Название | Ein Zimmer für sich allein |
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Автор произведения | Virginia Woolf |
Жанр | Языкознание |
Серия | Reclam Taschenbuch |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159618562 |
Wäre rein zufällig ein Aschenbecher zur Hand gewesen, hätte man mangels dessen die Asche nicht aus dem Fenster geschnippt, wären die Dinge ein wenig anders gewesen, als sie waren, hätte man vermutlich nicht die Katze ohne Schwanz gesehen. Der Anblick dieses abrupt endenden und gestutzten Tieres, wie es sachte über den Innenhof stapfte, veränderte durch eine Laune des unbewussten Verstandes für mich die Gefühlslage. Es war, als hätte jemand einen Vorhang beiseitegezogen. Vielleicht lockerte der ausgezeichnete weiße Rheinwein seinen Griff. Auf jeden Fall schien irgendetwas zu fehlen, irgendetwas anders zu sein, als ich beobachtete, wie die Manxkatze mitten auf dem Rasen innehielt, als stelle auch sie das Universum in Frage. Aber was fehlte, was war anders, fragte ich mich, den Gesprächen lauschend. Und um diese Frage zu beantworten, musste ich mich aus dem Zimmer wegdenken, zurück in die Vergangenheit, ja, bis vor dem Krieg, und mir das Bild einer anderen Mittagsgesellschaft vor Augen rufen, die in Räumlichkeiten stattgefunden hatte, die nicht sehr weit von diesen entfernt waren, aber anders war. Alles war anders. Derweil lief die Unterhaltung zwischen den Gästen weiter, die zahlreich und jung waren, einige von diesem Geschlecht, andere von jenem, sie plätscherte dahin, angenehm, ungezwungen, amüsant. Und während sie so weiterlief, stellte ich sie vor den Hintergrund der anderen Unterhaltung, und als ich die beiden miteinander verglich, hegte ich keinen Zweifel, dass die eine die Nachfahrin und legitime Erbin der anderen war. Nichts hatte sich verändert, nichts war anders, außer – hier war ich ganz Ohr nicht allein für das, was gesagt wurde, sondern auch für das darunterliegende Gemurmel und Rauschen. Ja, das war es – dort lag die Veränderung. Vor dem Krieg hätten die Leute bei einer Mittagsgesellschaft wie dieser ganz genau die gleichen Dinge gesagt, aber sie hätten anders geklungen, denn in jenen Tagen wurden sie von einer Art Summen begleitet, nicht artikuliert, aber melodisch, aufregend und das Gewicht der Worte verändernd. Konnte man dieses Summen in Worte fassen? Vielleicht kann man es mit der Hilfe von Dichtern. Neben mir lag ein Buch, ich schlug es auf und stieß rein zufällig auf Tennyson. Und hier fand ich, was Tennyson sang:
There has fallen a splendid tear
From the passion-flower at the gate.
She is coming, my dove, my dear;
She is coming, my life, my fate;
The red rose cries, »She is near, she is near«;
And the white rose weeps, »She is late«;
The larkspur listens, »I hear, I hear«;
And the lily whispers, »I wait.«14
Die Leidensblume, die das Tor umspinnt, / Sie weint und silberhell die Träne rinnt. / Die Taube kommt, mein Lieb, mein einzig Glück, / Sie kommt, sie kommt, mein Leben, mein Geschick. / Die rote Rose sagt: »Sie naht mit Beben«; / Die weiße Rose sagt: »Ich harrte lange«; / Es lauscht der Rittersporn: »Ich hör es schweben«; / Die Lilie flüstert: »Oh, ich warte bange.«
War es das, was Männer vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten? Und die Frauen?
My heart is like a singing bird
Whose nest is in a water’d shoot;
My heart is like an apple tree
Whose boughs are bent with thick-set fruit;
My heart is like a rainbow shell
That paddles in a halcyon sea;
My heart is gladder than all these
Because my love is come to me.15
Mein Herz singt wie ein Vogel singt / Im Nest an einer Schilfrohrbucht; / Mein Herz bebt wie ein Birnbaumzweig / Gebeugt von dichtgedrängter Frucht; / Mein Herz schwankt wie in heiterer See / Fünffarbig quirlt ein Muscheltier; / Mein Herz ist froher als all dies: / Es kam mein Liebster heut zu mir.
War es das, was Frauen vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten?
Es lag etwas so Groteskes in dem Gedanken, dass Leute bei Mittagsgesellschaften vor dem Krieg derartige Dinge, wenn auch nur im Flüsterton, vor sich hin summten, dass ich laut auflachte und dieses Lachen erklären musste, indem ich auf die Manxkatze deutete, die tatsächlich ein wenig absurd aussah, das arme Tier, so ohne Schwanz, mitten auf dem Rasen. War sie wirklich so geboren worden, oder hatte sie ihren Schwanz bei einem Unfall verloren? Schwanzlose Katzen sind, auch wenn es ein paar auf der Isle of Man geben soll, seltener, als man denkt. Es sind sonderbare Tiere, eher kurios als schön. Es ist doch merkwürdig, welch einen Unterschied ein Schwanz16 macht – Sie wissen schon, all die Dinge, die man so sagt, wenn eine Mittagsgesellschaft im Aufbruch begriffen ist und die Leute nach ihren Mänteln und Hüten suchen.
Diese hier hatte sich, dank der Gastfreundschaft des Gastgebers, bis spät in den Nachmittag hingezogen. Der schöne Oktobertag schwand dahin, und die Blätter fielen von den Bäumen der Allee, auf der ich hinausging. Tor auf Tor schien sich mit sanfter Endgültigkeit hinter mir zu schließen. Unzählige Pedelle drehten unzählige Schlüssel in gut geölten Schlössern, das Schatzhaus wurde für eine weitere Nacht gesichert. Von der Allee gelangt man auf eine Landstraße – ich habe ihren Namen vergessen –, die einen, wenn man die richtige Abzweigung nimmt, nach Fernham führt. Aber es war noch viel Zeit. Abendessen gab es nicht vor halb acht. Nach so einem Mittagstisch konnte man beinahe ohne Abendessen auskommen. Schon seltsam, wie einem ein Fetzen Poesie im Kopf herumgeht und die Beine im Takt dazu die Straße entlang bewegt. Diese Worte –
There has fallen a splendid tear
From the passion-flower at the gate.
She is coming, my dove, my dear –
sangen in meinem Blut, als ich geschwind Richtung Headingley17 ausschritt. Und dann sang ich, wo das Wasser vom Wehr aufgewühlt wird, in den anderen Rhythmus wechselnd:
My heart is like a singing bird
Whose nest is in a water’d shoot;
My heart is like an apple tree …
Was für Dichter, rief ich laut, wie man es in der Dämmerung tut, was für Dichter sie doch waren!
In einer Art von Eifersucht, vermute ich, wegen unseres eigenen Zeitalters, fragte ich mich dann, so abwegig und dumm diese Vergleiche auch sein mögen, ob man ehrlicherweise zwei lebende Dichter benennen könnte, die heute so bedeutend sind wie Tennyson und Christina Rossetti damals. Offenbar ist es unmöglich, so dachte ich, in das schäumende Wasser blickend, sie miteinander zu vergleichen. Der eigentliche Grund, warum jene Dichtung bei uns eine solche Begeisterung, ein solches Entzücken hervorruft, liegt darin, dass sie ein Gefühl zelebriert, das wir (etwa bei Mittagsgesellschaften vor dem Krieg) zu haben pflegten, so dass wir leicht und unbeschwert darauf ansprechen, ohne uns damit zu belasten, das Gefühl zu überprüfen oder es mit einem zu vergleichen, das wir gegenwärtig empfinden. Doch die lebenden Dichter geben einem Gefühl Ausdruck, das gerade erst entsteht und sogleich aus uns herausgerissen wird. Man erkennt es anfangs nicht, oft fürchtet man es aus irgendeinem Grund, beobachtet es scharf und vergleicht es eifersüchtig und argwöhnisch mit dem alten Gefühl, das man kannte. Daher rührt die Schwierigkeit der modernen Dichtung, und eben wegen dieser Schwierigkeit kann man sich nicht an mehr als zwei aufeinanderfolgende Zeilen irgendeines guten modernen Dichters erinnern. Aus diesem Grund – weil mich mein Gedächtnis im Stich ließ – erlahmte meine Beweisführung aus Mangel an Belegen. Aber warum, so fuhr ich fort, während