Название | Neurohistorie |
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Автор произведения | Dieter Langewiesche |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864082184 |
Dieser Streit mündete in die höchst fruchtbare wissenschaftstheoretische Debatte über Kultur- bzw. Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft (Heinrich Rickert und Wilhelm Dilthey) oder nomothetische und idiographische Wissenschaften (Wilhelm Windelband). Auch Max Webers grundlegende Schriften zur Logik der Kulturwissenschaften gehören hierher. Naturwissenschaftler haben diese wissenschaftstheoretische Debatte mit ihrem Ressortimperialismus provoziert oder zumindest angestoßen und befeuert, Philosophen und Sozialwissenschaftler haben sie geführt. Mit Ergebnissen, die noch heute gültig sind.
Weiterhin gültig sind auch Einwände pragmatischer Art, die in diesen Theorie-Debatten meist nicht vorgebracht wurden. Warum sollte der Wert der „Weltbesiegerin unserer Tage“, wie du Bois-Reymond die Naturwissenschaft nannte8, in ihren konkreten Untersuchungsgebieten für die Gesellschaft bedeutsamer sein als die Forschungsergebnisse von Geistes- und Sozialwissenschaftlern? Wenn zum Beispiel Parteiensysteme international verglichen werden oder das städtische Wahlverhalten erhoben und daraus die spezifische Anfälligkeit von Sozialgruppen für den Nationalsozialismus abgeleitet wird, so ist das für die Gesellschaft nicht minder bedeutsam als die experimentelle Lokalisation einer Hirnregion für die politische Ausrichtung mit Hilfe der Kernspintomographie.
Historiker waren an diesen Hierarchiedebatten in den Wissenschaften kaum beteiligt, wenngleich damals auch in der Geschichtswissenschaft über eine neue oder erweiterte kulturgeschichtliche Grundlegung des Faches gestritten wurde9 und der Fehdehandschuh der Naturwissenschaftler auch auf dem fachlichen Territorium der Historiker lag. Du Bois-Reymond hatte nämlich die grundsätzliche methodische Überlegenheit der Naturwissenschaft, von der er überzeugt war, auch auf die Geschichtsforschung übertragen. Aus der bisherigen akademischen Geschichtswissenschaft könne man nur „lerne[n], dass man aus ihr nichts lernt“10. Er forderte stattdessen eine universale „Kulturgeschichte“ auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Nur sie sei in der Lage, den Fortschrittsweg der Menschheit nachzuvollziehen und in die Zukunft zu öffnen.
Die Auflösung des Topos Historia Magistra Vitae, wie sie Reinhart Koselleck für das moderne Geschichtsdenken seit der Zeit um 1800 analysiert hat – gemeint ist nicht, dass man aus der Geschichte nichts lernt, weil sich kein Ereignis wiederhole, sondern dass sie „Möglichkeitsspielräume von Ereignissen“ erkennen hilft11 –, wird von diesen geschichtsschreibenden Naturwissenschaftlern nicht nachvollzogen, sondern auf die herkömmliche politische Geschichte begrenzt. Ausgerechnet du Bois-Reymond, Inbegriff des deutschen Bildungsbürgers, nannte sie abfällig die bürgerliche Geschichtsschreibung. Eine Geschichtsbetrachtung auf den Spuren der Siegesgeschichte der Naturwissenschaft hingegen sei lehrhaft, weil sie die Grundlage der Moderne enthülle – die „naturwissenschaftliche Denkweise“. In ihr verortete er den „Kausalitätstrieb“ des modernen Menschen, der naturwissenschaftlich konditioniert die Geschichte unaufhaltsam auf Fortschritt ausgerichtet habe. „Wir sagen, Naturwissenschaft ist das absolute Organ der Kultur, und die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit.“12
Du Bois-Reymond versuchte sich auch darin, eine solche neue Form von Geschichtsschreibung zu erproben, und dies nicht nur, wie es Justus Liebig in einigen Münchner Akademiereden tat13, entlang der Wissenschaftsgeschichte, sondern auf einem viel beackerten Gebiet der Kultur- und Politikgeschichte: Über das Nationalgefühl, so der Titel seiner Studie. Sie ist darwinistisch-evolutionär angelegt wie generell sein Geschichtsdenken.14 Eine Geschichtsschreibung auf der theoretischen Höhe der Zeit müsse auf Darwin gründen. Dessen Deszendenztheorie habe das gesamte „Gebiet des Lebens“ zu „einem Bilde zusammengefaßt“, so dass nun eine Entwicklungsgeschichte zur Verfügung stehe, die Astronomie, Paläontologie und Geologie mit Anthropologie und Ethnographie verbinde, die ihrerseits „den Übergang vermitteln zur Linguistik, der Erkenntnistheorie und den historischen Wissenschaften“15.
Zwischen dem, was hier für das ausgehende 19. Jahrhundert in wenigen Strichen skizziert wurde, und der heutigen Debatte um die Rolle der Neurowissenschaft in der Gesellschaft und in der Wissenschaft sind zwei Parallelen zu erkennen:
1. Es geht stets – mit allen Weiterungen, die daran hängen – um gesellschaftspolitische Relevanzhierarchien auf dem Wissenschaftsmarkt und um kulturelle Hegemonie. Wenn Neurowissenschaftler erklären, warum das Gehirn, wie sie es erforschen, keinen Raum für die Annahme eines freien Willens böte und daraus Folgerungen für das Strafrecht oder für die angemessene Art von Stadtentwicklung ableiten16, so drückt sich darin ein gesellschaftlicher Prioritätsanspruch aus, wie er im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Ausrufung des naturwissenschaftlichen Zeitalters verbunden gewesen war. Max Weber hatte diese Art von Wissenschaftsimperialismus an der Energetik-Lehre des Chemiker-Philosophen Wilhelm Ostwald – 1909 erhielt der Vielgeehrte den Nobelpreis für Chemie – sarkastisch kritisiert. Es würden „Wechselbälge gezeugt“, wenn nicht beachtet werde, dass unterschiedliche Disziplinen aus guten Gründen unterschiedliche Methoden anwenden und in unterschiedlichen Perspektiven ihr Untersuchungsobjekt betrachten.17
2. Damals wie heute bleibt in der innerwissenschaftlichen Debatte die Geschichte in doppelter Weise peripher: Historiker mischen sich in die Methodendebatte der anderen nur selten ein, und die anderen beachten nur selten historische Themen. Warum?
Im ausgehenden 19. Jahrhundert blieb der Übergriff von Naturwissenschaftlern wie du Bois-Reymond oder Liebig in die etablierte akademische Geschichtswissenschaft folgenlos, weil sie entweder die Geschichte auf Wissenschaftsgeschichte reduzierten – vornehmlich naturwissenschaftliche – oder Evolutionsgeschichte betrieben. Beides sind inzwischen etablierte Disziplinen. Sie stehen nicht in Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft in ihren lang-etablierten Hauptgebieten.
Während Naturwissenschaftler wie du Bois-Reymond und Liebig keine Scheu hatten, als Laien-Historiographen den professionellen Historikern zu zeigen, wie man Geschichte als lehrhaft in den Dienst der Gesellschaft stellen könne, ist das heute nicht mehr der Fall. Oder doch nur sehr selten. Wolf Singer hat es getan, als er eingeladen war, auf dem deutschen Historikertag des Jahres 2000 den Eröffnungsvortrag zu halten: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft.18 Johannes Fried war damals Vorsitzender des Historikerverbands. Er hat durch zwei sehr pointierte Schriften versucht, seinen Fachkollegen nahezubringen, warum sie ihr Fach methodisch auf neurowissenschaftlicher Grundlage neu erfinden müssten.19
In der medialen Öffentlichkeit hat Fried mit seinem Appell zur neurokulturellen Bekehrung viel Resonanz gefunden, in der Geschichtswissenschaft wenig. Ein Historiker hat auf drei Seiten repliziert, warum er vom „neuronal turn“ in der Historiographie nichts hält, ein anderer hat die positivistische Absicht Frieds (dazu gleich noch) für unerheblich erklärt20, und gemeinsam haben wir (Birbaumer/Langewiesche 2006) in einem Aufsatz über Posttraumatische Belastungsstörung und Soziopathie in Österreich uns gegen Frieds Vision gewandt.21 Diese Argumentation wird nun aufgenommen und weitergeführt, vor allem mit Blick auf die Frage, was bietet die Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft an neuen Einsichten zu Fragen von Gedächtnis, Erinnern und Wahrnehmen. Gibt es Möglichkeiten zur Kooperation? Hier fließen eigene Erfahrungen aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen ein.22
Als erstes gilt es festhalten, worüber wir nicht schreiben werden. Dann wird Johannes Frieds Vision einer gänzlich erneuerten Geschichtswissenschaft auf neurowissenschaftlicher Grundlage vorgestellt und mit einer bescheideneren Form von Neurohistorie verglichen. In einem dritten Schritt wird erläutert, wie die Aussagen und Hypothesen von Neurowissenschaftlern über das menschliche Gedächtnis und sein Wahrnehmen und Erinnern mit Blick auf die bisherigen Annahmen und Theorien innerhalb der Geschichtswissenschaft unseres Ermessens zu bewerten