Название | Geschichten aus dem Alltag |
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Автор произведения | Susanne Wilting |
Жанр | Публицистика: прочее |
Серия | |
Издательство | Публицистика: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783959632263 |
Jenny sieht ihre Freundin verblüfft an. „Jetzt übertreib' mal nicht, Leonie. Kannst du nicht verstehen, dass ich mich abends mal so richtig aufstylen möchte, nicht nur für die Parfümerie? Und die reichen Tussis behandeln mich dann immer noch so abfällig, als ob ich der letzte Dreck wär'. Wie oft hab ich dir das schon erzählt!“
Leonie verliert allmählich die Geduld mit ihrer Freundin bei soviel Leichtsinn. „Du bist dann wenigstens das schönste Mordopfer des Jahres!“ Sie rauscht aus dem Zimmer, die Tür knallt hinter ihr zu. In aller Ruhe beginnt Jenny, die ersten Kleidungsstücke für den Abend auszuwählen.
Am Abend wartet Dieter im Gallo d'oro. Das kleine Lokal ist stimmungsvoll mit Kerzenlicht beleuchtet, im Hintergrund spielt leise italienische Musik. Weil er fest entschlossen ist, sich heute Abend zu verloben, trägt Dieter einen dunklen Anzug.
Ungeduldig beobachtet er die Tür, zerpflückt allmählich die rote Rose, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Immer wieder versucht er in Gedanken, seine einleitenden Worte durchzugehen, aber selbst das misslingt ihm. Wünsche und Satzfetzen wirbeln in seinem Kopf durcheinander. Den festlich gedeckten Tisch hat der Ober schon zweimal diskret wieder hergerichtet und ihm ermutigend zugelächelt. Dieter sieht zur Sicherheit noch einmal auf die Uhr, seine PinkLady hat jetzt mindestens fünfzehn Minuten Verspätung. Sein Handy zeigt keine neue SMS an, obwohl seine PinkLady sich im Chat doch so mitteilungsfreudig gibt. Hektisch blickt er noch mal zur Tür und erstarrt, als eine junge Frau, von Kopf bis Fuß in unterschiedlichen Rosatönen gekleidet, hereinrauscht. Das darf doch nicht wahr sein. Wortwörtlich hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. Barbie alive, denkt der Werbetexter Dieter und schiebt den Gedanken sofort beiseite. Vielleicht ist sie ja nicht seine PinkLady? So jung, so flippig. Dieter fühlt sich jetzt völlig verunsichert.
Selbstbewusst steht die junge Frau im Lokal. Jung, schlank, attraktiv und sehr auffällig. In aller Ruhe schaut sie sich um, scheint sogar die Aufmerksamkeit der anderen Gäste zu genießen, dann steuert sie lächelnd auf Dieter zu und bleibt vor ihm stehen.
Sie streckt die Hand aus und sagt mit kindlich heller Stimme „Ich bin PinkLady. Ich mein, ich heiße Jenny. Bist du Husband2000? Und wie heißt du?“
Dieter sitzt steif auf seinem Stuhl und macht nicht einmal den Versuch, aufzustehen. Er starrt Jenny nur ungläubig an.
„Du bist gar nicht meine Verabredung? Sorry, Mann!“ Sie dreht sich um und mustert aufmerksam die anderen Tische.
Dieter sagt in ihrem Rücken „Entschuldige, natürlich bin ich deine Verabredung. Ich heiße Dieter. Setz dich doch, bitte.“
Sie blickt über die Schulter, lächelt entwaffnend.
Als die beiden bei einem Sanbitter auf ihre Pasta warten, beruhigt sich Dieter etwas, während Jenny zur Hochform aufläuft. Ohne Punkt und Komma plappert sie über italienisches Essen, ihre Vorliebe für die Farbe Pink, Freundin Leonie, Partys, und, und, und. Dieter fragt sich, ob sie überhaupt Luft holt. Ein ernsthaftes Thema streift sie nicht einmal am Rand und Dieters Enttäuschung wird immer größer. Per Internet waren ihre gemeinsamen Gespräche ganz anders verlaufen, erwachsen, manchmal sogar richtig tiefsinnig. Deshalb weiß er ja so genau, dass sein Lebenstraum sich heute erfüllen wird. Soll er sich auf sein Gefühl verlassen und einfach fragen?
Er beobachtet die junge, schrille und egozentrische Person, die ihm gegenübersitzt und die ihm bis jetzt keine einzige persönliche Frage gestellt hat.
Endlich fasst er sich ein Herz und unterbricht Jennys Redestrom. „Wie stellst du dir denn deine Lebensplanung so vor? In den nächsten Jahren, mein ich?“ So einem sensiblen Thema will er sich vorsichtig nähern. Jenny überrascht ihn mit ihrer Antwort.
„Ich möcht' soviel Party wie möglich machen! Bei dem Job in der Parfümerie brauch' ich das einfach, so als Ausgleich.“
Wie versteinert sitzt Dieter auf seinem Stuhl.
„Ja, und geile Klamotten will ich!“
Das darf doch nicht wahr sein! Was geschieht gerade mit seinem Traum, der heute wahr werden soll? So schnell gibt Dieter nicht auf. „Nein, ich meine natürlich ernsthafte Pläne, Jenny, so für die nächsten zwei, drei Jahre.“ Er gibt sich einen Ruck, seine Gefühle können nicht falsch sein, unmöglich. Jetzt! Entschlossen greift er über den kleinen Tisch nach ihrer Hand. „Was ich eigentlich meine … Möchtest du meine Frau werden?“
Jennys fröhliches Lachen schallt durch das ganze Lokal. „Bist du total verrückt? Deshalb dein bescheuerter Mitgliedsname! Ich wollte nur schick italienisch essen, bevor ich nachher auf die angesagte Schwabinger Single-Party gehe.“
Fassungslos sieht Dieter sie an, er hat das Gefühl, alles in ihm wird ausgelöscht, für immer. In seinem Kopf hämmert es ohne Unterlass: „Mein Traum! Mein Lebenstraum! Mein armer Lebenstraum!“
Jennys schrille Stimme holt ihn wieder unsanft in die Realität: „Dieter? Das hast du doch nicht ernst gemeint, oder? Sag doch was!“ Scharf beobachtet sie Dieter ein paar Sekunden. „Scheiße, Mann! Immer hat Leonie Recht mit ihren blöden Andeutungen! Egal. Ich will jetzt zu der Party!“
Dieter gibt sich einen Ruck, versucht zu lächeln. Irgendwie schafft er es zu funktionieren. „Ja, natürlich, die Single-Party. Ich bezahl' die Rechnung, dann bring ich dich zur S-Bahn.“
Jenny nickt erleichtert. Als sie das Lokal verlassen, macht Dieter einen entspannten Eindruck auf sie. Schweigend gehen die beiden Richtung S-Bahn-Station, Dieter wie ein Schlafwandler, Jenny redet schon wieder in Endlos-Schleife, erzählt von den Party-Gästen, die sie kennt und über ihre bevorzugten Outfits. Die Schweigsamkeit ihres Begleiters fällt ihr nicht auf, denn ausführlich beschreibt sie das vierte Partykleid.
Wie immer ist der Bahnsteig am Samstagabend hoffnungslos überfüllt. Als Jenny auf die Anzeigetafel schaut, die ihren Zug in weniger als einer Minute ankündigt, sagt sie beiläufig:
„Ach übrigens, tolles Essen, danke. Aber viel mehr freu' ich mich jetzt auf die Party!“
Dieter nickt, Jenny blickt ungeduldig in den Tunnel. In dem Moment kommt der Zug aus dem Dunkel geschossen. Kurz entschlossen gibt Dieter ihr einen kräftigen Stoß. Als rosa Knäuel fällt Jenny direkt vor den einfahrenden Zug. Im Tumult der schreienden Menschen und kreischenden Bremsen dreht Dieter sich um. Ruhig verlässt er den S-Bahnhof.
Harald
Verzaubert fotografiert Harald seit einer halben Stunde. Die kleine, nahezu original erhaltene, perfekt restaurierte Krypta, fordert sein ganzes Können als Hobbyfotograf. Nachdem er gestern Abend das Kapitel über den Dom San Pietro im Kunstreiseführer über Venetien überflogen hat, weiß er, dass er in einem einheitlich romanischen Sakralbau steht und die Steinmetz-Arbeiten für diese Region ganz außergewöhnliche Motive zeigen. Wie im Rausch lichtet er eine Bilderserie der Säulenkapitelle ab, die in wilder Reihenfolge Pflanzen, Obst, Dämonen und Tiere mit symbolischer Bedeutung zeigen. Danach setzt er sich für einen Moment auf einen kleinen, wackligen Holzstuhl und genießt die Stille und die Atmosphäre der dämmrigen Unterkirche.
Doch sofort stutzt er, gleichzeitig ärgert er sich auch schon, denn in einer Ecke hat er eine große Kunststoff-Madonna entdeckt, die ein grelles, himmelblaues Gewand trägt und auf einer halbhohen Säule steht. Den Heiligenschein bildet eine Neonröhre, die gelblich, aber viel zu intensiv für die Umgebung leuchtet. Zu Füßen der Madonna brennen auf einem Ständer in mehreren Ebenen viele, kleine Wachslichter. Haralds ästhetisches Empfinden rebelliert bei diesem Anblick und er kommt auf die Idee, in das Münzfach für die Wachslichter einen Notizzettel mit der Aufschrift „Geschmacklosigkeit!“, einzuwerfen. Doch die kitschige Plastikfigur, die einen drastischen Kontrast zur Krypta bildet, scheint bei der Gemeinde ausgesprochen beliebt zu sein. Ganz frische, üppige Blumensträuße schmücken die Figur in lockerem Halbkreis. Ein Heiligenschein aus Blumen, denkt Harald zynisch. Dann beruhigt er sich. Eine alberne Idee, sogar verletzend, einen so abwertenden Zettel einzuwerfen. Jetzt fühlt er sich wirklich urlaubsreif. Ruckartig dreht Harald den Stuhl so, dass er die Madonna aus seinem Blickfeld verbannt. Noch einmal schaut er flüchtig in den schmalen