Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger

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Название Mein großes Geheimnis
Автор произведения Buzz Bissinger
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия Fernsehen
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854456377



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dahinter ist, dass mein Leben ansonsten keine echten Kicks mehr bietet (es sei denn, dass man eine Runde Golf gegen sich selbst als aufregend bezeichnen wollte, und das wäre nach meiner Erfahrung wirklich übertrieben). Das Leben mit den Kardashian-Frauen und mit Kendall und Kylie hat natürlich viele Höhepunkte, sicher. Sie sind alle faszinierend, und tatsächlich wird schon bald Keeping Up With The Kardashians viele Millionen Zuschauer vor die Fernsehschirme locken. Meine eigene Rolle in dieser Reality-Show ist die eines gutmütigen, aber etwas tapsigen Patriarchen, der kein eigenes Leben hat, von den Frauen um ihn herum komplett dominiert wird und nur das tut, was seine Gattin ihm sagt.

      Eine völlig wahrheitsgetreue Darstellung also.

      Nach einer langen Runde durch die Lobby drehe ich mich um und kehre in mein Zimmer zurück. Ich halte mich nirgendwo lange auf. Bleibe nie stehen. Gehe nie ins Restaurant. Stattdessen bleibe ich lieber in den Winkeln und Ecken, und ich vermeide möglichst jeglichen Augenkontakt, weil mir genau bewusst ist, dass ich ausgecheckt werde. Schließlich weiß ich nur zu gut, wie das aussieht; Bruce Jenner ist schon viele tausend Male ausgecheckt worden.

      Aber jetzt gibt es einen anderen Grund für die Blicke. Vor einer Entdeckung habe ich keine Angst, denn selbst wenn jemand meinte, er hätte Bruce Jenner in einem Kleid gesehen (was ja stimmt), dann würde er das vermutlich selbst nicht glauben, jedenfalls nicht, falls er zu denen gehört, die sich noch an die Olympiade damals erinnern. Bruce Jenner ist einfach der letzte, dem man so etwas zutrauen würde. Mich kümmert nur eins: ob ich glaubwürdig aussehe. Das erkenne ich an der Länge der Blicke, die man mir zuwirft. Ein kurzer heißt: Nichts Besonderes, eine Frau wie alle anderen. Hinter einem längeren könnte eine fatale Überlegung stehen: Wer zur Hölle ist das denn? Manchmal finde ich, dass ich verdammt gut aussehe. Manchmal fühle ich mich aber auch wie eine dünne Ausgabe von Bibo aus der Sesamstraße, der überall heraussticht und über den alle kichern, wenn er vorübergeht. Altwerden hat ja wenig gute Seiten, aber eine gibt es: Man schrumpft ein bisschen. Wenn ich hundert werde, dann bin ich vielleicht nur noch einssiebzig und werde mich nicht mehr so schrecklich gehemmt fühlen.

      Über so etwas denke ich wirklich nach.

      Bei einer meiner Hotellobby-Runden kam einmal ein Mann auf mich zu. Panik überfiel mich; ich war mir sicher, dass er mich durchschaut hatte. Aber er lächelte und reichte mir eine Rose. Also erwiderte ich sein Lächeln, zog mich aber so schnell es ging zurück. Auf keinen Fall wollte ich mit ihm reden. Bei den vielen Dutzend Hotellobby-Spaziergängen habe ich nie mit jemandem geredet. Aber ich fühlte mich geschmeichelt.

      Anschließend setze ich mich in meinen Mietwagen und fahre eine Stunde durch die Gegend. Auch das mache ich gern, wenn ich Lust und Zeit dazu habe. Wenn ich dann an einem Einkaufszentrum vorbeikomme, stelle ich den Wagen möglichst weit am Rand des Parkplatzes ab, wo es keine Überwachungskameras gibt. Dort gehe ich wieder ein bisschen spazieren, die Autoschlüssel immer fest in der Hand: Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, kann ich schnell wieder zum Auto rennen. Glücklicherweise habe ich ja vernünftige Schuhe an. Das alles dauert nicht lange, aber selbst diese kleine Möglichkeit, kurz einmal am Rand eines Parkplatzes auszusteigen, fühlt sich befreiend an. Es ist schrecklich aufregend – der Puls schlägt schneller, die Herzfrequenz steigt, und mich überkommt eine Mischung aus Kitzel und Selbstvertrauen, der Wunsch, die ganze Welt herauszufordern, und ein Glücksgefühl, ein überwältigendes Glücksgefühl.

      Immer noch versuche ich herauszufinden, warum das so ist, und denke immer wieder an meine Kindheit zurück. Wie war das, als ich zehn war? Habe ich wirklich eine Geschlechtsidentitätsstörung, eine sogenannte Genderdysphorie, die von der American Psychiatric Association als „erkennbare Nichtübereinstimmung des zugewiesenen Geschlechts mit dem Identitätsgeschlecht“ definiert wird? Bin ich vielleicht nur ein Transvestit, dem das Tragen von Frauenkleidern einen sexuellen Kick gibt? Manchmal frage ich mich, ob das Aufstylen so ist, als hätte ich Sex mit mir selbst, weil ich gleichzeitig männlich und weiblich bin. Auf all das weiß ich keine konkreten Antworten.

      Manchmal wage ich mich sogar über die Parkplätze hinaus. Wie das eine Mal, als ich im Opryland Hotel in Nashville übernachtete. Das Einkaufszentrum Opry Mills lag gleich gegenüber. Dort gab es auch ein Multiplex-Cinema, und ich überlegte: Hey, ich könnte doch einfach mal allein ins Kino gehen?

      Also schaute ich im Laufe des Tages dort vorbei und ließ Bruce ein Ticket kaufen. Am Nachmittag hielt ich wieder einen Vortrag: „Finde den Sieger in dir.“ Anschließend kehrte ich ins Hotel zurück und zog mich um, verwandelte mich in die Frau in mir. Im Kino ging ich gleich in den dunklen Saal, da ich mein Ticket ja schon hatte. Eigentlich hätte ich gern Popcorn gehabt – das gehört zum Kino doch irgendwie dazu. Aber ich hatte zu viel Angst, zum Verkaufstresen zu gehen. Glücklicherweise war es ein guter Film, der mich ganz und gar fesselte, und für zwei Stunden dachte ich einmal an nichts anderes.

      Nach dem Film musste ich aufs Klo. Das wäre vermutlich für niemanden sonst ein Problem gewesen – wenn man muss, dann geht man eben. Aber ich dachte nur: Oh mein Gott, was mache ich denn jetzt? Zwar war ich bei früheren Ausflügen schon einmal auf der Damentoilette gewesen. Wie bei allen anderen Dingen hatte ich mir auch dafür eine Strategie zurechtgelegt: Erst wartete ich draußen, bis ich sicher war, dass niemand mehr im Vorraum sein konnte. Dann ging ich hinein und nahm die Kabine, die am weitesten von der Tür entfernt war. Wenn jemand reinkam, wartete ich, bis sie wieder ging, und dann sah ich zu, dass ich mich schnell verdrückte.

      An dem Tag stand allerdings eine lange Schlange vor dem Damenklo. Warten hätte keinen Zweck gehabt. Also hastete ich so schnell wie möglich wieder ins Hotel zurück.

      Als ich von meinem aktuellen Lobby-Ausflug zurückkehrte, fühlte ich mich noch immer gut. Niemandem war etwas aufgefallen. Aber mein Flug ging am nächsten Morgen ganz früh, und das hieß, dass es Bruce wieder in seiner ganzen Herrlichkeit geben würde. Also musste alles wieder runter.

      Wenn ich einen späten Flug habe, schminke ich mich vor dem Schlafengehen nicht ab, auch wenn das Make-up die Kissen verschmiert (wofür ich mich an dieser Stelle bei den Hotelmitarbeitern entschuldigen möchte). Von außen betrachtet, habe ich ein schönes Leben: wunderbare Kinder, eine solide Ehe (jedenfalls war sie das, bevor es mit Keeping Up With The Kardashians losging), eine feste Arbeit und die Sympathien der Öffentlichkeit. Mein Image ist weiterhin sehr positiv.

      Aber es reicht nicht. Es wird niemals reichen. In diesem Augenblick in den Neunzigern, mit über vierzig, konnte ich mir nicht vorstellen, je meinen Seelenfrieden zu finden. Dazu hatten mich die gesellschaftlichen Zwänge und die Sorgen um meine Familie viel zu sehr im Griff.

      Tatsächlich denke ich heute ernsthaft darüber nach, testamentarisch festzulegen, zumindest mit dem Geschlecht begraben zu werden, das ich mein Leben lang gefühlt habe. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit für mich, die Frau zu sein, die ich immer war – in den Kleidern, die ich immer schon tragen wollte, für zwanzig Minuten durch eine Hotelhalle zu schlendern, in einem dunklen Kino zu sitzen oder ziellos durch die Gegend zu fahren.

      So will ich in den Himmel kommen. So soll Gott mich vor sich sehen, damit ich ihn fragen kann: Habe ich alles falsch gemacht? Hätte ich mehr tun können?

      Diese Antwort suche ich hier auf Erden. Aber bis ich sie finde, tue ich das, was ich am besten kann. Ich spiele Bruce.

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      Ich wurde dreimal geschieden. Mit den Möbeln, die ich im Laufe meines Lebens weggegeben habe, könnte man eine IKEA-Filiale bestücken. Wie oft ich mein Zuhause verloren habe, kann ich nicht mehr zählen. Jedenfalls sind mir nur wenige Fotos aus meiner Kindheit geblieben. Als ich mich 2013 von Kris trennte und mir ein Haus in Malibu mietete, richtete sie es in nur einem Tag mit einem Team von fünfzig Leuten aus dem Programm eines Möbelherstellers komplett neu für mich ein. Ich nahm nicht einmal meine Goldmedaille mit, die aus Sicherheitsgründen bei ihr im Safe lag. Aber das Akkordeon behielt ich.

      Keine Ahnung, wieso ausgerechnet dieses Instrument meine drei Scheidungen und zehn Kinder und Stiefkinder überstanden hat, wieso ich es immer noch mit mir herumschleppe, obwohl ich es seit fast sechzig Jahren nicht mehr gespielt habe. Wieso es jetzt in der Garage