Название | Ende einer Selbstzerstörung |
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Автор произведения | Hartmut Zwahr |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867295222 |
Dies bezog sich auf die innerkirchliche Auseinandersetzung um das Friedensgebet in St. Nikolai zwischen lokaler Kirchenleitung (Superintendent Magirius, Thomaspfarrer Richter) sowie den »Basisgruppen« um Pfarrer Wonneberger.56 Es handelte sich um Sachverhalte, über die später, nach dem Durchbruch zur friedlichen Revolution, öffentlich kaum noch geredet wurde oder Umstände, die nicht bekannt geworden sind: so der »Neuansatz« der Gestaltung des Friedensgebets 1986/87 durch Wonneberger, von den Beteiligten als »Leipziger Opposition« verstanden. Die Gruppenandacht wurde zum »Forum der Opposition«, das Friedensgebet zur »politischen Bühne«, zum Konfliktfeld, was etwa die Zeit von November 1987 bis Frühjahr 1988 umfasste. In einer Predigt hatte Jochen Läßig am 11. April 1988 dazu aufgefordert, »aus diesem Land einen demokratischen Staat zu machen«. Diesem politischen Appell zur Rekonstitution der DDR folgte am 15. August 1988 die Ausschließung der Basisgruppen von Durchführung und Verkündigung der Friedensgebete durch Friedrich Magirius. Man wisse, »dass massiver äußerer Druck zur Absetzung des Friedensgebets der Gruppen geführt« habe, erklärte Läßig am 5. September in einer Mitteilung.57
Demonstrationen lagen nach dem mißlungenen Demo-Versuch vom 4. September in der Luft. In den fünf Etagen des Objektes Runde Ecke in Leipzig, des die Fleischergasse in ganzer Länge berührenden Stasi-Bezirkskomplexes, unter hoch aufragenden Antennen, sah man die Gefahr geradezu leibhaftig herannahen. Das vom Künstler verständlicherweise stilisierte große Ohrenornament, auf dem Münder von Ohren regelrecht bedrängt und eingeschlossen werden (es schmückt die hintere Fassade des Neubaus), steht durchaus für eine Realitätsnähe der damaligen Insassen. Hummitzsch, der Leipziger Stasi-Chef, Minister Mielke mündlich Bericht erstattend: »Was die Gesamtstimmung anbetrifft, so wie das hier bereits dargestellt wurde, ich kann das also hier genauso einschätzen: Die Stimmung ist mies. Es gibt umfangreiche Diskussionen über alle berechtigten und unberechtigten Probleme, die es gibt, und was uns hierbei besonders bewegt, es gibt solche miese Stimmungen auch innerhalb der Parteiorganisation. Wir haben zwar erreicht mit den Mitgliederversammlungen, die im August durchgeführt wurden, auf Beschluß des Sekretariats, Kommunist sein, heißt kämpfen und verändern. Das hat eine sehr gute Resonanz gezeigt. Es wurde mehr diskutiert, und die Versammlungen gingen länger als bisher. Es ist eine gewisse Bewegung entstanden. Aber so, wie wir die Partei uns vorstellen, daß sie in die Offensive geht und sich offensivwürdig mit den Dingen auseinandersetzt, das ist im Moment aus meiner Sicht jedenfalls nicht erreicht, und das Sekretariat sieht das genauso«. Besorgnisse mischten sich in die Beurteilung der politischen Gesamtlage, von deren Stabilität die Leipziger Bezirksbehörde des MfS zu diesem Zeitpunkt wohl noch ausgegangen ist. »Ansonsten, was die Frage der Macht betrifft, Genosse Minister, wir haben die Sache fest in der Hand, sie ist stabil. Wir haben auch nicht eine solche Situation, wie wir das aus der Vergangenheit kennen [gemeint ist der 17. Juni 195358], aber es ist außerordentlich hohe Wachsamkeit erforderlich und differenziert territorial sehr unterschiedlich und objektmäßig. Es ist tatsächlich so, daß aus einer zufällig entstandenen Situation hier und da auch ein Funke genügt, um etwas in Bewegung zu bringen.«
Innerhalb der »Aktivitäten des politischen Untergrundes und der reaktionären Kirchenkräfte« komme dem »bekannten Montagsgebet« die absolute Priorität zu. »Die ›Friedensgebete‹ verlaufen inhaltlich innerhalb der Kirche relativ harmlos, möchte ich sagen. Es gibt seitens der kirchlichen Amtsträger keine Aufwiegelei, wie wir das am Anfang hatten. Aber die Kirche schließt nach Ende der Veranstaltung die Türen, und was auf ihrem Vorplatz oder bei uns im konzentrierten Stadtzentrum geschieht, ist nicht in ihrer Verantwortung. Das ist ihr erklärter Standpunkt. Wir haben, Genosse Minister, gemeinsam mit der Volkspolizei und in Absprache mit Genossen Generaloberst Mittig vorige Woche alle Maßnahmen festgelegt. Es gibt Hinweise auf journalistische Aktivitäten aus dem Reuterbüro, daß man hingehen will, um zu sehen, was sich dort tut. Es gibt viele Erwartungshaltungen. Wir erwarten auch Neugierige, die dort hinziehen, um zu sehen, was tut sich in der Stadt. Die Lage wird kompliziert sein, aber ich denke, wir beherrschen sie. Ende.«59
Vorspiel: We shall overcome
Leipzig am 25. September 1989
Zur ersten in sich geschlossenen Leipziger Montagsdemonstration kam es dann am 25. September.60 Die Medien von ›drüben‹ verpaßten sie glatt. Noch am Tag darauf, während der Fürbitt-Andacht in der Ost-Berliner Gethsemane-Kirche, flossen die Informationen spärlich. Immerhin wußte man von einer Straßendemonstration durch die Stadt, von etwa acht- bis zehntausend Teilnehmern, dem Gesang der Internationale und dem Freiheitsruf.61 Die Andacht hatte um 17.00 Uhr begonnen, wie gewöhnlich; gegenüber den Vorwochen hatte die Teilnehmerzahl mit zweitausend in der Nikolaikirche und mindestens ebenso vielen vor ihr erheblich zugenommen. Pfarrer Führer verlas zu Beginn einen Protest des Kirchenvorstandes und der Superintendentur Leipzig-Ost gegen den Polizeieinsatz am 18. September. Die Kirche erwarte vom Rat der Stadt, Abteilung Inneres, künftig den Verzicht auf eine »derartige Machtdemonstration staatlicher Organe«. Außerdem werde erwartet, daß »seitens staatlicher Stellen die Entstehung öffentlicher Protestgruppen zum Anlaß genommen wird, Angebote eines öffentlichen Dialogs zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation zu entwickeln und zu ermöglichen«.62 Die Verständigungsformel Dialog war dabei, die Köpfe zu erobern; sie zerbrach, als sie zum Abwiegeln der Straßendemonstrationen benutzt wurde. Termine zu Fürbittandachten für Inhaftierte wurden bekanntgegeben, angekündigt, daß zur »Entlastung« des Montagsgebets in der Nikolaikirche und zur »Erweiterung der Basis« weitere Leipziger Kirchen sonnabends geöffnet würden.
Pfarrer Wonneberger, Leipzig, sprach das Montagsgebet zum Thema Gewalt: »Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu ändern. Mit Gewalt läßt sich aus einem ganzen Menschen ein kaputter machen, aus einem freien ein Gefangener, aus einem Lebendigen ein Toter … Wer anderen willkürlich die Freiheit raubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr. Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen. Das ist für mich keine grundsätzliche Infragestellung staatlicher Gewalt. Ich bejahe das staatliche Gewaltmonopol. Ich sehe keine sinnvolle Alternative. Aber: Staatliche Gewalt muß effektiv kontrolliert werden – gerichtlich, parlamentarisch und durch uneingeschränkte Mittel der öffentlichen Meinungsbildung. Staatliche Gewalt muß sinnvoll begrenzt sein: Unser Land ist nicht so reich, daß es sich einen so gigantischen Sicherheitsapparat leisten kann. ›Die Verfassung eines Landes sollte so sein, daß sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert‹ – so schrieb der polnische Satiriker Stanislaw Jerzy Lec vor 20 Jahren. Da müssen wir die Verfassung eben ändern.«63
Die »Organe«, die vermutlich einen Tonbandmitschnitt anfertigten, wählten zwei Kernsätze für die Berichterstattung aus: Wer den Knüppel zieht, muß auch den Helm tragen und Wenn die Verfassung nicht dem Bürger nützt, muß die Verfassung geändert werden. Mitglieder des von Pfarrer Wonneberger geleiteten Arbeitskreises »Menschenrechte« entfalteten einzelne Gebetsinhalte zu Fürbitten, so für in der DDR und in der ČSSR Inhaftierte und für Polizisten, die »gegen ihren Willen die Staatsmacht verkörpern müssen«.
Nach Übernahme der im altvorstädtischen Leipziger Osten gelegenen Pfarrstelle in Volkmarsdorf, 1985, durch Christoph Wonneberger war St. Lukas, das etwas weiter von Innenstadt und Ring entfernt war, eher Kirche der sozial Schwachen und »schnell zum Zentrum oppositioneller Aktivitäten« geworden. Unvergessen bleibt der »Statt-Kirchentag« der Leipziger Oppositionsgruppen, an dem etwa 2.500 Personen teilgenommen