Название | Die Musik der Zukunft |
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Автор произведения | Robert Barry |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862872169 |
»Na ja«, antworte ich leicht ironisch, »nicht jeder Kritiker kann auch ein großer Künstler sein … andererseits, vielleicht hatten die Musiker auch unrecht. Sie mochten die Journalisten deswegen nicht, weil sie ihre Arbeiten nicht verstanden. Aber vielleicht ist am Ende Fiktion wichtiger als Wirklichkeit.«
Es gibt eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury mit dem Titel »Der Toynbee-Konvektor«. Erstmals veröffentlicht im Playboy im Januar 1984, handelt die Geschichte von einem eifrigen, jungen Reporter, der als einziger einen 130jährigen Mann interviewen darf, der als »der Zeitreisende« bekannt ist. Vor hundert Jahren ist dieser Mann offenbar aus der Zukunft zurückgekehrt – und zwar aus der Gegenwart, in der die Geschichte spielt. Er habe die Zukunft gesehen, behauptete er, und sie sei wunderbar. Als Beweis für das goldene Morgen, in das er mit seiner selbstgebauten Zeitmaschine gereist war, brachte er sogar ein paar Proben mit: »Tonbänder und Schallplatten, Filme und Tonkassetten«.
Von seinen Beweisen inspiriert, schufen die Menschen dieser Erde eben jene Zukunft, die er versprochen hatte. Es wurden die »Städte umgebaut, die Dörfer erneuert, Seen und Flüsse gesäubert, die Luft gereinigt, die Delphine gerettet, die Wale vermehrt, die Kriege beendet, Sonnenstationen im All verteilt, um die Erde zu erhellen, den Mond kolonisiert und uns weiter auf den Mars begeben, dann nach Alpha Centauri.«
An dem Tag des Besuchs bei dem alten Mann jährt sich dessen verheißungsvolle Reise in die Zukunft zum hundertsten Mal. Während sich die Menge draußen versammelt und darauf wartet, dass am Himmel das jüngere Selbst des Zeitreisenden erscheint, sagt der alte Mann endlich die Wahrheit: »Ich habe geschwindelt.«
»Ja«, sagt Antonio, als ich die Erzählung von Bradbury erwähne, »ich verstehe, was du meinst. Es ist wichtig, den Glauben nicht zu verlieren und weiter über diese Ideen zu sprechen. Sonst geraten wir in eine negative Rückkopplungsschleife, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung. Mit anderen Worten, eine utopische Vision der Musikkritik muss existieren, bevor sie anfangen kann, die Musik zu verändern.«
Ich habe mich oft gefragt, wie sich Bradbury die angeblich aus der Zukunft stammenden »Tonbänder und Schallplatten« seines Zeitreisenden eigentlich vorgestellt hat. Womit wären sie bespielt gewesen? Welche Materialien aus seiner Gegenwart oder Vergangenheit hätte er nutzen können, um sie irgendwie wie ein Produkt der Zukunft klingen zu lassen? Bilder oder sogar Filme zu fälschen, das konnte er sich sicherlich vorstellen. Bradbury kannte Hollywood. Als Teenager besuchte er Mitte der 1930er Jahre die Los Angeles High School; in der Hoffnung, einen Star zu treffen, fuhr er auf Rollschuhen in der Gegend um Melrose Place, Figueroa Street oder North La Brea Avenue herum, in der Nähe der Filmstudios.
Als Bradbury The Toynbee Convector schrieb, war er immerhin noch zwanzig Jahre von seinem eigenen Stern auf dem Hollywood Boulevard entfernt. Aber mehr als ein halbes Dutzend seiner Erzählungen waren schon ins Kino gekommen, noch viel mehr ins Fernsehen; für John Huston adaptierte Bradbury sogar Moby Dick. Er wusste genug über Spezialeffekte, genug darüber, dass das Kino aus nichts als Lügen bestand, 24 Bilder pro Sekunde. Doch wie schwindelt eine LP?
Als Bradbury Anfang der 1980er an seinem Schreibtisch in den Cheviot Hills saß, vielleicht mit dem Gefühl seines Zeitreisenden, dass überall »professionelle Verzweiflung, intellektuelle Langeweile« und »politischer Zynismus herrschten«, was hat er da gehört, das ihn denken ließ, jemand könne die Musik der Zukunft fälschen?
Obwohl ich mich während des Interviews in Zagreb dagegen gewehrt hatte: Die Musik hat in ihrer Geschichte mehr als einmal in die Kristallkugel geschaut. In seinem Buch Noise: The Political Economy of Music konstatiert Jacques Attali, dass die Musik seit frühesten Zeiten eng mit Formen des Rituals verbunden war, in denen sie gleichsam als Botin und Versprechen der Möglichkeit einer zukünftigen, neuen Gesellschaft fungierte. Für den Anthropologen Claude Lévi-Strauss ist die Musik selbst eine Form des Mythos, wenngleich anders verschlüsselt als die Sprache. In der westlich-christlichen Tradition konzentriert sich die vorherrschende Form der Mythologisierung vornehmlich auf die Vergangenheit. Der Mythos erzählt vom Ursprung der Dinge und legitimiert die anhaltende Macht der Priesterschaft und des Adels.
In den italienischen Opern des 17. und 18. Jahrhunderts geschieht diese Form der mythischen Legitimierung mit und durch Musik: Im Auftrag des Souveräns komponierte Werke kleiden den Monarchen zwangsläufig in traditionelle Gewänder und stellen ihn auf der Bühne als eine Art halbgöttliches Wesen oder klassischen Held dar. Während des Karnevals jedoch konnte die gesellschaftliche Ordnung umgekehrt werden. Und die Musik inszeniert diese Aufhebung der üblichen Hierarchien. Daher dramatisieren Werke wie Joseph Haydn Il mondo della luna oder Mozarts Le nozze di Figaro, deren Stoff aus der karnevalesken Tradition der Commedia dell’Arte stammt, direkt die Auflösung gesellschaftlicher Normen. Diener triumphieren über ihre Herren, die Jugend über das Alter.
Die Mitglieder der Florentiner Camerata, die Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Opern komponierten, gehörten auch zu den ersten Autoren musikalischer Manifeste, die sich explizit auf ihre Modernität beriefen. Dennoch gelang es Giulio Caccinis Le nuove musiche und Vincenzo Galileis Dialogo della musica antica et della moderne irgendwie, ihre Innovationen als Rekonstruktion antiker Praktiken darzustellen. Beispiele, auf die sich ihre »Rekonstruktionen« hätten berufen können, gab es nicht. Keines hatte die Jahrhunderte überlebt. In Abwesenheit eines antiken Vorbilds erfand die Camerata ihre eigene Geschichte und schuf unter der Hand die ersten modernen Kunstwerke, unbelastet von historischen Vorläufern. Sie erfanden die Mythen zu ihrer eigenen Musik.
In den sogenannten Intermezzi, die die Camerata für die Heirat von Ferdinando I. de’ Medici und Christine von Lothringen schrieben und aufführten, besteht der Mythos aus einer Reihe dramatischer Szenen, die von der »Harmonie der Sphären«, »Apollos Kampf gegen Python«, dem »Reich der Geister«, der »Rettung des Arion« und so weiter handelten. Mit den sechs kurzen, pantomimischen Stücken mit Orchesterbegleitung, elaborierten Bühneneffekten und Bühnenmaschinerie, Tanzeinlagen, einem Chor und Soloarien, ebneten Caccini, Galilei und ihre Kollegen den Weg für die ersten Opern ein Jahrzehnt später; sie inszenierten den Mythos als Musik und die Musik als Mythos. Möglicherweise hat Vicenzos Sohn, Galileo Galilei – der vielleicht mehr als jeder andere für unser Verständnis des Kosmos verantwortlich ist – gelernt, das Universum als organische Totalität zu begreifen, während er bei diesen Intermezzi als junger Mann die Laute spielte. Das erste Mal in die Galaxie schaute er aus dem Orchestergraben.
Zur Zeit der Französischen Revolution vollzog sich eine merkwürdige Verkehrung. Obwohl die Architekten der Guillotine keine Gelegenheit ausließen, sich rhetorisch in die Gewänder des alten Griechenlands oder Roms zu kleiden, bezog sich der Kern ihres Appells an das französische Volk nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. So erklärte Robespierre am Vorabend des terreur 1793: »Die Zeit ist gekommen, jeden zu seiner wahren Bestimmung aufzurufen. Der Fortschritt der menschlichen Vernunft hat diese große Revolution vorbereitet, und gerade Ihr seid es, denen die besondere Pflicht auferlegt ist, sie zu beschleunigen.« In den Worten des Historikers Reinhart Koselleck: »Für Robespierre ist die Beschleunigung der Zeit eine Aufgabe der Menschen, das Zeitalter der Freiheit und des Glücks, die goldene Zukunft herbeizuführen.«
Kaum ein Zeitgenosse von Robespierres Frankreich hat das Bild der goldenen Zukunft in so lebendigen Farben gemalt wie Charles Fourier. Seine Schriften, die abrupt vom erhellend Kritischen zum vollkommen Surrealen wechseln, bieten einen direkten Zugang zum mythischen Unbewussten Europas an der Schwelle zur Moderne.
Fourier griff Robespierres Versprechen der Selbstbestimmung begeistert auf. Während der 1790er Jahre schrieb er Hunderte Briefe an verschiedene Abteilungen der neuen Regierung und formulierte Vorschläge zur Verbesserung dieser oder jener Einrichtung. Da seine Bemühungen jedoch regelmäßig ins Leere liefen, gab er schließlich auf, die Welt nach seinem Bilde zu formen und beschloss, selbst eine Welt zu erfinden. Das Phalanstère, das Fourier in einer Reihe von utopischen Texten und Traktaten zwischen 1808 und seinem Tod 1837 entworfen hatte, war ein Eden der Zukunft, ein Paradies auf Erden: Einerseits war es weit entfernt, handelte es sich doch für Fourier um die achte von ganzen 32 Phasen einer 8000 Jahre dauernden Zukunftsgeschichte; andererseits war es längst überfällig, weil verwirrenderweise immer zum Greifen nah.