Gegendiagnose. Группа авторов

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Название Gegendiagnose
Автор произведения Группа авторов
Жанр Социальная психология
Серия
Издательство Социальная психология
Год выпуска 0
isbn 9783960428114



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von Symptomen durch eine Behandlung gleichzeitig die Richtigkeit der dieser zugrunde liegenden theoretischen Annahmen bewiesen wäre, ist nicht zutreffend. Die Richtigkeit einer Theorie entscheidet sich daran, ob diese in der Lage ist, ihren Gegenstand mit stimmigen Argumenten auf den Punkt zu bringen. Keines der hier aufgeführten Verfahren kann dies für sich in Anspruch nehmen. Sollte es tatsächlich durch eine angewandte Behandlung zu einer Symptomreduzierung kommen, so wäre immer noch der inhaltliche Nachweis notwendig, dass diese die angenommene Ursache beseitigt hat und die Reduzierung nicht auf ein Drittes zurückzuführen ist.

      Als ein Symptom für die Depression gelten »Schlafstörungen jeglicher Art«. Durch die Einnahme von Diazepam kann in vielen Fällen dieses Symptom für eine bestimmte Zeit zum Verschwinden gebracht werden. Bekanntlich beeinflusst dieses Medikament bestimmte Neuronenaktivitäten im Gehirn. Dass jedoch diese Aktivitäten die Ursache für die Schlafstörungen gewesen sind, ist nicht ausgemacht. Es werden eben nur die Symptome reduziert und damit auch das, was als vermeintliche Ursache diagnostiziert worden ist – die psychische Störung, die, wie oben beschrieben, nichts anderes ist als eine Ein-Wort-Beschreibung der Symptome. Dass die Mittel mehr oder weniger ihren Zweck erfüllen, ist das Kriterium ihres Einsatzes, und tatsächlich gelingt es bei einigen Patient_innen, ihre Symptome zu reduzieren. Die Frage ist nur: Was genau ist der Inhalt der jeweiligen Methode und welchem Zweck dienen die verabreichten Mittel? In der modernen Psychiatrie gelten momentan u.a. die pharmakologische Behandlung und die kognitive Verhaltenstherapie als die Mittel der Wahl. Beide Verfahren können auf ähnliche Erfolgsquoten (Reduzierung der Symptomschwere um mindestens 50% bei 40-50% der Patient_innen) verweisen, trotz der erheblichen Unterschiede in ihren Vorgehensweisen.

      Die medizinisch-organische Deutung der psychischen Erscheinung

      Auf der Suche nach einer möglichen Heilung psychischer Störungen tendiert die Psychiatrie dazu, deren Ursache in einem Defekt des Gehirns auszumachen, ganz so, als würde es sich bei einer Depression um eine Hirnverletzung handeln. »Die Theorien, die einen Zusammenhang zwischen Neurotransmittern und psychischen Störungen annehmen, gehen davon aus, dass eine bestimmte Störung durch eine zu große oder zu kleine Menge von Neurotransmittern verursacht wird« (Davison/Neale/Hautzinger 2007: 20). Dementsprechend kommen neben der heute nicht mehr so häufig angewendeten Elektroschock-Therapie verschiedene Medikamente in Betracht, die direkt in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen. Mit dem Eingriff in die physiologische Grundlage des Bewusstseins durch die Verabreichung diverser Stoffe gelingt es bei circa der Hälfte der Patient_innen die Symptomschwere zu reduzieren. Dieser Erfolg wird als Indiz dafür genommen, dass in der grauen Substanz auch die Ursache für die diagnostizierte Störung läge. An dieser Annahme wird trotz des verhältnismäßig geringen Behandlungserfolges festgehalten. Denn selbst nach Maßstäben dieser medizinischen Herangehensweise könnte sich Skepsis gegenüber dieser Ursachenvermutung einstellen. Keine behandelnde Psychiaterin weiß genau, welches der zur Verfügung stehenden Medikamente in welcher Dosis bei einem depressiven Patienten einzusetzen ist. Hier bestimmen Versuch und Irrtum den Einsatz der Mittel. Viele der Medikamente lösen schwer wiegende Nebenwirkungen aus. In bestimmten Fällen werden weitere Medikamente gegeben (Schlafmittel, Angstlöser etc.), die ihrerseits in den Stoffwechsel eingreifen und die ungewollten Begleiterscheinungen reduzieren sollen. Am problematischsten für die Annahme, Depressionen hätten ihre Ursache in gestörten Stoffwechselvorgängen, ist die Tatsache, dass anhand der Wirksamkeit nicht unterschieden werden kann, welche Behandlungsmethode zum Einsatz kommen sollte. Sowohl die pharmakologische Therapie als auch die kognitive Verhaltenstherapie erzielen bis auf bestimmte Ausnahmefälle ähnliche Resultate. Damit ist die Annahme, wonach die Depression von gestörten Stoffwechselvorgängen verursacht würde, diese also notwendig die Wirkung haben, depressive Symptome hervorzubringen, nicht haltbar, da die psychologische Behandlung nicht auf den Eingriff in den Stoffwechsel beruht.8 Grundsätzlich lässt sich der Zusammenhang zwischen physiologischen Prozessen und psychischen Inhalten nicht mit der Kategorie von Ursache und Wirkung beschreiben. Weder wird das Denken und Handeln von den Notwendigkeiten des Körpers regiert noch kann es ohne seine biologische Grundlage existieren. Die physiologische Erforschung der neuronalen Vorgänge konnte in den letzten Jahrzehnten einige Fortschritte in der Beschreibung der Stoffwechsel- und Neuronenaktivitäten erzielen. Unter Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden untersucht diese Forschungsrichtung die materiellen Funktionen und Gesetzmäßigkeiten des Gehirns, welche die physiologischen Bedingungen dafür sind, dass der Mensch ein Bewusstsein entwickelt, sich denkend mit der Wirklichkeit auseinandersetzt, seine Urteile und Schlüsse zieht. Welche psychischen Inhalte das Individuum auf der Grundlage seiner natürlichen Möglichkeiten selbst realisiert, unterliegt dessen Entwicklung. Durch Verletzungen und Erkrankungen des grauen Substrats können verschiedene Vorgänge nicht mehr so stattfinden, wie sie möglich wären. Die Erkenntnisse, die durch die physiologische Forschung entstanden sind, beispielsweise Verfahren zur Behandlung von Schlaganfällen oder Demenz, sind wichtige Errungenschaften, um deren Auswirkungen auf die psychischen Tätigkeiten durch die Schädigung der natürlichen Grundlage zu verstehen. Umgekehrt kann die psychische Entwicklung nur auf der Basis der physischen Entwicklung stattfinden. Ohne die Entwicklung der Sinne wäre es dem Menschen beispielsweise nicht möglich, die äußere Welt wahrzunehmen und sich dann zu dem Wahrgenommenen denkend in eine Beziehung zu setzen. Diese Fähigkeit zur Reflexion bezieht sich nicht nur auf Sinneseindrücke, sondern auch auf das jeweilige Denken und Handeln. Die Inhalte dieser Gedanken über sich selbst sind nicht die Wirkung einer physiologischen Ursache, sondern verknüpfen sich aufgrund einer eigenen Logik der Denktätigkeit. Gerade weil das menschliche Bewusstsein nicht in seiner biologischen Grundlage aufgeht, nicht von Notwendigkeiten des Körpers regiert wird, ist der menschliche Geist in der Lage, sich über sich selbst und die Welt, wie diese ihm entgegentritt, Gedanken zu machen. Darin liegt die Freiheit des Geistes über den Körper und die Natur. Gleichzeitig ist der menschliche Geist durch seinen Körper bestimmt. Jedes Denken hat seine körperlichen Grenzen, was einem schon dann auffällt, wenn man nach einem langen Tag im Büro vor Müdigkeit kaum noch seine eigentlichen Interessen verfolgen kann. Und auch die von Psychiater_innen verabreichten Antidepressiva greifen in die körperlichen Prozesse ein und verändern diese, was Auswirkungen auf die Art und Weise haben kann, wie der Mensch sich und die Welt erfährt. Weder fallen Geist und Körper auseinander, wie so mancher philosophisch interessierte Mensch behauptet, noch lassen sich die menschlichen Tätigkeiten eines sich Zwecke setzenden und umsetzenden Willens aus den neuronalen Verschaltungen des Gehirns erklären. Die Annahme, die natürlichen Bedingungen seien die Ursache für das menschliche Denken und Handeln und damit auch für jene, die als Abweichung von den erwünschten Denk- und Handlungsweisen diagnostiziert wurden, ist die theoretische Fehlleistung des medizinisch organischen Deutungsansatzes (vgl. Güßbacher 1988).9 Den Mangel, dass für psychische Störungen keine biologische Ursache ausgemacht werden konnte, führen Neurolog_innen auf noch nicht ausreichende Forschung zurück, was sie aber nicht im Geringsten daran hindert, schon einmal davon auszugehen, »dass bei manchen psychischen Störungen die Rezeptoren defekt sind« (Davison/ Neale/Hautzinger 2007: 20) – mit den entsprechenden Konsequenzen für die Behandlung ihrer Patient_innen.

      Die kognitiv-verhaltenstheoretische Deutung der psychischen Erscheinung

      Die kognitive Verhaltenstherapie, deren Wirksamkeit – gemessen an ihrem Erfolg – bei bestimmten Formen der Depression als erwiesen gilt, geht gemäß ihren theoretischen Voraussetzungen einen anderen Weg. Nicht durch eine medikamentöse Beeinflussung der Abläufe im Gehirn soll das depressive Verhalten verändert werden, sondern durch die Einflussnahme auf die situativen und kognitiven Bedingungen, die das unerwünschte Verhalten hervorgebracht haben sollen. Ging noch die klassische Verhaltenstherapie davon aus, dass »innere Zustände« eines Menschen zwar existieren, aber für die wissenschaftliche Betrachtung und besonders für die Vorhersage und Steuerung des menschlichen Verhaltens nicht relevant seien, erhalten diese nun in Form der Kognition einen besonderen Stellenwert im Bedingungsgefüge. Ausgangspunkt dieser Therapieform bildet die Annahme, dass jedes menschliche Verhalten als Reaktion auf die Wirkung von äußeren Bedingungen zurückzuführen sei. Das menschliche Verhalten sei dadurch bestimmt, dass es durch die Umwelt hervorgebracht werde, und die Umwelt habe als Reizauslöser die Bestimmung, menschliches Verhalten hervorzubringen. Damit erscheint der Mensch als reines Vollstreckungsorgan der auf ihn einprasselnden äußeren Reize. Dem offensichtlichen Mangel dieses