Название | Der Mensch als Rohstoff |
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Автор произведения | Christian Blasge |
Жанр | Математика |
Серия | |
Издательство | Математика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853718872 |
Haben, so scheint es uns, ist etwas ganz Normales im Leben; um leben zu können, müssen wir Dinge haben, ja, wir müssen Dinge haben, um uns an ihnen zu erfreuen. In einer Gesellschaft, in der das oberste Ziel ist, zu haben und immer mehr zu haben, in der man davon spricht, ein Mann sei »eine Million wert«: wie kann es da eine Alternative zwischen Haben und Sein geben? Es scheint im Gegenteil so, als bestehe das eigentliche Wesen des Seins im Haben, so daß nichts ist, wer nichts hat.10
Menschen, die sich vorwiegend in der seriellen Welt aufhalten, umgeben sich mit Reproduktionen bzw. Kopien von ursprünglichen Modellen. Nachbilder sind für sie eben das Wirkliche geworden.
So wenig sie dasjenige photographieren, was sie sehen – denn was sie sehen, das sehen sie nur, um es zu photographieren; und was sie photographieren, das photographieren sie nur, um es zu haben – so wenig ist ihnen das, was sie photographieren, das »Wirkliche«. »Wirklich« ist für sie vielmehr die Aufnahme, das heißt: die in das Serien-Universum aufgenommenen und zu ihrem Eigentum gewordenen Exemplare der Reproduktions-Serie.11
Wirklich scheint für sie nicht, tatsächlich dort zu sein, den Moment zu genießen, ein Verständnis für die Kultur zu entwickeln, die andersartige Architektur zu bestaunen oder die fremde Sprache zu hören, sondern allein, dort gewesen zu sein. Nicht nur, weil der Besuch des Fremden das heimische Prestige hebt, sondern weil nur Gewesenes, und nicht das flüchtige Gegenwärtige, einen sicheren Besitz darstellt. Während Erich Fromm konstatiert, dass nach dieser Auffassung offenbar »nichts ist, wer nichts hat«, macht nach Anders’ Diagnose »nur Gewesen-sein das Sein« aus. Sein bedeute demnach »Gewesensein und Reproduziertsein und Bildsein und Eigentum sein«12.
Den damals in den USA populären Jazz bezeichnet Anders als industriellen Dionysos-Kult. Der griechische Gott Dionysos galt in der Antike als Gott der Freude, des Wahnsinns und der Ekstase. Friedrich Nietzsche hat aus diesen Charakteristika ein eigenes Prinzip entwickelt: das »Dionysische«. Während das »Apollinische« (im Rekurs auf den Gott Apoll) sich in beherrschten, klaren und bildhaften Formen darstelle, gleiche das Dionysische einer Welt des Rausches. Es verweise auf einen orgiastischen, ekstatischen Zustand der Selbstvergessenheit, der sich für Nietzsche vor allem in der Musik ausdrückte.13 Übertragen auf den Jazz, stellt dieser Zustand für Anders ein Symptom des damaligen Zeitgeistes dar. Der Jazz trage die Kennzeichen einer dinglichen und automatisierten Gangart in sich – er sei ein alles zerstampfender Wiederholungsfuror, der Furor einer immer gleich laufenden Maschine. Kurz: »Maschinenmusik«. Die Maschinen geben den Bewegungsrhythmus vor, während sich der menschliche Leib ihm bei jedem Takt aufs Neue unterwerfen muss. Es komme zu einer Widerlegung des Leibes und seines Anspruches, über eigene Rhythmen zu verfügen:
Da nun aber der Leib, um seinen Konformismus mit der Maschine zu beweisen, diese Widerlegung mitvollzieht, ist, was der Tänzer tanzt, nicht nur die Apotheose [Vergottung, Verherrlichung] der Maschine, sondern zugleich eine Abdankungs- und Gleichschaltungsfeier, eine enthusiastische Pantomime der eigenen totalen Niederlage.14
Die Ekstase der Tänzer ist echt. Statt sie selbst sind sie »außer sich«, um mit dem Gott der Maschine eins zu werden: »Industrieller Dionysos-Kult«. Was würde der Gelegenheitsphilosoph wohl über die heutige Popindustrie sagen oder über den Disc-Jockey, der die Maschinenmusik so deutlich verkörpert wie kein anderer vor ihm?
Anders’ Analysen und Deutungen sind zeitgebunden und streitbar, aber doch in der Sache aufschlussreich, wie beispielsweise seine Überlegungen zum Arbeitsprozess am Fließband. An maschinisierten Tätigkeitsformen erkennt man, dass sich der Mensch in eine kraftraubende Gleichschaltung mit der Maschine begeben muss. Er wird sich an ihrem Tempo und Rhythmus orientieren – und ist ständig von der Angst beherrscht, nicht Schritt halten zu können. Die Arbeiterin soll in seiner wachsamen Selbstkontrolle einen Automatismus in Gang bringen. Sie muss sich zusammennehmen, um nicht als sie selbst zu funktionieren. Gerade diese Aufgabe scheint für Anders das entscheidende Paradox an einer solchen Arbeit zu sein. Denn in diesem Prozess erwächst die Zumutung, sich als Akteurin auszulöschen und die eigene Tätigkeit in einen automatischen Vorgang zu verwandeln sowie unter Kontrolle zu halten. Der Arbeiter mache sich auf diese Weise selbst zum Organ des Gerätes. Er lasse sich vom Gang der Maschine einverleiben, nehme seine eigene Passivmachung aktiv in die Hand und führe diesen Kreislauf selbstständig fort.
Da er unter Aufbietung aller Konzentrationskräfte zu versuchen hat, statt selbst Zentrum zu sein, sein Zentrum ins Gerät zu verlegen, muß er zugleich »er selbst« und »nicht er selbst« sein.15
Der an die Maschine angepasste Mensch bleibt sich selbst aber nicht vollständig fremd. Es kommt auch hier zu einer »Selbstbegegnung«. Die Begegnung mit sich selbst – seinem Körper und seinem Geist – findet jedoch nur durch ein negatives Ereignis statt: durch einen Moment, in dem der Konformismus misslingt und der Mensch sich als etwas Anstößiges, als Versager erfährt. Erst durch ein Versagen wird sich der Mensch somit seiner eigenen Identität wieder bewusst:
Nicht deshalb, weil es Selbstbegegnung gibt, wird »Identitätsstörung« erfahren; umgekehrt tritt Selbstbegegnung nur deshalb ein, weil es Störung gibt.16
Im Kapitel »Die ins Haus gelieferte Welt« untersucht Günther Anders Rundfunk und Fernsehen in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft. Er diskutiert seine These am Beispiel eines Gottesdienstes, der im Fernsehen ausgestrahlt wird, sodass eine Vielzahl an Menschen daran teilnehmen kann. Während des Betrachtens scheint es dem naiven Menschen, als ob er die Wirklichkeit und nicht bloß ein Abbild wahrnimmt. Die Inhalte des Gottesdienstes, die Musik und die Atmosphäre haben einen Einfluss auf den Beobachter – offenbaren aber eben auch eine andere, verborgene Tatsache: dass der Mensch an diesem gerade nicht teilnimmt, sondern allein dessen Bild konsumiert.
Dieser Bilderbuch-Effekt ist aber offensichtlich von dem »bezweckten« nicht nur verschieden, sondern dessen Gegenteil. Was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die »Mittel« vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: uns.17
Die Kritik, dass eine solche kritische Verallgemeinerung nicht akzeptiert werden könne, da es ausschließlich darauf ankomme, wie wir uns dieser Geräte bedienen, wird somit als Illusion entlarvt. Aufmerksamkeitsräuber, wie heutzutage das Smartphone, werden so konstruiert, dass sie nach ihrer ständigen Benutzung gieren bzw. diese anregen und Menschen bewusst in Abhängigkeit halten. Sie sind nicht wertneutral, sondern bringen den Menschen mit neuen Sachzwängen in Verbindung, sodass die Geräte vom Objekt zum Subjekt der Geschichte aufsteigen.
Gleichzeitig interessiert sich Anders für den eigentlichen Akt des Konsumierens von Bildern im Fernsehen. Was tut der Mensch eigentlich, wenn er da im Wohnzimmer allein oder mit der Familie oder Freunden vor dem Fernsehgerät sitzt und sich unterhalten lässt? Er gleicht, so Anders, einem unbezahlten Heimarbeiter für die Herstellung des Massenmenschen. Millionen von Menschen wird eine stereotyp hergestellte Ware präsentiert. Jeder Fernsehkonsument wird (ganz wie das Präsentierte) als ein »unbestimmter Artikel« behandelt, als jemand ohne individuelle Eigenschaften. Massenmenschen produziert man dadurch, dass man sie Massenware konsumieren lässt. Je einsamer sie sind, umso ausgiebiger findet der Konsum statt. Durch den Konsum von Massenware wird der Mensch zum Mitarbeiter bei der Produktion bzw. durch Umformung seiner selbst zum Massenmenschen. Konsum und Produktion gehen in diesem Verfahren eine trickreiche Symbiose ein. Jedermann ist gewissermaßen als »Heimarbeiter« angestellt und beschäftigt. Vollends paradox wird dieser Vorgang dadurch, dass die Heimarbeiter, statt für ihre Tätigkeit entlohnt zu werden, zudem für das Gerät und dessen Sendungen