Kalteiche. Ulrich Hefner

Читать онлайн.
Название Kalteiche
Автор произведения Ulrich Hefner
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264423



Скачать книгу

sehen. Er erhob sich und klopfte seine Hose ab, dann ging er zurück zur Straße, schwang sich auf das Fahrrad und fuhr über die menschenleeren Wege davon. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und der Fahrtwind kühlte seine Wangen.

      *

      »Guten Morgen, ich bin Martin Trevisan, ich bin wieder hier.«

      Die junge Frau mit den langen blonden, zum Zopf gebundenen Haaren und dem blassen Gesicht, die hinter dem Schreibtisch saß, hieß Thorke Oselich und war seine neue Chefin. Natürlich hatte sich Trevisan vor seiner Bewerbung über die Dienststellenleiterin in Wilhelmshaven informiert. Sie war Ende dreißig und direkt nach ihrem Abitur zur Polizei gegangen. Die Polizeischule hatte sie als Klassenbeste absolviert und nach einem Jahr im Streifendienst war sie zur Ausbildungsabteilung nach Nienburg gewechselt, bevor sie drei Jahre später ihre Ausbildung für den höheren Polizeidienst begann. Anschließend hatte sie im Führungsstab der Polizeidirektion Lüneburg gearbeitet, in Osnabrück und bei der Polizeiakademie, bevor sie vor zwei Jahren die Dienststelle in Wilhelmshaven übernommen hatte. Ihre Karriere war makellos und sie war beinahe alle drei Jahre befördert worden. Doch von echter Polizeiarbeit auf der Straße stand nicht besonders viel in ihrer Vita.

      Thorke Oselich war jung, viel zu jung eigentlich, um bereits Chefin dieser Inspektion zu sein, aber diese Reform hatte viel durcheinandergewirbelt. Beck war längst in Pension und auch die ehemalige Direktorin Schulte-Westerbeck gab es nicht mehr. Es gab ein neues Dienstgebäude, in dem es immer noch nach frischer Farbe roch, neue Kolleginnen und Kollegen, die er erst einmal kennenlernen musste, und neue Zuständigkeiten, denn von dem ehemaligen Fachkommissariat war nur noch eine Außenstelle geblieben. Kleinschmidt, mit dem er sich vorgestern ein paar Minuten unterhalten hatte und der seit einem halben Jahr in Pension war, hatte ihn gewarnt. Alles war schlechter geworden. Zu wenig Personal, ein Riesenbezirk, den man zu betreuen hatte, und Vorgesetzte, die Polizeiarbeit auf der Straße nur noch vom Hörensagen kannten und sich ihre goldenen Sterne auf der Schulbank in Nienburg und Hiltrup verdient hatten, ohne jemals auch nur einen Falschparker aufgeschrieben, geschweige denn eine Leiche von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben.

      Kleinschmidt war froh darüber gewesen, dass er endlich in Pension gehen konnte, denn auch die Spurensicherung war inzwischen zentralisiert und zur Direktion nach Oldenburg verlegt worden. Nur aufgrund seines Alters hatte er in Wilhelmshaven bleiben können. Wie eine ungeliebte Altlast war er sich vorgekommen. Zwar hatte man ihm staatlicherseits das Gnadenbrot in Wilhelmshaven gegönnt, dennoch hatte ihn stets das Gefühl verfolgt, dass niemand etwas dagegen gehabt hätte, wenn er vorzeitig in Pension gegangen wäre, um einem jungen, dynamischen Kollegen Platz zu machen.

      Trevisan hatte nur mit der Schulter gezuckt. In den letzten fünf Jahren, die er bei der Präventionsabteilung in Oldenburg zugebracht und besorgten Bürgern die Vorzüge von Doppelverglasungen und dreifach gesicherten Türen nahegebracht hatte, war die Entwicklung innerhalb der Polizei irgendwie an ihm vorübergegangen. Er war nun selbst über fünfzig und hatte lange überlegt, ob er sich tatsächlich auf die ausgeschriebene Stelle beim Kriminalkommissariat in Wilhelmshaven bewerben sollte. Den Ausschlag hatte die Entfernung nach Oldenburg gegeben, denn seit einem halben Jahr wohnte er wieder an der Küste. Lea, seine Lebensgefährtin, hatte den Peerenhof unweit von Horumersiel gekauft, in den sie sich auf den ersten Blick sofort verliebt hatte. Auf der Suche nach einem neuen Atelier war sie dem Charme und der kreativen Ausstrahlung des alten Gemäuers erlegen. Sechshunderttausend Euro waren kein Pappenstiel, aber schließlich war Lea vermögend. Sie malte nicht nur Bilder und formte Skulpturen, sondern war inzwischen eine anerkannte und hoch gelobte Restauratorin sakraler Kunst, so dass es an Aufträgen nicht mangelte.

      »So früh habe ich Sie eigentlich noch gar nicht erwartet«, entgegnete Thorke Oselich und erhob sich. »Nehmen Sie Platz, Herr Trevisan! Schön, dass ich Sie endlich persönlich kennenlerne. Sie waren schon einmal hier auf dieser Dienststelle, hörte ich.«

      Trevisan nickte und nahm Platz. »In der Peterstraße, das ist lange her.«

      »Ja, sehr lange«, bestätigte die Inspektionsleiterin. »Wie ich erfuhr, sind Sie damals wegen Ihrer Tochter nach Hannover zum Landeskriminalamt gewechselt. Sie musste dort in ärztliche Behandlung.«

      Trevisan nickte.

      »Wie geht es ihrer Tochter heute?«

      Trevisan winkte ab. »Es geht ihr gut, sie arbeitet inzwischen auch hier in Wilhelmshaven.«

      »Sie ist auch bei der Polizei?«

      »Nein, beim Ozeanographischen Institut am Arsenalhafen. Sie hat Meeresbiologie studiert.«

      »Ah, ich verstehe. Sind Sie deswegen wieder zurückgekommen?«

      Trevisan lächelte und schüttelte den Kopf. »Paula ist inzwischen erwachsen, wobei Kinder für Eltern natürlich immer Kinder bleiben. Ich glaube kaum, dass sie begeistert wäre, wenn ich mich in ihr Leben mische. Nein, ich wohne inzwischen auf dem Peerenhof bei Horumersiel und nach Oldenburg sind es siebzig Kilometer. Außerdem fehlte mir die Küste. Ich glaube, wenn man an der Wiege des Windes aufgewachsen ist, dann zieht es einen immer wieder hierher zurück. Manchmal fühlte ich mich in den Städten wie ein Fisch auf dem Trockenen.«

      »Das kann ich verstehen«, entgegnete Thorke Oselich. »Ich bin aus Schortens.« Die Kriminaldirektorin kramte aus ihrem Postkorb Trevisans Akte hervor und blätterte darin. »Sie waren damals Leiter des 1. Fachkommissariats.«

      »Ja, anschließend war ich fünf Jahre beim LKA, dann wurde ich auf eigenen Wunsch nach Oldenburg versetzt.«

      »Wie ich sehe, arbeiteten Sie zuerst bei der Koordinierungsstelle für Verbrechensbekämpfung und anschließend bei der Kriminalprävention. Sie sind sich aber im Klaren darüber, dass die ausgeschriebene Stelle des Kommissariatsleiters eine Sachbearbeiterstelle ist?«

      »Ich bin mir im Klaren darüber, dass dies auch Außendienst bedeutet, und das kommt mir auch gelegen. Ich habe den Bürodienst satt.«

      Thorke Oselich klappte die Akte zu. »Dann ist es ja gut, Herr Trevisan. Ich denke, ich stelle Ihnen nun die Abteilung vor. Allzu viele sind wir ja nicht mehr. Bei größeren Ereignissen unterstützen uns die Kollegen aus Oldenburg. Die Ermittlungen werden nach wie vor durch das Kommissariat geführt, leider sind wir nur dünn besetzt. Auch da unterstützt uns Oldenburg mit den Fachdiensten, wenn es notwendig ist.«

      Die Inspektionsleiterin erhob sich, Trevisan folgte ihr. Sie führte ihn den Flur entlang in den Südflügel des Gebäudes, wo im zweiten Stock das Kriminalkommissariat untergebracht war. »Wir haben insgesamt acht Mitarbeiter im Kommissariat. Mit Ihnen sind es neun. Ihr Vorgänger wollte es etwas ruhiger und ist in den Stab nach Oldenburg gewechselt, die Stelle war seither unbesetzt. Frau Sander leitete die Abteilung.«

      »Monika Sander?«

      Thorke Oselich nickte. »Sie kennen sich?«

      »Sie war früher im Fachkommissariat meine Stellvertreterin.«

      »Gut, dann müssen Sie sich ja nicht großartig umstellen.«

      Vor einer Glastür mit der Aufschrift Kriminalkommissariat blieben sie stehen. Thorke Oselich tippte den Code in den kleinen grauen Kasten neben der Tür und der Summer war deutlich zu vernehmen. Sie schob die Tür auf. »Den Code kennen Sie?«

      Trevisan nickte. Es war derselbe, der ihm auch in Oldenburg sämtliche Pforten geöffnet hatte. Offenbar hatte die Polizei überall Schlüssel und Schlösser inzwischen abgeschafft.

      Die Chefin führte Trevisan in einen großen Raum, in dem ein langer Tisch und etliche Stühle standen. Auf dem Tisch lagen eine Banane und eine Tupperbox. »Warten Sie hier. Ich rufe alle zusammen, das ist am einfachsten. Schließlich sollten alle wissen, wer ab heute das Zepter in diesen Räumen schwingt.«

      Mit einem Lächeln ließ sie Trevisan an der Stirnseite des Tisches zurück, der sich angesichts der Situation ein klein wenig unwohl fühlte.

      Tröpfchenweise füllte sich der Raum. Als Monika Sander das Büro im Schlepptau von Thorke Oselich betrat, winkte sie ihm freudig zu. Die Kolleginnen und Kollegen nahmen am Tisch Platz und warfen Trevisan den einen oder anderen abschätzenden Blick zu.