Hendrix’ Cherokee-Erbe durch Großmutter Nora und auch Clarice Lawson Jeter, seiner Großmutter mütterlicherseits, hinterließ einen bleibenden Eindruck bei Jimmy, der auch später immer wieder von seiner indianischen Abstammung sprechen sollte. (In William Saunders Jimi Hendrix London wird einer der witzigsten Kommentare von Hendrix wiedergegeben. Als man ihm das Artwork für Axis: Bold As Love zeigte, das ein pseudo-religiöses Hindu-Bild zeigt, das Track Records veröffentlichen wollte, meinte er: „So ein Inder bin ich aber nicht!“ („I ain’t that kind of Indian!“) [Im englischen Sprachgebrauch bezieht sich das Substantiv „Indian“ sowohl auf Indianer (als Ureinwohner Amerikas) als auch Inder (als Bewohner Indiens); Anm.]. Es war Hendrix’ Pochen auf die indianische Blutlinie und nicht auf die Herkunft als Schwarzer, das wesentlich dazu beitrug, ihn keiner Rasse zugehörig erscheinen zu lassen. Dadurch stellte er für weiße Rockmusiker keine Provokation dar, die Hendrix und seine Musik schätzten.
Jimmy lebte mit seinen Eltern ab Oktober 1949 neuerlich in Seattle. Im Herbst des folgenden Jahres kam eine Schwester zur Welt, doch Kathy Ira war blind, woraufhin man sie der Obhut des Staates übergab. Eine weitere Schwester mit dem Namen Pamela wurde im Oktober 1950 geboren, jedoch in eine Pflegefamilie abgeschoben. Al Hendrix’ Weigerung, eine Operation zur Korrektur von Joseph Allens Behinderung zu bezahlen, führte dazu, dass ihn Lucille im Herbst 1951 schließlich verließ. Jimmy wurde daraufhin von seinen Großmüttern, einer Tante Dolores, Freunden und Nachbarn großgezogen, die Mitleid für den späteren Superstar und seinen Bruder Leon empfanden, die Al oft alleinließ, während er seine Laster auslebte.
Bei Lucille zeigen sich einige Gemeinsamkeiten mit der Mutter eines anderen berühmten Rock’n’Rollers: John Lennons Julia. Die beiden lassen sich als Partygirls beschreiben, die viel zu jung geheiratet haben. Sie mochten ein lockeres und unbeschwertes Leben und waren für ihre Söhne weniger eine Mutter, sondern eher eine ältere Schwester oder „heiße“ Tante. Dennoch standen die Hendrix-Jungs Lucille näher als Al. Leon erzählte dem Biografen Charles R. Cross einmal, dass er und Jimmy „absichtlich Ärger bereiteten, damit wir unsere Mutter besuchen durften. Mein Dad hatte das als Bestrafung auserkoren. ‚Wenn ihr euch nicht benehmt, müsst ihr am Wochenende zu eurer Mutter!‘ Und genau das wollten wir ja!“
Lucille war erst einen Monat mit ihrem zweiten Mann William Mitchell verheiratet, als sie am 2. Februar 1958 verstarb. Auf ihrem gemauerten Grabstein im Greenwood Memorial Park in Renton, Washington, steht sein Nachname (also Mitchell) und nicht Hendrix. Ihr Sohn (Joseph Allen) fand zwölf Jahre später auf demselben Friedhof seine letzte Ruhe. (Es ist ein bemerkenswerter Zufall, dass bestimmte Namen aus Hendrix’ Kindheit auf dem Höhepunkt seiner Karriere eine wichtige Rolle spielten. Die von ihm bevorzugten Verstärker trugen seinen zweiten Vornamen Marshall, und Mitchell hieß sein Lieblings-Drummer.)
Lucille verstarb an einer inneren Blutung infolge einer Milzruptur. Doch nach ihrem Tod wurde die Mutter als Mythos wiedergeboren. Leon erinnerte sich daran, dass Jimmy ihm erzählte, seine Mutter sei ein Engel. Ein Grund, warum sie für Jimmy nach dem Tod so eine mythische Rolle besetzte, lag in Als Ablehnung seines ältesten Sohnes. Zwar gab er sich öffentlich ihm gegenüber respektvoll – aber trotz der „Verklärung“ der Vergangenheit bei Interviews und in seinem Buch My Son Jimi war er ein schäbiger, distanzierter Mensch, der Leon bevorzugte (bis er ihn verdächtigerweise und unerwartet in den Neunzigern aus seinem Testament strich und ihm lediglich eine Goldene Schallplatte vererbte.)
Al forderte seine Söhne auf, den Tod der Mutter wie richtige Männer hinzunehmen, was in dem Fall bedeutete, dass sich beide „Männer“ einen Schuss des hochprozentigen Seagram’s 7 hinter die Binde kippten. Al verbot den Söhnen, der Beerdigung ihrer Mutter beizuwohnen, woraufhin sich Hendrix’ Verhältnis zu seinem Vater – das nie eng war – noch weiter verschlechterte. Man kann in der Kindheit einige wichtige Muster ausmachen, die sich im späteren Leben des Gitarristen wiederholen sollten. Die abwesenden Eltern und die ständige Abschiebungen zu Verwandten und Freunden bilden die Quelle für seine Unfähigkeit, zuerst tiefere, bedeutsame Beziehungen zu anderen Kids in der Nachbarschaft einzugehen und später zu Frauen und sogar zu seinen Musikern und Produzenten.
Ob man es glauben mag oder nicht: Besen finden sich unter den Gegenständen, die häufig in Hendrix’ Erinnerungen an seine Jugend auftauchten [Als Symbole des „Auskehrens“ und des Neuanfangs; Anm.]. Nachdem man sich das vergegenwärtigt hat, wirkt der Text von „The Wind Cries Mary“ als Offenbarung, speziell die Zeile „A broom is drearily sweeping up the broken pieces of yesterday’s life“ („Ein Besen fegt verbittert zerbrochene Stücke des vergangenen Lebens hinweg“). Es ist einer der ersten Texte, bei denen sich autobiografische Elemente wiederfinden und der sich nicht auf das Leben „on the road“ bezieht.
Shirley Harding (die Tochter von Dorothy Harding, einer Freundin der Familie) erzählte Kindern Gute-Nacht-Geschichten, unter anderem auch dem jungen Jimmy. In den Storys tauchten drei Charaktere auf, darunter Roy, der Sweeping Boy (er basierte auf dem Vorbild Jimmys, der immer die Küche der Familie ausfegte), der einen Tages „wegen seiner ‚Besengitarre‘ reich und berühmt“ sein würde, wie sich Ebony Harding in einem Gespräch mit dem Autor Charles R. Cross erinnerte.
Das mag zuerst wie ein unbedeutendes Detail anmuten, doch ab ungefähr 1953 hielt Jimmy bei jeder Gelegenheit Besen in den Händen und „spielte“ zu den Songs im Radio. Sein Bruder erinnerte sich, dass er sogar einen Besen in die Schule mitnahm. Ein Schulberater versuchte die Schulleitung zu überreden, Geld zur Anschaffung einer Gitarre für Jimmy aufzutreiben, wobei er darauf hoffte, dass das dessen schulische Leistungen verbessern helfen würde. (Schaut man sich Konzertfotos von Hendrix an, hält er gelegentlich den Gitarrenhals wie einen Besenstiel.)
Ich möchte Sie nun auf einen „Drachenflug“ [Anspielung auf den Text von „Spanish Castle Magic“, Anm.], eine schnelle Reise von Seattle nach New York City mitnehmen, bei dem ich Jimmys erstes Equipment vorstelle und die Bands, mit denen er spielte. Allerdings hatte er keine enge Beziehung zu den ersten Instrumenten, da er sie oft versetzen musste. Seine erste Gitarre war eine Ukulele, gefolgt von einer Akustik-Gitarre mit nur einer Saite, für nur fünf Dollar von Ernestine Benson gekauft, einer Freundin der Familie, die das Geld lockermachte, da Al sich sträubte. (Das unterstreicht übrigens den Ratschlag von Keith Richards in seiner Autobiografie Life, dass man Kindern als Erstes eine Akustik-Gitarre geben solle, da sie in dem Zusammenhang eine bessere Finger-Koordination erlernten.) Jimmy schnallte sich die Gitarre auf den Rücken (mit dem Hals nach unten zeigend) und spazierte damit durch die Gegend, ähnlich dem Helden, den er in dem Nicholas-Ray-Streifen Johnny Guitar gesehen hatte.
Der aufstrebende Musiker hörte sich jeden Gitarristen an – Künstler, deren Konzerte aus der Ole Grand Opry im Radio übertragen wurden, die Blues-Platten von Ernestine Benson und auch Musik von Duane Eddy. Er sah sogar Elvis Presley (von einem hohen Hügel aus, der das Sicks’ Stadium überragte) sowie Little Richard – und wusste, dass er eine elektrische Gitarre haben musste. Erneut kam Ernestine Benson als Rettung ins Spiel, da sie Jimmys Vater zu Myer’s Music jagte, um ihm eine weiße Supra Ozark zu kaufen.
Als ersten Song lernte Jimmy Hendrix „Tall Cool One“ von den Fabulous Wailers, da er sich mit der E-Gitarre eventuell auch größer und cooler vorkam. Doch wie das Schicksal es wollte, wurde ihm die Supra gestohlen, als er sie in der Garderobe des Birdland stehenließ, einem Club in Seattle, in dem Jimmys zweite Band, die Rocking Kings, auftrat. (Der Name seiner ersten Gruppe lautete The Velvetones.)
Einige glauben, dass er die Gitarre aus Angst vor seinem unberechenbaren Vater im Club zurückließ. Der Schulfreund Sammy Drain erzählte der Autorin Sharon Lawrence, dass Al die von Jimmy gespielte Musik manchmal als „Teufelsmusik“ bezeichnet habe. Jimmys Vater wollte die Leichtsinnigkeit seines Sohnes nicht mit einer neuen