Название | Verschwunden |
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Автор произведения | Sylvia Kabus |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867295710 |
»Das haben wir aber gar nicht gern.«
Der Hochgewachsene beugt sich von hinten über meine Schulter, blickt auf meine Notizen.
Ich fahre herum, fragend. Er wird verlegen.
»Einzelne Karteikarten sollten nicht aus dem Kasten herausgenommen werden. Das alles ... Wir möchten ...« Mitten im Satz geht er aus dem Raum.
Sind alle überfordert, wenn jemand nicht von einer Institution kommt oder nicht nur seinen Familienstammbaum komplettieren will?
Draußen auf dem Parkplatz ist es heiß und hell. Aus dem Auto schlägt mir Gluthitze entgegen. Das Mineralwasser hat die Stunden über nahe an der Kochstufe gesimmert. Ich verbrenne mir den Mund.
Dann wieder der meistens leere Leseraum, die Fläche der zusammengerückten Tische, Konzentrationsmöglichkeit. Die Archivbenutzung ist kostenlos. Das Stadtarchiv erhebt Benutzungsgebühren von zwanzig Euro am ersten und für jeden folgenden Tag erneut fünf. Das ist viel, wie könnte beispielsweise ein Arbeitsloser dabei seinem Diktaturschicksal auf den Grund gehen? Von Barrieren psychischer Art ganz zu schweigen.
Bevor ich gehe, frage ich eine Mitarbeiterin nach dem damaligen Kinderheim am Rosental, von dem Herr K. sprach. Sie kannte es, stellt sich heraus. Ecke Leibnizstraße, Richtung Zoo. Mit der Straßenbahn durchs Rosental, nahe der katholischen Kirche, rechts eine Verkehrsinsel, dann die Villa. Dort, erzählt sie lebhaft, ging es streng zu, manchmal hart, oder brutal, unterkühlt jedenfalls. Die Insassen mussten anziehen, was es gab, keine Herzlichkeit, strenge Arbeitserziehung. Sie selbst ging mit Kindern dieses Heims in eine Klasse in der 143. Schule »Walter Ulbricht«. Tischtennisspielen war erlaubt. Jeder Klassenlehrer stellte seine Schülerinnen und Schüler selbst zusammen, er wechselte nicht bis zur achten Klasse. »Da haben sie sich Mühe gegeben. Schlimm war, dass sie das Sozialistische so sehr durchgedrückt haben.«
In diesem Heim ist Petra, die Kleine von Herrn K., wahrscheinlich gewesen. Kurz bevor sie »weg« war.
»Die Heimkinder treffen sich heute noch. Niemand von ihnen ist arbeitslos.«
Frau S.
Frau S. kann nur schwer laufen. Wegen dem Stock hat sie nicht gleich eine Hand frei für die Blumen, die ich mitbringe. Licht flutet durch die Wohnung, in die sie mich einlässt. Es geht auf Ostern zu und sie lächelt.
Auch ihr begegne ich zum ersten Mal. Nach achtundzwanzig Jahren habe sie ihre Tochter wiedergefunden, sagt sie sofort, als wir ins Zimmer treten, und zeigt auf eine Gruppe gerahmter Fotos. Eine dunkelhaarige junge Frau ist darauf zu sehen, allein, im Hochzeitskleid, mit Bräutigam.
»Jeder sagt, sie ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Gefunden. Triumphierend und einschränkend zugleich klingt das. Frau S. hat vier Kinder. Susanne, die jüngste Tochter, lebt noch zu Hause, sie schaut fern und wirft uns Blicke zu.
»Und sie ist gut in der Schule!«, sagt Frau S.
Susanne schaut weiter und lässt sich Zeit, als ich sie frage, was sie werden will. Tierpflegerin vielleicht, sie habe einen Platz als Praktikantin im Leipziger Zoo in Aussicht. Es könnte klappen. Ihre Schwestern Manuela und Bianca seien bereits aus dem Haus, erzählt Frau S. Nur die Älteste, Annett ... Sie verschwand 1977 aus der Kindertagesstätte, sie verschwand, und auch jetzt hat Frau S. sie nicht wiedergesehen. Sie weiß nur von ihr. Sie kann sie ansehen auf den Fotos im Schrankfach, zwei davon von ihrer Hochzeit.
Frau S. spricht ohne Zögern, mit einem Ausdruck, der offen und erwartungsvoll ist wie der von Herrn K., als er glaubte, ich hätte seine Tochter gefunden. Sie hält noch die Narzissen in der Hand. Die Stimmen draußen vor den geöffneten Fenstern, die beiden Frauen hier, das hat etwas sehr Unmittelbares. Wie eine Garantie, dass das Leben nicht auf einmal abbricht.
Was für ein Gedanke.
Ihr Mann kommt zurück vom Wochenmarkt in der Bornaischen Straße, der ständig größer werde und ein Angebot habe, das den Weg durch die ganze Stadt lohne. Er kaufe dort besser und preiswerter ein als anderswo, außerdem sei er bekannt, weil er regelmäßig komme. »Die Straßenbahn geht von hier durch bis ans Ende«, sagt er, und mit einem Blick zu Frau S.: »Sie will immer mit, aber sie kann nicht laufen, in der Zeit bin ich schon dreimal wieder da.«
»Er sagt, du bleibst da«, kommentiert sie, »und da muss ich bleiben.«
»Manchmal geht sie doch mit, dann wird sie gleich überall begrüßt«, sagt er, und sie tauschen ein Lächeln. In dem Fall holt er zu Hause erst die Einkäufe nach oben und dann sie. Manchmal zieht sie sich auch allein, Stufe für Stufe am Geländer hoch. Frau S. sollte zur Operation, aber dann haben sie ihr doch keine neue Kniescheibe eingesetzt. Sie lacht jetzt bitter, oder als könne sie nur lachen.
Die Treppe im Haus ist aus Fertigbeton und halb so breit wie in umliegenden Bürgerhäusern. Da wo sie an die Wände stoßen soll, ist ein Schlitz, durch den man die Etagen hinabblicken kann bis ins Erdgeschoss. Was Halt geben soll, sieht aus wie bloß aneinandergestellt. Das Geländer wirkte zerbrechlich wie eine Attrappe. Schwer vorzustellen, wie Frau S. die Stufen bewältigt.
Ich bin gekommen, um sie nach der 1977 verschwundenen Tochter zu fragen. Ihre Spannung überträgt sich auf mich, der schnell wechselnde Ausdruck fällt mir auf, eine humorvolle Leichtigkeit. Dazwischen ausdauernde, nicht ablenkbare Blicke. Eine scharfe Aufmerksamkeit für das, was vorgeht. Die, habe ich das Gefühl, setzt keine Sekunde aus.
Sie hat Hausaufgaben von Susanne vor sich liegen, als wir uns gegenübersitzen. Dass ich ihre Erzählung auf Band aufnehme, möchte sie nicht, aber mitschreiben kann ich. So haben wir beide ein Heft auf den Knien.
Die Mutter von Frau S. arbeitete in einem Krankenhaus. Sie gab die Tochter im Babyalter, wie damals nicht unüblich bei Schichtarbeit, in eine Wochenkrippe. Doch ehe das Kind eine bewusste Beziehung zu ihr finden konnte, wurde es ihr nach einer Denunziation weggenommen. Frau S. wächst beim Vater und seiner neuen Frau auf, die leibliche Mutter verschweigt er ihr lebenslang. Erst 2004, als diese stirbt, erfährt sie von ihr durch einen Verwandten, der im Internet lange nach ihr gesucht hat.
»Ich habe immer gekämpft«, sagt sie mit blitzenden Augen. »Gekämpft gegen die Verunglimpfung meiner Mutter und gekämpft um meine Tochter.«
Die Stiefmutter, Ruth, ist damals Stallarbeiterin in einer LPG im Landkreis Leipzig, wie auch der Vater. Es scheint ein Angstverhältnis für Frau S. gewesen und geblieben zu sein. Für die Stiefmutter und deren Kinder ist sie die Stiefputze, die ausgegrenzt wird bei den Mahlzeiten, die aus dem Zimmer muss, wenn Gäste kommen, die als dumm hingestellt wird. Eine Kindheit der von Erwachsenen ausgekosteten Demütigung.
»Ich bin mit Prügel aufgewachsen«, sagt sie.
Sie hätte zu einer eingeschüchterten Haussklavin werden können. Nach der Schule lernt sie Köchin. Die Stiefmutter holt ihren Lohn ab. Als sie erwachsen wird und auszieht, sagt sie: »Ich komme nicht mehr zu dir.«
»Und warum?« fragt die Stiefmutter zurück und schlägt ihr ins Gesicht.
Woanders ist es besser. Sie arbeitet in der Mensa der Karl-Marx-Universität in Leipzig. »Es war wunderschön«, sagt sie, »wir haben gutes Essen gekocht, gelacht, wir haben Witze gerissen. Ich war so klein, ich kam immer nicht hoch an die Regale und brauchte einen Hocker. Ich besaß jetzt eigene Sachen, mein Chef hat für mich ein eigenes Konto angelegt, er hat mir sozial viel geholfen. Auch bei der Suche nach einer Wohnung.«
Er ist es, der sie unterstützt, bis ihr Monatslohn auf ein eigenes Konto überwiesen wird und ihr gehört.
»›Damit du mal zur Ruhe kommst‹, sagte er. Er hatte … etwas Feines.«
Sie erhält Auszeichnungen, lernt Wärme und Unterstützung kennen. »Fein« nennt sie auch die Eltern ihres Mannes, der bei diesen Worten lächelt. »Wie die mich umarmt haben. So eine große Zuneigung, mein Mann hat nur gestaunt.«
Man kann