieder auf den Mauern in Arbona. Ich wandle durch Dörfer voller Blut und Feuer. Ich falle in ein schwarzes Nichts und warte auf den Aufprall, doch nie erreiche ich den Grund. Ein weißes Pferd bäumt sich vor mir auf. Hunderte Pfeile verbergen das Licht der Sonne. Und Anna. Immer wieder sehe ich Anna. Sie streichelt mein Gesicht. Einsam steht sie im finsteren Wald, in ihrer Hand ein rotes Stück Stoff. Um den Hals trägt sie ein merkwürdiges längliches Stück Knochen. Vertraute Gesichter blicken mich an. Immer wieder ist es derselbe Mann, dieselbe Frau. Ich kenne sie, aber woher? Dann plötzlich treibe ich einsam auf einem See. Das Ufer rundherum glüht. Es gibt kein Entkommen. Anna entfernt sich von mir. Ihr dunkles Haar fällt ihr in den Nacken. Fest umklammere ich mein Schwert. Überall stehen pferdeköpfige Gestalten. Aus der Ferne höre ich Annas Schreie. Ich kann nichts tun. Ich bin gefangen. Immer wieder schrecke ich hoch, mal ist es hell, mal ist es dunkel. Doch immer ist sie bei mir, hält meine Hand, hält meinen Kopf, tröstet mich. Alles wird besser.

      Cap. V

      Montag, 1. Mai 926

      Ich blicke auf und sehe in die tiefblauen Augen derjenigen Person, die ich in diesem Moment an meiner Seite haben wollte. »Na, gut geschlafen?« Um Annas Mundwinkel kräuselt sich ein Lächeln. Sie selbst scheint erschöpft und besorgt, will sich aber offenbar nichts anmerken lassen.

      Das Strahlen ihres wundervollen schmalen Gesichts lässt Wärme in mir hochsteigen: »Wie lange liege ich schon hier?«

      »Wir sind vor drei Tagen hier angekommen, du hattest Fieber.« Ich versuche, mich von meinem Bettlager aufzurichten, doch sogleich durchfährt ein stechender Schmerz meine Schulter bis in die Brust. Augenblicklich lasse ich mich zurück aufs feuchte Moos und Stroh zurückfallen, wobei mir auffällt, dass ich nun in einem einfachen Hemd aus Hanf stecke. »Keine Sorge, die Mönche haben dir das übergezogen«, fällt mir Anna in die Gedanken. Mein Blick verriet offenbar mehr Unbehagen, als ich wollte. »Das neue Hemd hat leider nichts an deinem Gestank geändert. Ich helfe dir hoch«, spottet Anna mit gerümpfter Nase. Vorbei am steinernen Gebetshaus und dem Lager der Bediensteten des Abtes gehen wir langsam hinab in den unteren Teil der Befestigung, wo gerade drei Mönche mit der Hilfe der zwei Jungen, die uns vom abgebrannten Gehöft hierher geführt haben, einen Brunnenschacht ausheben. Jacob, der jüngere von beiden, winkt mir im Vorbeigehen fröhlich zu, bis er sich unter dem strengen Blick seines Bruders wieder seiner Arbeit widmet.

      »Bis die Brunnen fertig sind, müssen wir wohl das Risiko auf uns nehmen, den sicheren Hafen des heiligen Gallus zu verlassen«, spöttelt Anna leise in meine Richtung. »Der Fluss ist mir ohnehin lieber. Seit du fiebernd auf deinem Bett lagst, habe ich nichts anderes mehr getan, als Essen zu holen. Dein Blut klebt wahrscheinlich immer noch an mir. Ich muss mich waschen.« Nur zu gerne würde ich ihr sagen, wie wunderschön sie aussieht. Ein Engel, der zwei Tage und Nächte über mich gewacht hat. »Wir wollen zum Fluss!«, ruft Anna, als wir uns dem südlichen Wallabschnitt nähern.

      »Auf eure eigene Verantwortung«, hören wir hinter uns die gewohnt strenge Stimme des Dekans, »außerhalb der Wälle können wir euch nicht mehr beschützen. Öffnet das Tor!«

      »Schnell, bevor er seine Meinung ändert«, zischt Anna in mein Ohr und drängt mich vorwärts. Die Bäume sind zur Errichtung der kleinen Festung und der zahlreichen Annäherungshindernisse in der ganzen Flussschleife gefällt worden. Flink eilt Anna Richtung Fluss. Am Rand der äußersten Biegung des Flusses entdecken wir einige niedrige Büsche, die uns vor den Blicken der Wachen auf dem Wall verbergen dürften. Das Flussbett ist jetzt im Frühling wegen der Schneeschmelze wohl breiter als sonst. Also dürfte der Randbereich hoffentlich eine Sandbank mit langsam fließendem Wasser bereithalten. Ich begebe mich langsam in das etwas breitere und flachere Wasser des Flusses, während Anna das tiefere Wasser der Flussbiegung bevorzugt.

      »Lass dich bloß nicht mitreißen!«, rufe ich ihr noch durch die Büsche hinterher, welche uns im Uferbereich die Sicht nehmen. Auf beiden Knien im Wasser schöpfe ich mit meinen Händen Wasser aus dem Fluss und möchte das kühle Nass über mein Gesicht gießen. Doch der pochende Schmerz in meiner linken Schulter lässt mich schnell davon absehen, sodass ich mich entschließe, einfach meinen ganzen Kopf unterzutauchen. Was für ein Segen! Am liebsten würde ich gleich ganz ins Wasser springen, doch weiß ich nicht, ob ich mich notfalls wieder allein aus dem Fluss würde schleppen können. Anna möchte ich nicht schon wieder