Über dem Wasser. Tobias Grimbacher

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Название Über dem Wasser
Автор произведения Tobias Grimbacher
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783290201104



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und tiefgründigen Debatten. Er will jedoch niemanden indoktrinieren, sondern bietet dem Leser und der Theaterbesucherin jene Erklärungsmodelle dar, die heute intensiv diskutiert werden. |8| Ein eigenes Urteil im Konzert der vielfältigen und sich zum Teil widersprechenden Argumente muss jede und jeder sich selbst bilden.

      Dem Stück sind viele Theaterschaffende zu wünschen, die sich an eine Inszenierung dieser «Gottesfrage in zwei Akten» wagen – und zunächst einmal unzählige Leserinnen und Leser.

      Machen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, auf eine aufwühlende Lektüre und hoffentlich schon bald auf einen existenziell herausfordernden Theaterbesuch gefasst!

      Felix Senn

      |9|

      Als Menschen hören wir irgendwann von Gott (oder Göttern), und jede und jeder bildet sich eine Haltung dazu. Wer über Gott schreibt, ist also nie neutral; so verfasse ich diesen Text aus einem dezidiert gläubigen Interesse he­­raus – genauer: aus der Haltung eines kritischen Christen in der katholischen Kirche. Der Text ist Teil meiner Suche nach einem tragfähigen und lebbaren Gottesverständnis, einem Fundament, von dem aus ich glauben und Kirche und Welt mitgestalten kann.1

      Es geht also um Gott – und wenn es um Gott geht, dann geht es auch um (fast) alles andere: vom Ursprung und Sinn unseres Daseins über das Entwicklungspotenzial von Menschen und Menschheit bis zum Grund unseres Glaubens und zum Wesen menschlichen Miteinanders. Mein Zweiakter antwortet auf diese wesentlichen Gottes- und Lebensfragen oder stellt sie vielmehr in dialogischer Form neu. Die Dialoge bieten dabei die Möglichkeit, gezielt Lücken zu lassen und Horizonte zu öffnen. Die Folgen der Gespräche sind oft dramatisch, denn meine Charaktere sind selbst Betroffene ihrer unterschiedlichen Welt- und Gottesbilder, die sich teils harmonisch ergänzen, oft aber auch konfliktreich aufeinanderprallen. So entwickeln sich der Disput über Gott und die mögliche Handlungskonsequenz über verschiedene Szenen hinweg in den konkreten menschlichen Beziehungen und Begegnungen.

      Den Auftakt meines Stückes bildet ein Gedicht von Robert Gernhardt, das in seiner ganz eigenen Art auf wesentliche Thesen der folgenden Akte vorausweist. Dazu gehört zuerst, dass Gernhardt für das Gedicht «Psalm» den Vorsatz fasst, unvollständig zu bleiben – und dies auch umsetzt. Dies geht dem gesamten Dialog-Stück nicht anders, denn Gott ist wohl das Thema, zu dem in der Menschheitsgeschichte am meisten gedacht und geschrieben wurde. Der Versuch, die Geschichte der Gottesfrage vollständig zu umreissen oder diese gar zu beantworten, müsste deshalb scheitern. Dieses Lob der Unvollständigkeit, nicht alles über Gott wissen und erst recht nicht alles sagen zu müssen, möchte ich besonders hervorheben. |10|

      Zum Zweiten setzt sich Gernhardts Gedicht literarisch-spöttisch mit einer biblischen Passage – dem Tanz ums goldene Kalb2 – aus­ei­n­an­der, so wie sich auch mein Dialog-Stück, ernsthaft und teils augenzwinkernd, mit biblischen, liturgischen und weltlichen Tänzen auseinandersetzt.

      Mehr noch, grosse Namen des Alten Testaments werden mit markigen Sprüchen versehen, wobei es für Gernhardt keine Rolle spielt, dass diese Personen zum Teil verschiedenen Epochen angehörten. Auch im folgenden Zweiakter werden grosse Namen quer durch die Geschichte gesammelt und nicht immer in ihrer vollständigen Komplexität zitiert oder verstanden.

      Schliesslich verbindet uns das grundlegende Thema: Das goldene Kalb, das als Metall gewordene Gottheit verehrt wird, steht gleichzeitig für den Wunsch der Menschen nach anfassbaren, greifbaren Gottesbildern und für das Missverständnis, Gott immer im Sichtbaren, Dinglichen zu suchen. Dabei drückt der beschriebene Tanz ums Kalb in seiner ganzen Kuriosität aber auch eine archaische, ursprüngliche Lebensfreude aus, die im weiteren Verlauf des Stücks manchmal sehnlichst vermisst wird. Historisch ist bei dem Götzenbild wohl an die Darstellung eines auf einem Kalb reitenden Gottes zu denken – doch da dieser Gott unsichtbar ist, wird schliesslich statt seiner das Kalb angebetet, das für unseren Verstand leichter wahrnehmbar ist und sich leichter – anschaulich – vermitteln lässt.3 Die Parallelen zu heutigen Gottes- und Götterbildern sind gegeben …

      Nun aber lade ich Sie ein, meinem Weg durch die Untiefen, Stürme und Klippen der Gottesfrage zu folgen. Lassen Sie dabei Ihr eigenes Gottes- und Menschenbild nicht aus dem Blick, halten Sie es fest, aber hinterfragen und ergänzen Sie es bei Bedarf. Wir sind gemeinsam unterwegs auf dem Ozean des Lebens und Glaubens: über dem Wasser.

      Tobias Grimbacher

      |11|

      Über dem Wasser

      Die Personen repräsentieren jeweils prototypisch eine breite Denkrichtung, ohne freilich in reine Klischees abzudriften.

      B: Barkeeper sorgt berufsbedingt für das leibliche Wohl der Gäste, nimmt aber auch inhaltlich und emotional an manchen Gesprächen teil.

      E: Episcopos (Bischof) ist ein typischer Institutionenvertreter der römisch-katholischen Kirche. Theologisch bewandert, aber ohne allzu viel Enthusiasmus vertritt er eine eher konservative Glaubensposition und verteidigt die kirchliche Deutungshoheit. Seine eigenen, über die kirchliche Lehrmeinung hinausgehenden Ansichten lässt er nur selten durchscheinen.

      F: Freidenker ist ein moderater, aber konsequenter Gesprächspartner mit breit gefächerter atheistischer Meinung.

      M: Mensch (bzw. in direkter Anlehnung an Nietzsche vielleicht konkret «der tolle Mensch»4) steht mit seiner Suche nach Gott und Lebenssinn im Zentrum des Stückes.

      S: Sprecher liest oder spricht den Prolog und den Epilog. Als neutrale, ausserhalb der Handlung stehende Instanz gibt er damit dem Stück einen umfassenden Rahmen. Wenn es bei einer Inszenierung oder szenischen Lesung aufgrund der Zielsetzung und der Vorkenntnis des Publikums angebracht scheint, kann S auch einige oder alle Exkurs-Texte vortragen.

      T: Theologe vertritt eine moderne, lebensfreundliche und durchaus kirchenkritische christliche Theologie.

      W: Wirtschaftsanalyst stellt den wirtschaftlichen Machbarkeitswahn infrage und vertritt eine negativ gefärbte, defaitistische Weltsicht.

      Weitere Bischöfe und Atheisten5 als Teil der drei Chöre. |12|

      Das Stück spielt in einer Bar oder einer Kneipe in unserer Zeit. Der erste Akt spielt am frühen, der zweite am späteren Abend. |13|

      S tritt auf und rezitiert.

      Bei dem Tanz ums goldene Kalb

      gab es unschöne Szenen.

      Ich will hier nur dreieinhalb

      der unschönsten erwähnen:

      David beispielsweise trat

      Aaron auf die Zehen,

      was er mit dem Satz abtat,

      es sei gern geschehen.

      Oder Saul, der plötzlich schrie,

      er sei Gottes Enkel,

      denn er trage seine Knie

      unterhalb der Schenkel.

      Oder Habakuk, der Hirt,

      der beim Tanz so patzte,

      dass sein Leitbock sich verwirrt

      an den Leisten kratzte.

      Oder Mose, der das Kalb,

      statt es zu erschiessen –

      doch das sind schon dreieinhalb

      Szenen. Ich muss schliessen.6

      S tritt wieder ab. |14|

      Der Chor der Bischöfe tritt auf. Er besteht aus mindestens vier bis sechs Männern in bischöflichem Ornat (da­­run­ter auch E, aber nicht T).

      Die Texte des Chors sind staccato-artig zu sprechen, ohne Pausen zwischen den einzelnen Aussagen, aber auch ohne dass sich Sätze überlappen.