Integrative Medizin und Gesundheit. Группа авторов

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Название Integrative Medizin und Gesundheit
Автор произведения Группа авторов
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783954666416



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Bereich besaß. Gemeint war hier wohl das, was wir heute mit „Bewusstsein“ oder „Geist“ (engl. mind) bezeichnen – Konzepte, die es in dieser Form im heutigen Europa, kurz vor Descartes, nicht gab. Auch in der Ordnungstherapie eines Sebastian Kneipp im 19. Jahrhundert tauchen deutliche Analogien auf.

      All diesen oben beschriebenen Entwicklungen war gemein, dass Heilung mit der Annahme regulativer Prozesse einherging, d.h. sie war dynamisch und strebte im Normalfall von sich aus zum Gleichgewicht, zur Gesundheit also, die wiederum der Beeinflussung durch den Einzelnen zugänglich war. Wenn diese „natürliche Tendenz“ zu Gesunderhalt oder Wiederherstellung (Restitutio) nicht ausreichte oder die Selbstregulation überfordert war, konnte Einflussnahme von außen geboten sein. Noch bei Rudolf Virchow im 19. Jahrhundert (Virchow 1875) findet sich jene Idee der Selbstregulation (und Krankheit als Manifestation einer Überforderung derselben), bevor sie im Zuge der aufkommenden Naturwissenschaft aus dem Blickfeld der Medizin geriet. Es kam zu einem Auseinanderdriften der zugrunde liegenden Konzepte, mit der Konsequenz, dass „Glaube“ (im beschriebenen Sinn) und Selbstregulation zunehmend an den Rand gedrängt wurden, zusammen oder getrennt voneinander. Dort, in der Naturheilkunde und Komplementärmedizin usw., überdauerten sie und führten, bis vor kurzem, ein bescheidenes, aber doch reales Dasein. In der sogenannten Schulmedizin tauchten sie als Placebo-Effekte (auch als Kontext- oder unspezifischer Effekte bezeichnet und seit dem Jahr 2000 zunehmend wissenschaftlich erforscht) immer wieder auf. Hier allerdings kamen sie aus der Hand des Arztes oder Wissenschaftlers, deren Bedeutung in einer Art Gegenbewegung kontinuierlich gewachsen war.

      2.6 Heilung in der modernen Medizin

      Heute sieht die Situation anders aus. Sei es aus Gründen der Kosteneffizienz, einer stärkeren „Kundenorientierung“, einer zunehmenden Hilflosigkeit bei chronischen und funktionellen Erkrankungen oder tatsächlicher wissenschaftlicher Erkenntnis in der Medizin: Ein zunehmender therapeutisch-medizinischer Pluralismus hält Einzug. Integration löst Separation ab, sagen Befürworter. Das blieb nicht ohne Widerstand, gerade auch in Deutschland. In den USA verlief die Debatte weniger aufgeregt: Dort hatten viele der geschilderten Ideen nicht nur in der Psychologie überdauert, was u.a. am großen William James lag, sondern z.B. auch in der Soziologie, die ebenfalls über Gesundheit und Ressourcen forschte. Themen wie Salutogenese, Kohärenz, Hardiness und Resilienz, d.h. innere Faktoren für Gesundheitsschutz, Widerstandsfähigkeit und Stressresistenz (vgl. Esch 2002), hatten es geschafft, sich auch an Elite-Universitäten zu halten und sich immer wieder – auch im medizinischen Kontext – Gehör zu verschaffen.

      Ein Durchbruch erfolgte schließlich durch zwei parallele Entwicklungen: Die geschilderten Arbeiten u.a. zur Mind-Body-Medizin von Herbert Benson und sein Modell des „dreibeinigen Stuhls“ (s. Abb. 1) korrelierten mit einer „Psychologie des Gesunden“, der sogenannten „Positiven Psychologie“ (Esch 2017) bzw. „Resilienzforschung“ (Esch 2020). Das passierte mit maßgeblicher Unterstützung der amerikanischen Gesundheitsadministration und führte schließlich u.a. auch zur Etablierung einer wissenschaftlichen komplementären und Integrativen Medizin (Complementary and Integrative Medicine, CIM) unter Einbeziehung der Mind-Body-Medizin, neben der bereits bestehenden Gesundheitspsychologie. Die andere wichtige Entwicklung war eine sich intensivierende Meditations- und Bewusstseinsforschung, die auf eine immer stärker als Brückendisziplin auftretende, integrierend wirkende Neurowissenschaft traf, mit immer faszinierenderen technisch-wissenschaftlich-experimentellen Möglichkeiten. Ergänzt wurde diese Entwicklung noch durch die Förderung einer transdisziplinären Dialogkultur sowie durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zur Autoregulation und dem Placebo-Effekt.

      Abb. 1 Dreibeiniger Stuhl eines modernen Gesundheitswesens bzw. einer ressourcenorientierten Medizin (in Anlehnung an Herbert Benson, angepasst und übersetzt von Tobias Esch [Esch 2017]).

      2.7 Moderne Definition, Ausprägungen und Wirksamkeit der Mind-Body-Medizin

      Die moderne Mind-Body-Medizin, wie sie v.a. in den USA zwischenzeitlich geläufiger Bestandteil der primären Gesundheitsversorgung geworden ist, vereint heute als Oberbegriff eine Vielzahl von wirksamen Ansätzen im Kontext einer individuellen bzw. „patientenzentrierten Gesundheitsfürsorge“ und ist daher konzeptionell und praktisch anschlussfähig zu vielen aktuellen Strömungen und Disziplinen in der praktischen Medizin, in Therapie- und Grundlagenforschung (Dobos u. Paul 2019). Sie ergänzt u.a. die bis dahin vorrangig somatisch orientierte allgemeine Medizin um verhaltens- und lebensstilorientierte Aspekte im Sinne einer professionellen Stärkung von Selbsthilfe- und Selbstheilungskompetenzen.

      Das amerikanische Gesundheitsministerium beschreibt die Mind-Body-Medizin als Disziplin, die sich fokussiert auf (NIH 2019):

      

The interactions among the brain, the rest of the body, the mind, and behavior.

      

The ways in which emotional, mental, social, spiritual, experiential, and behavioral factors can directly affect health.

      Mind-Body-medizinische Techniken sind dann solche, die (NCCIH 2019):

      

Intent to use the mind to affect physical functioning and promote health.

      

Enhance each person’s capacity for self-knowledge and self-care.

      Die Mind-Body-Medizin basiert folglich auf der Anerkennung einer zentralen „Geist-Körper-Achse“, d.h. auf möglichen Interaktionen zwischen Gehirn und Körper bzw. Bewusstsein und Verhalten. Dabei steht im Zentrum die Frage, ob und wie emotionale, geistig-seelische (d.h. mentale), soziale, spirituelle, erfahrungs- und/oder verhaltensbezogene Faktoren die Gesundheit beeinflussen können. Mind-Body-medizinische Techniken wären dann folglich solche, die auf Grundlage dieser Annahmen die Gesundheitskompetenz und das Selbstfürsorgepotenzial der Individuen nachweislich stärken.

      Die Mind-Body-Medizin kommt heute vielerorts praktisch zum Einsatz, v.a. im Kontext von primärer Prävention und Gesundheitsförderung sowie daneben in der Behandlung von lebensstilassoziierten, insbesondere chronischen oder funktionalen Erkrankungen. Hierunter fallen typischerweise die häufigsten Beratungsergebnisse, wegen derer die Menschen auch in Deutschland ihren (Haus-)Arzt aufsuchen (Laux et al. 2010) – beispielsweise muskuloskelettale Beschwerden (inkl. Schmerzerkrankungen und chronisch-entzündlichen/rheumatischen Erkrankungen), Fettstoffwechselstörungen, endokrinologische und metabolische bzw. ernährungsbedingte Erkrankungen (u.a. Diabetes mellitus II), Bluthochdruck, depressive Störungen oder Magen-Darm-Funktionsstörungen. Zusätzlich wird die Mind-Body-Medizin unterstützend in der Behandlung von onkologischen Erkrankungen sowie in der begleitenden Suchtbehandlung (z.B. bei der Raucherentwöhnung) wie auch zur allgemeinen Vorsorge, Gesundheitsförderung, Resilienzstärkung und Stressreduktion eingesetzt (vgl. Esch 2020).

      Im Unterschied zur psychosomatischen Medizin ist der Einsatz der Mind-Body-Medizin nicht an eine (Psycho-)Pathologie oder das Vorliegen einer spezifischen psychosomatischen Störung gekoppelt. Mind-Body-medizinische Techniken können – müssen aber nicht – störungsspezifisch und indikationsbezogen eingesetzt werden. Im Gegensatz zur (tiefenpsychologischen) Psychotherapie aber ist das primäre Ziel der Mind-Body-Medizin nicht die Aufdeckung und Klärung eines (intra-)psychischen Konfliktes o.Ä., auch werden in der Regel keine psychodynamischen Erklärungen für ein Verhalten gesucht, das als defizitär eingeordnet wird (Paul u. Altner 2019). Mind-Body-medizinische Interventionen zielen stattdessen auf die Entwicklung gesundheitsfördernder Haltungen und Verhaltensweisen im Alltag ab. Diesem Ansatz liegt das Modell der Salutogenese zugrunde, d.h. die Annahme, dass es neben krankheitsauslösenden oder -begünstigenden Faktoren (vgl. Pathogenese) generell auch solche