Название | Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus |
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Автор произведения | Charles Dickens |
Жанр | Языкознание |
Серия | Reclam Taschenbuch |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159618814 |
»Aber, aber, das ist doch Unsinn!«, rief der Herr in der weißen Weste. »Selbst ohne Lehrgeld würdet Ihr mit dem Jungen noch ein gutes Geschäft machen. Seid nicht dumm, nehmt ihn! Er ist der rechte Bursche für Euch. Hin und wieder braucht er den Stock, das wird ihm nur guttun, und seine Verpflegung dürfte Euch kaum teuer zu stehen kommen, denn in dieser Hinsicht ist er in seinem Leben bisher nicht sonderlich verwöhnt worden, hahaha!«
Mr. Gamfield blickte bauernschlau in die Runde und begann, da er auf allen Gesichtern ein Lächeln erkennen konnte, ebenfalls vorsichtig zu lächeln. Man war sich handelseinig. Mr. Bumble wurde umgehend angewiesen, Oliver Twist noch am selbigen Tag samt Lehrvertrag zur Unterschrift und Genehmigung vor den Amtsrichter zu führen.
In Ausführung dieses Beschlusses wurde der kleine Oliver zu seinem großen Erstaunen aus der Gefangenschaft entlassen und angewiesen, sich in ein sauberes Hemd zu kleiden. Kaum hatte er diese ungewohnte Leibesübung ausgeführt, als Mr. Bumble ihm eigenhändig einen Napf Haferschleim brachte und dazu die Feiertagsration von einem achtel Pfund Brot. Bei diesem ungeheuerlichen Anblick begann Oliver jämmerlich zu weinen, da er, was man nachvollziehen kann, dachte, der Vorstand müsse entschieden haben, ihn zu irgendeinem nützlichen Zwecke zu töten, denn warum sonst sollten sie beginnen, ihn derart zu mästen.
»Heul dir nicht die Augen aus, Oliver, sondern iss und sei dankbar«, sagte Mr. Bumble mit wichtiger Miene. »Du kommst jetzt in die Lehre, Oliver.«
»In die Lehre?«, fragte das Kind bange.
»Jawohl, Oliver«, antwortete Mr. Bumble. »Die gütigen und segensreichen Herren, die dir deine Eltern ersetzen, da du ja keine hast, wollen dich in die Lehre geben. Sie werden dir den Weg ins Leben ebnen und einen Mann aus dir machen, obwohl es die Gemeinde drei Pfund und zehn Shilling kostet, Oliver! Siebzig Shilling! Einhundertundvierzig Sixpence! Und all das bloß für einen ungezogenen Waisenjungen, den niemand mag.«
Als Mr. Bumble innehielt, um nach dieser Ansprache, die er in ehrfurchtgebietendem Ton gehalten hatte, Atem zu holen, liefen dem armen Jungen die Tränen übers Gesicht, und er schluchzte bitterlich.
»Na, na«, sagte Mr. Bumble ein wenig milder, denn es verschaffte ihm ein Gefühl der Zufriedenheit, zu sehen, welche Wirkung seine Redekunst hervorgerufen hatte. »Na, na, Oliver! Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab, und heul nicht in den Haferschleim, das ist dumm von dir, Oliver.« Womit er recht hatte, denn dieser war schon wässrig genug.
Auf dem Weg zum Amtsrichter schärfte Mr. Bumble Oliver ein, er brauche nichts weiter zu tun, als möglichst fröhlich dreinzuschauen und, wenn der Herr Richter ihn frage, ob er denn in die Lehre gehen wolle, zu antworten, er könne sich nichts Schöneres vorstellen. Oliver versprach, beiden Anweisungen Folge zu leisten, umso mehr, da Mr. Bumble dunkel andeutete, dass, falls er auch nur den geringsten Ungehorsam zeigen sollte, nicht abzusehen sei, was mit ihm geschähe. Als sie beim Amt eintrafen, wurde er allein in ein kleines Zimmer gesperrt und von Mr. Bumble ermahnt, sich nicht vom Fleck zu rühren, bis er ihn holen komme.
Dort wartete der Junge mit klopfendem Herzen eine halbe Stunde lang. Als diese Zeit verstrichen war, steckte Mr. Bumble seinen Kopf, der Zierde des Dreispitzes entblößt, herein und sagte mit lauter Stimme:
»Oliver, mein Bester, komm jetzt zu dem Herrn.« Dabei setzte Mr. Bumble eine grimmige und bedrohliche Miene auf und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Denk dran, was ich dir gesagt habe, du kleiner Halunke!«
Auf diese widersprüchliche Anrede hin blickte Oliver Mr. Bumble unschuldig ins Gesicht, der Büttel gab ihm jedoch keinerlei Gelegenheit, etwas zu erwidern, sondern führte ihn sofort durch eine offenstehende Tür ins benachbarte Zimmer. Es war ein geräumiger Saal mit großem Fenster. Hinter einem Schreibpult saßen zwei alte Herren mit gepuderten Perücken auf dem Kopf. Der eine las in der Zeitung, während der andere mit Hilfe einer Hornbrille ein kleines, vor ihm liegendes Dokument prüfte. Mr. Limbkins stand auf der einen Seite vor dem Pult, und Mr. Gamfield, mit flüchtig gewaschenem Gesicht, auf der anderen, während zwei oder drei derb aussehende Männer in Stulpenstiefeln müßig umhergingen.
Der alte Herr mit der Brille döste allmählich über dem kleinen Dokument ein, und nachdem Oliver von Mr. Bumble vor das Pult postiert worden war, entstand eine kurze Pause.
»Das ist der Junge, Euer Ehren«, sagte Mr. Bumble.
Der alte Herr, der in der Zeitung las, hob kurz den Kopf und zupfte den anderen alten Herrn am Ärmel, woraufhin zuletzt Genannter aufwachte.
»Oh, das ist also der Junge?«, fragte der alte Herr.
»Das ist er«, erwiderte Mr. Bumble. »Verbeuge dich vorm Herrn Richter, mein Guter.«
Oliver schreckte auf und machte seinen schönsten Diener. Er hatte sich, die gepuderten Perücken der Richter betrachtend, gerade gefragt, ob alle Amtspersonen mit diesem weißen Stoff auf ihren Köpfen geboren würden und aus diesem Grund sogleich ein Amt erhielten.
»Nun«, sagte der alte Herr, »ich nehme an, ihm gefällt das Kaminkehren?«
»Er ist ganz versessen darauf, Euer Ehren«, entgegnete Bumble, wobei er Oliver verstohlen zwickte, um ihm zu verstehen zu geben, besser nichts Gegenteiliges zu behaupten.
»Und er möchte wirklich gern Kaminkehrer werden, nicht wahr?«, erkundigte sich der alte Herr weiter.
»Gäben wir ihn woanders in die Lehre, würde er noch am selben Tag fortlaufen«, antwortete Mr. Bumble.
»Und dieser Mann soll sein Lehrherr werden? Ihr, Sir … Ihr werdet ihn doch gut behandeln, ihn verpflegen und all das, nicht wahr?«, fragte der alte Herr.
»Wenn ich was sach, tu ich’s auch«, erwiderte Mr. Gamfield verdrossen.
»Eure Rede klingt ungeschliffen, mein Freund, aber Ihr seht mir wie ein braver und rechtschaffener Mann aus«, meinte der alte Herr und richtete seine Brille auf den Anwärter für Olivers Lehrgeld, dessen Schurkengesicht einem ordnungsgemäß abgestempelten Beleg für Grausamkeit gleichkam. Doch der Richter war halb blind und halb kindisch, also konnte man von ihm nicht ernsthaft erwarten, das zu erkennen, was anderen offensichtlich erschien.
»Das will ich doch hoff’n, Sir«, brummte Mr. Gamfield mit einem scheelen Seitenblick.
»Ich zweifle nicht daran, dass dem so ist, mein Freund«, entgegnete der alte Herr, rückte die Brille auf der Nase zurecht und schaute sich suchend nach dem Tintenfass um.
Dies war ein entscheidender Augenblick für Olivers Schicksal. Wäre das Tintenfass dort gestanden, wo der alte Herr es vermutete, hätte er seine Schreibfeder eingetaucht und den Lehrvertrag unterzeichnet, und Oliver wäre unverzüglich fortgeschafft worden. Da es aber zufällig direkt vor seiner Nase stand, suchte er natürlich den ganzen Tisch danach ab, ohne fündig zu werden. Bei dieser Suche fiel sein Blick auf das bleiche und entsetzte Antlitz Oliver Twists, der ungeachtet aller warnenden Blicke und Winke Mr. Bumbles die abstoßende Visage seines künftigen Lehrherrn betrachtete, mit einer Mischung aus Angst und Schrecken, die zu eindeutig war, um missverstanden zu werden, auch nicht von einem halbblinden Richter.
Der alte Herr hielt inne, legte die Schreibfeder nieder und sah von Oliver zu Mr. Limbkins, der versuchte, mit heiterer und unbekümmerter Miene eine Prise Schnupftabak zu nehmen.
»Mein Junge«, sagte der alte Herr über das Pult gelehnt. Oliver fuhr bei diesen Worten zusammen, was verständlich ist, denn sie wurden in einem freundlichen Ton gesprochen, und ungewohnte Laute können einen durchaus erschrecken. Er bebte am ganzen Leib und brach in Tränen aus.
»Mein Junge«, sagte der alte Herr, »du siehst blass und verängstigt aus, was bedrückt dich?«
»Tretet ein wenig zur Seite, Büttel«, befahl der andere Richter, legte die Zeitung fort und beugte sich mit aufmerksamer Miene vor.
»Jetzt erzähle uns, was dich bedrückt, mein Junge. Hab keine Angst.«
Oliver fiel auf die Knie und flehte mit gefalteten Händen, sie sollten ihn wieder in die finstere Kammer sperren, ihn hungern lassen, prügeln oder gar töten, wenn sie wollten, aber bloß nicht