Gänseblut. Wolfgang Santjer

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Название Gänseblut
Автор произведения Wolfgang Santjer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264409



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Stadt Leer

      Stefan Gastmann saß in seinem Büro und starrte entnervt auf den Zettel vor ihm. Aufgelistet hatte er die Namen, Adressen und Telefonnummern der Nachbarn von Gretchen Driever. Alle waren laut Einwohnermeldeamt Eigentümer der Häuser, die in der Nähe des Fundortes des »Ötzi« standen. Klinkenputzen per Telefon nannte Stefan inzwischen die telefonischen Befragungen von Zeugen, die eventuell etwas Licht in das Mysterium des Toten in den Salzwiesen, quasi vor deren Haustür, bringen konnten.

      Bis jetzt blieb es allerdings dunkel. Gretchen Driever, die nette alte Dame von der Deichstraße, lag richtig mit ihrer Einschätzung. Die Häuser an der Deichstraße waren nur einige Wochen im Jahr bewohnt, weil ihre Eigentümer sie als Ferienhäuser nutzten. Die älteren Eigentümer waren weggezogen oder bereits verstorben. Gerade hatte er den Hörer aufgelegt. Wieder Fehlanzeige, und er hakte den Namen auf der Liste ab.

      Vor ihm lag das Heft mit den Kriegserinnerungen von Frau Drievers Opa. Diese Sütterlinschrift verursachte ihm Kopfschmerzen. Schließlich hatte er mit einer speziellen Software versucht, den Text in die moderne Schrift zu übertragen. Die Handschrift des Mannes war undeutlich, eine Sauklaue, und das Programm funktionierte einfach nicht.

      Stefan klappte das Heft zu, legte es zur Seite und stand auf. Er blieb vor einer weißen Metalltafel mit Fotos von der Leiche, dem Fundort und den Detailaufnahmen stehen. Die Identität des Toten war noch nicht geklärt, deshalb nannte auch Stefan ihn inzwischen Ötzi.

      Tag 6,

      Redaktion des Rheiderlandkuriers

      Der Reporter Hilko Cordes griff zum Telefon. »Rheiderlandkurier …?«

      »Ich hab eine Story für Sie!«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.

      »Mit wem spreche ich denn?«, wollte Cordes wissen.

      »Das möchte ich lieber nicht sagen«, antwortete der Anrufer.

      Hilko Cordes grinste. Die Stimme des Gänsevaters Menno Alting war ihm schon von anderen Zusammentreffen bestens bekannt. Alting lag im Dauer-Clinch mit den Jägern. Streitthema war meistens die Gänsejagd. Wie viele Artikel hatte er schon darüber geschrieben …! Menno hatte einen Hang zum Cholerischen, was nicht immer gut für seine Sache war.

      »Eine Riesensauerei«, schrie die Stimme aus dem Hörer.

      Jetzt war sich Cordes sicher, dass er mit Alting sprach. »Beruhigen Sie sich erst einmal, anonyme Hinweise mögen wir hier in der Redaktion überhaupt nicht.« Er wollte auflegen.

      »Mein Name interessiert nicht, dann ende ich so wie die armen Tiere auf dem Deich!«

      Jetzt wurde Cordes doch neugierig. »Welche Tiere und wo auf dem Deich?«

      »Tote Gänse auf dem Deich am Coldeborger Siel. Fahren Sie doch hin und sehen sich die Sauerei selber an!« Der Anrufer legte auf.

      Cordes überlegte, was er von dieser Meldung halten sollte. Menno Alting nannte sonst immer seinen Namen. Jetzt dieser anonyme Anruf … Angst vor einer eventuellen Rache seiner Gegner? Ein Unbekannter hatte ja vor einigen Tagen Mennos Modellmühle gesprengt, und die Gerüchteküche in Weener brodelte. Insgeheim vermutete man, ein Jäger sei dafür verantwortlich.

      Hilko Cordes hatte als Reporter eine feine Nase für Strömungen und Stimmungen in der hiesigen Bevölkerung. Er spürte, dass sich seit der Sprengung der Mühle etwas verändert hatte. Vorher war es zwischen den Jägern und den Umweltschützern nur zu Wortgefechten gekommen, jetzt herrschte eine aggressivere Atmosphäre. Ein Beispiel dafür war die Prügelei zwischen Alting und dem Jäger Böltjer, von der er natürlich gehört hatte.

      Schluss mit der Grübelei. Hilko Cordes nahm seinen Koffer mit der Fotoausrüstung und stieg in seinen Wagen. Die Fahrt ging über die Landstraße zum Coldeborger Siel bei Emskilometer 27, in einer Flusskurve. Das Fahrwasser führte sehr dicht am Siel vorbei. Die Strömung verursachte in der Kurve eine enorme Wasser­tiefe. Böse Zungen behaupteten, dass eines Tages der gesamte Deich in dieses Loch rutschen würde.

      Cordes stellte seinen Wagen ab, schnappte seinen Fotokoffer und ging die Betontreppe zur Deichkrone hinauf. Rund fünfzig Meter entfernt, in Richtung Leer, flogen Krähen auf. Cordes näherte sich der Stelle. Zwei tote Graugänse lagen auf der Deichkrone auf dem Rücken. Als er näher kam, sah er zu seinem Entsetzen, dass man ihnen nur das Brustfleisch herausgeschnitten hatte. Das war das begehrteste Stück der Gans. Mit der Kamera machte Cordes einige Aufnahmen von der Umgebung und den toten Gänsen. Später würde er die Bilder am PC auswerten und entscheiden, welche in der morgigen Ausgabe des Rheiderlandkuriers erscheinen sollten.

      Tag 7,

      unterwegs auf der Autobahn in Richtung Norden

      Sven Richter war mit seinem alten Geländewagen unterwegs in Richtung Norden. Aus dem Radiolautsprecher dröhnten die Bässe einer Hardrock-Band. Der Text gefiel ihm sehr gut und war durchaus passend. Es ging um TNT und darum, dass man sich besser nicht mit ihm anlegen sollte. Im Rückspiegel sah er die Aluminiumkisten, die hinter ihm standen. Heute besser keinen Unfall – mit dem Teufelszeug im Gepäckraum …

      Im doppelten Boden der Kisten befand sich seine Spezialausrüstung. Dazu gehörten zwei Handgranaten, mehrere Pakete mit Sprengstoff und die entsprechenden Zünder. Den Sprengstoff hatte er aus den Blindgängern gekratzt und gesammelt. Außerdem hatte er mit neuartigen kleinen Drohnen experimentiert. Auf dem Schießplatz hatte ihn niemand bei seinen Versuchen damit gestört. Zuletzt war es ihm gelungen, mehrere kleine Sprengsätze unter den Drohnen zu montieren. Mit einer Fernsteuerung konnte er sie von der Drohne auf sein Ziel herabfallen und kontrolliert explodieren lassen.

      Im Rheiderland, seiner alten Heimat, wollte er bewusst erst nachts ankommen. Seine Ausrüstung musste versteckt werden. Im Auto oder im Ferienhaus, das direkt neben dem Bauernhof der Familie Hortema stand, konnte das Zeug nicht bleiben. Für seinen Plan waren Aktionen nötig, die natürlich Folgen haben würden. Es war deshalb wichtig, dass sein Auto und das Ferienhaus, in dem er wohnen würde, sauber blieben.

      Also wohin mit dem Zeug? In der letzten Nacht hatte er wieder von seinem Opa Trinus geträumt. Gemeinsam waren sie mit dem alten Holzboot über die Kanäle gerudert. Das Boot war natürlich auch zum Schwarzangeln oder zum Wildern eingesetzt worden. Sein Opa hatte es immer unter einer Brücke versteckt und Bug und Heck mit dicker Angelschnur am Geländer befestigt. So blieb es immer auf gleicher Position, war vor Regen geschützt und für Autofahrer und Fußgänger unsichtbar. Auf dem Wasserweg über die Kanäle und Tiefs kam man mit einem Boot im Rheiderland fast überall hin. Sie waren miteinander verbunden und sollten zusammen mit den Siel- und Schöpfwerken eine sichere Wasserentsorgung gewährleisten.

      In der Nähe seines geplanten neuen Wohnortes lief ein Kanal vorbei, das hatte eine Satelliten-Aufnahme ihm am Computer gezeigt. Der Plan war wie von selbst in seinem Kopf entstanden. Sven Richter war davon überzeugt, dass ihm sein Opa Trinus im Schlaf dabei geholfen hatte.

      Mit einer Internet-Kleinanzeige hatte er schnell gefunden, was er zusätzlich für seinen Plan benötigte: ein aufblasbares Kanu in Tarnfarbe. Es war gut zu tragen und robust. In der Nacht würde er am Kanal im Rheiderland an einer einsamen Stelle parken, das Kanu aufblasen und die Ausrüstung darin verstauen. Die Alukoffer mit dem Sprengstoff und den Zündern und die Drohnen würde er unter mehreren Brücken mit Tarnnetzen verstecken. Das Kanu würde er ebenfalls unter einer Brücke festbinden und zwar genau so, wie es ihm sein Opa gezeigt hatte.

      Tag 8, morgens

      Hof der Familie Hortema

      Sven war hundemüde, als er sein Auto am frühen Morgen auf die lange Auffahrt zum Polderhof lenkte. Die lange Fahrt und dann der nächtliche Einsatz mit dem Kanu …

      Er war beeindruckt vom Anwesen der Hortemas. Die Auffahrt säumte eine Allee alter Bäume. Vor dem Hof standen riesige Rotbuchen. Das Haus war zweigeschossig, die Mauern aufwändig verziert, mit Rundbogenfenstern und einem prachtvollen Eingangsportal. Hinter dem Wohnhaus lag die riesige Gulfscheune. Durch zwei große Torflügel konnten auch die neuen Traktoren hineinfahren.