Emotionen und Affekte bei Kindern und Jugendlichen. Hans Hopf

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Название Emotionen und Affekte bei Kindern und Jugendlichen
Автор произведения Hans Hopf
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170371804



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hatten. Dass solche Erinnerungen – bereits künstlich und wirklichkeitsfremd verformt durch experimentelle Anordnungen – darüber hinaus dann kognitiven und Abwehrprozessen unterliegen und somit keine Gültigkeit mehr beanspruchen können, kam Forschern damals nicht in den Sinn (und auch heute nur selten).

      Otto F. Kernberg, einer der bedeutendsten psychoanalytischen Theoretiker der Gegenwart, stuft Affekte als genetisch festgelegte Dispositionen für bestimmte Verhaltensweisen ein (1998). Im Kontext internalisierter Objektbeziehungen entwickeln sich nach Kernberg die dispositionell vorgegebenen Affekte im Zuge der Reifung der Persönlichkeit. Affektdispositionen seien primäre Motivationssysteme, nicht Triebe wie bei Freud.

      Rainer Krause ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Emotionstheoretiker, der mit seiner Arbeitsgruppe ebenfalls sehr umfangreiche Emotionsforschungen betrieben und affektiv-mimische Gesichtsausdrücke empirisch auf ihre kommunikativen Funktionen hin untersucht hat (2012). Auch er geht von angeborenen, kulturinvarianten primären Affekten aus. »Affekte« beziehen sich ihm zufolge auf körperliche Reaktionen und deren Empfindungen, ohne bewusste Repräsentanz und Erleben, während sich »Gefühl« auf ein bewusstes Wahrnehmen und Erleben situativ hervorgerufener Gegebenheiten zurückführen lasse.

      4.2 Triebe und Körperreize – Ursprünge der Emotionen?

      Wie bereits dargelegt, basiert Freuds Modell auf der Annahme, dass Triebspannungen bei der Entstehung von Affekten entscheidend seien. Er war zu seiner Zeit nicht alleine mit seiner körperbezogenen Auffassung von Emotionen und Affekten, wie die Psyche zu Beginn des letzten Jahrhunderts generell von Psychiatern und Ärzten als grundsätzlich körperverankert angesehen wurde – wenn auch dualistisch – (z. B. Kretschmers Konstitutionspsychologie, 1977), was in weit zurückreichenden Auffassungen vom menschlichen Charakter wurzelte (Hippokrates, 460 bis 377 v. Chr.; Galenus von Pergamon 129 n. Chr.).

      Einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zum Verständnis von Gefühlen stellten die Annahmen von William James und Carl Lange dar. Ihrer Theorie zufolge basieren Gefühle grundsätzlich auf Körpereizen. Der US-amerikanische Psychologe William James von der Harvard University entwickelte die Theorie in seinem Werk »Principles of Psychology« (1890). Körperliche Reaktionen erfolgen demnach direkt auf äußere, aufregende Ereignisse hin, und das Gefühl dieser körperlichen Veränderungen sei die Emotion. Wie genau die Körperwahrnehmung das Gefühl dann produziert, wird in seiner Theorie nicht näher erläutert. Zeitgleich mit James propagierte der dänische Neurophysiologe Carl Lange (1887/2013) einen theoretisch sehr ähnlichen Standpunkt. Die durch die Theorie aufgeworfene und ungeklärte Frage der James-Lange-Theorie – ähnlich dem Henne-Ei-Problem – lautet: Was kommt zuerst?

      Auch Walter B. Cannon studierte und lehrte an der Harvard University, allerdings später als James. Cannon und sein Doktorand Bard verwarfen basale Annahmen der James-Lange-Theorie, indem sie der Auffassung waren, dass der Ausfall von Feedback über viszerale Reize offensichtlich keine Auswirkungen auf einen emotionalen Ausdruck hatte. Somit hatte der Körper ihrer Theorie zufolge keine entscheidende Beteiligung am emotionalen Erleben.

      Clark L. Hull (1952) ging – wie Freud – von einer Triebtheorie aus, derzufolge alle menschlichen Handlungen »energetisiert« seien durch Triebe. Seine Motivationstheorie basierte auf mathematischen und quantitativen Elementen, die gleichwohl in sich nicht fehlerfrei blieb und weiter keine große Beachtung fand. Allerdings bahnte Hull der Entwicklung einer mathematischen Lerntheorie den Weg und somit auch der später daraus hervorgegangenen Verhaltenstherapie. Eine ebenfalls sehr abstrakt-radikale Position nahm Burrhus F. Skinner ein. Alles, was gefühlt werde, basiere nicht auf einer irgendwie gearteten nichtphysikalischen Welt eines Bewusstseins, Geistes oder sonstigen mentalen Lebens. Was wir Menschen fühlten, gehe nicht auf Introspektion zurück. Stattdessen könnten wir uns nur verstehen, indem wir unsere genetische und umgebungsabhängige Geschichte betrachteten. Mentalistische Sichtweisen hätten die Psychologie beschädigt. Falls das, was ein Individuum tue, auf irgendwelche inneren Prozesse zurückgeführt werde, sei jegliche weitere Untersuchung sinnlos. Diese extrem radikale Position führte nach dem Zweiten Weltkrieg zum Aufschwung der Lerntheorie als eines Gegenentwurfs zur – aus Sicht von Skinner – spekulativen Sichtweise psychodynamischer oder humanistischer Theorien vom Menschen und zum Aufschwung der frühen Verhaltenstherapie.

      Philip Zimbardo und Richard J. Gerrig sind die Autoren des bekanntesten Psychologie-Lehrbuchs. Beide forschten an der Stanford University zu unterschiedlichen psychologischen Fragestellungen. Sie sind der Auffassung, dass Triebe interne Zustände des Organismus bewirken, die bestimmte physiologische Prozesse in Gang setzten. Daraus ergebe sich das Motiv für lebende Organismen, einen Zustand der Homöostase bzw. des Gleichgewichts wiederherzustellen (2004). Auch das traditionell immer wieder aktualisierte Dorsch-Lexikon der Psychologie definiert das Affektsystem als mit Organempfindungen verknüpft (Bergius, 2014, S. 102).

      4.3 Abschließende Bemerkungen

      Aus evolutionsbiologischer Perspektive ist das Ziel allen Verhaltens die Sicherstellung der Fortpflanzung und Weitergabe der eigenen Gene. Entsprechend gibt es im Verhalten von Tieren relativ starre Koppelungen von Reizen und Reaktionen, für die im Nervensystem Mechanismen auf genetischer Basis bereitstehen, wie die ethologische Forschung gezeigt hat (Lorenz, 1967; Tinbergen, 1951). Das Verhalten von Tieren folgt meist dem Reiz-Reaktionsschema (S = stimulus, R = reaction). Das Verhalten von Säugetieren allerdings ist bereits komplexer als das von beispielsweise Amphibien oder Insekten.

      »Jeder Hundehalter ist wahrscheinlich mit Recht davon überzeugt, daß sein Tier Emotionen, z. B. Freude und Traurigkeit erlebt. Zwar sind die Instinktbewegungen, wie sie von den Ethologen auch im Verhalten von Säugern beschrieben wurden (vgl. Eibl-Eibesfeld, 1978; Ewer, 1976; Lorenz, 1937; Tinbergen, 1951), dadurch gekennzeichnet, dass bei einer entsprechenden inneren ›Gestimmtheit‹ und dem Vorhandensein eines ›Auslösereizes‹ eine relativ starre Bewegungsabfolge, die eigentliche ›Instinkthandlung‹, ausgelöst wird. Beim sogenannten Appetenzverhalten, das der eigentlichen Instinkthandlung vorausgeht, zeigt sich aber auch schon unterhalb der Organisationsstufe der Säugetiere eine größere Variabilität und Abhängigkeit von der Lerngeschichte des Individuums.

      Das Verhalten von Säugetieren und besonders von Primaten, ist zudem im Vergleich mit den anderen Klassen der Vertebraten und der Invertebraten durch eine größere Flexibilität auch bei den Endhandlungen ausgezeichnet. Ein bestimmter Reiz löst häufig nicht mehr ein bestimmtes Verhalten aus, sondern bestimmt nur die allgemeine Richtung des Verhaltens« (Schneider & Dittrich, 1990, S. 44; Hervorh. bei den Autoren).

      Die auf genetischen Annahmen fußenden Theorien zum Gefühlsleben beim Menschen reichen von relativ starren Reiz-Reaktionsmodellen – bei denen sich der Mensch im Prinzip nicht vom Tier unterscheidet – bis zu sehr differenzierten, individuumsbezogenen Erfahrungs- und Lernhintergründen, allerdings auf der Basis einer biologisch mitgegebenen genetischen Ausstattung, die die grundsätzliche Reaktionsrichtung aufgrund eines bestimmten Reizes oder einer bestimmten Situation vorgibt.

      Emotionen konnten erst auf einer Stufe der Entwicklung der Arten vorteilhaft werden, auf der starre Verknüpfungen von Reiz-Reaktionsschemata zugunsten einer größeren Verhaltensvariabilität (Entscheidungsfreiheit) aufgegeben wurden (Schneider & Dittrich, 1990).

      Zusammenfassung

      • Die Mehrzahl aller Emotionstheorien geht davon aus, dass Gefühle anlagebedingt sind und nicht erworben werden bzw. dass es zumindest angeborene Dispositionen für Gefühlsempfindungen gebe.

      • Daneben gibt es Theorien, die die Abhängigkeit der Emotionen von Triebspannungen betonen, in der Mehrheit psychoanalytische Annahmen.

      • Fast alle Emotionstheorien postulieren eine Körperabhängigkeit der Emotionen, indem Triebspannungen und Körperreize Gefühle auslösen.

      • Die Emotionsforschung zeigt, dass alle Lebewesen über eine basale Ausstattung an emotionalen Reaktionsweisen verfügen, dass sich aber bei komplexeren Lebensformen auch größere Variationsbreiten für emotionale Ausdrucksweisen finden lassen.

      • Diese komplexeren