Название | Wer ist schon alt? |
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Автор произведения | Alexander Schug |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783940621597 |
Für die Antike wissen wir nichts über das Alter der Sklaven und Sklavinnen, und wir wissen sehr wenig über das Alter von Frauen. Wir können jedoch davon ausgehen, dass auch in antiker Zeit ca. sechs bis acht Prozent der Bevölkerung nach heutigen Maßstäben alt, das heißt über 60 Jahre alt wurden. 9 Aber die Philosophen – schon der vorklassischen griechischen Zeit – haben sich zumindest über das Altern von Männern grundlegende Gedanken gemacht. Während beispielsweise Solon, der ungefähr 600 v. Chr. in Athen lebte, ein langes Leben schätzte und die Lernfähigkeit betonte: „Werde ich älter auch stets, Neues lerne ich doch” 10 , so wünschten sich andere Schriftsteller wie etwa Mimnermos (ebenfalls ca. 600 v.Chr.) zu sterben, wenn: „Liebe in heimlicher Kammer und holde Gewährung und Lager“ 11 nicht mehr locken würden. Der eine betonte die Chancen des Alterns, der andere klagte über den Verlust an Lebensfreude, den das Alter mit sich bringen würde. Doch Solon wusste auch um die Realität des Alters und führte in Athen ein Gesetz ein, dass es verbot, die alten Eltern zu schlagen. 12 Mit der Übergabe ihres Besitzes an den Erben verloren die Alten aus der besitzenden Schicht ihre Stellung und wurden von den Entscheidungen des Sohnes abhängig. 13
In der klassischen griechischen Tragödie wurde das Alter vor allem als Klagegrund behandelt. Doch Platon (ca. 428-347 v.Chr.) wiederum betonte den Zugewinn an Weisheit, der mit dem Alter zu erwarten sei. Für ihn war der betagte Mann, gereinigt von allen Leidenschaften, besonders geeignet für die Politik. Das Greisenalter ist bei ihm der Höhepunkt des Lebens, der Punkt der höchsten Weisheit und Überlegtheit, allerdings nur, wenn der Einzelne sein Leben auf eine solche moralische, emotionale und intellektuelle Steigerung des Ichs angelegt hatte. 14
Platon sah im Alter große Vorteile und betonte in seinen Schriften den Zugewinn an Weisheit.
Aristoteles (ca. 384-322 v.Chr.) hingegen behauptete, alte Menschen seien viel zu ängstlich, kritisch und vom Leben enttäuscht, um vernünftige Entscheidungen für die Allgemeinheit zu fällen. Nur das mittlere Lebensalter – der gereifte, aber noch nicht alte Mann – sei für verantwortungsvolle Aufgaben geeignet: 15 „Niemand wählt sich junge Leute zu Führern, weil er ihre Klugheit nicht hoch stellt. Mit der Tapferkeit verhält es sich umgekehrt, denn die Geltendmachung der Tapferkeit ist in der Jugend nötiger; ebenso ist es mit der Selbstbeherrschung, da die jüngeren Leute mehr als die älteren von den Leidenschaften beunruhigt werden.“ 16 In der bildenden Kunst wurden sowohl die Sportler, als auch die Philosophen und teilweise sogar die reifen Frauen abgebildet. Den Eltern gegenüber waren die Athener gesetzlich zur Fürsorge verpflichtet. Trotzdem versuchten die meisten Menschen, lieber selbst für das Alter vorzusorgen, als später von den Kindern abhängig zu sein. 17
Das war in römischer Zeit etwas anderes. In Rom leitete sich sämtliche Autorität im Staat von der Macht des Vaters ab. Und der Vater blieb in dieser Machtposition, auch wenn er alt wurde. Erst der Tod oder körperlicher und geistiger Verfall – über die Geschäftsfähigkeit musste dann vor Gericht entschieden werden – beendete das. 18 Doch auch in römischer Zeit wurde Alter – immer handelt es sich um das Alter von Männern – nicht nur positiv gesehen. Und der Großteil der politischen und wirtschaftlichen Macht lag hier, wie zu anderen Zeiten, in den Händen der mittelalten Männer. 19
Es gab sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das Phänomen des Alterns. Die stoische Philosophie empfahl ihren Anhängern – wie bei allen anderen Misslichkeiten – das Alter zu ertragen und dadurch zu überwinden. Durch immerwährende moralische und intellektuelle Verbesserung des eigenen Ichs – und durchs Maßhalten – könne ein glückliches Alter erreicht werden. Das ist auch die Hauptaussage von Ciceros (106-43 v.Chr.) Schrift „Cato maior de senectude“: „Wie nämlich nicht jeder Wein, so wird nicht jeder durch hohes Alter sauer.“ 20 Das Alter sei weder feige noch ängstlich, sondern überlegt und dadurch überlegen: Es kann den Leidenschaften entsagen und sich auf das Wesentliche, auf Studium und Gelehrsamkeit, konzentrieren. 21 Doch das Alte Rom kannte auch weiterhin die klassische Altersklage: Die Dichter Catull und Horaz trauerten der Jugend nach und beweinten, dass das Alter Lust und Liebe nicht mehr empfinde und nur noch Abschied bedeute. 22 Das trifft laut Horaz vor allem die Frauen, die nach Verlust der sexuellen Anziehungskraft nur schwer ihre Rolle– und ein ihrem Alter entsprechendes Benehmen finden. 23 Denn im Grunde blieb ihnen (nach der Mutterschaft) lediglich die Wollarbeit als Lebensinhalt. 24
Vereinfacht zusammengefasst übernahm Europa aus der Antike zwei Traditionsstränge, was den Umgang mit dem Alter betraf. Einmal die Klage – über das Alter und seine Bedingungen – und zum anderen die positive Sicht auf ein glückliches Alter, weil der eigene Geist nach einem geordneten Leben bis zum Tod lernen und man so an Weisheit gewinnen könne.
Zur antiken Tradition addierte sich die christliche, wobei weniger eine Verbindung, als vielmehr ein nebeneinander der antiken und der christlichen Alterssicht entstand. Zwar teilte in der biblischen Tradition das Alte Testament mit den griechisch-römischen Autoren die positive Wertung des Alters: Das Alte Testament fordert auf, die Alten zu ehren (Leviticus 19,32), da sie über Weisheit und Klugheit verfügen (Hiob 12,12). Auch die Rechtsprechung sollte in ihren Händen liegen, da sie gerecht urteilen können (Daniel 7,22). Diese Gedanken finden sich auch im Neuen Testament (vgl. z. B. Lukas 2,52). Außerdem schreiben die Zehn Gebote vor, Vater und Mutter zu ehren. Alter war also eigentlich ein verehrungswürdiger Zustand. Mindestens ebenso wichtig wurde jedoch im Christentum ein weiterer Gedanke: Für Christen – eigentlich von den Frühchristen bis weit in die Neuzeit hinein – war Alter kein Thema. Denn nicht die Frage der Länge des Lebens oder die Bedingungen des Alters waren wesentlich, sondern die Vorbereitung auf das ewige Leben nach dem Tod und der Wiederkehr Christi. Ob jemand jung oder alt stirbt, fiel vor dem Hintergrund der Ewigkeit nicht ins Gewicht, vielmehr, ob er ein gottgefälliges Leben geführt hatte und so mit seinem Leben Gott näher gekommen war. Aus dieser grundsätzlichen Haltung gegenüber dem Leben und dem Tod resultierte, dass nur wenige christliche Schriftsteller und Theologen sich speziell mit dem Alter beschäftigt haben.
Einer war der Kirchenvater Augustinus (354-430). Er sah das Alter zweigeteilt: auf der einen Seite den körperlichen Verfall, auf der anderen Seite den religiösen Gewinn durch die stete Annäherung an Gott. 25 Aber auch Augustinus ging es nicht so sehr um das Alter, jedes Lebensalter, auch die Jugend, sollte letztlich nach eben dieser Annäherung an Gott streben. Die mittelalterliche Mystik entwickelte dann die Vorstellung, dass eine innere Verjüngung der Menschen im und durch den Glauben an Christus und durch tätige Liebe in der Gemeinde schon auf Erden stattfinden könnte – ungeachtet seiner körperlichen Entwicklung. 26 Aus dieser Sicht heraus war Alter kein Grund, bemitleidet zu werden: Aus christlicher Sicht musste man sich um die Alten nur dann kümmern, wenn sie krank, hilfsbedürftig und arm wurden – aber genauso, wie man sich auch im Namen der christlichen Nächstenliebe um junge Kranke oder Arme zu kümmern hatte. Die Vorstellung von der Erneuerung durch Gott konnte über die Vergänglichkeit der materiellen Welt und des eigenen Körpers hinwegtrösten. Nur, wer seine Seele von Gott abwendete, alterte wirklich, wer bei Gott blieb und seine Nähe suchte, blieb jung oder wurde wieder jünger. 27
In das europäische Mittelalter hinein wurden antike Traditionen weitergetragen – wie die der Lebenstreppe, die schon in Griechenland als Vorstellung entwickelt wurden. Eingeteilt in vier große Abschnitte oder in sieben mal sieben Jahresstufen erschien das Leben als Aufstieg bis zum mittleren Lebensalter, um dann wieder abzusteigen bis hin zum Tod.
Aber auch die auf die Ewigkeit gerichtete Altersignoranz der Christen blieb maßgeblich für die weitere Sicht auf das Alter in Europa. 28
Im Mittelalter bis in das 16. Jahrhundert hinein war zwar die durchschnittliche Lebenserwartung nicht sehr hoch (sie lag bei 40 Jahren), da viele Kinder in den ersten Lebensjahren starben. Aber diejenigen, die die Kindheit überlebt hatten, wurden durchaus auch 60 oder 70 Jahre, manche sogar 80 und 90, auch Hundertjährige kamen vor.