Название | Faust oder Mephisto? |
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Автор произведения | Willi Jasper |
Жанр | Социальная психология |
Серия | |
Издательство | Социальная психология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783801270322 |
Dass Zola den moralischen Geist dieser Rolle verkörperte, hat Anatole France in seiner Grabrede am 5. Oktober 1902 betont: »Zola war gut. Er hatte die Größe und Einfachheit der großen Seelen. Er war tief moralisch. Er hat das Laster mit einer harten und tugendhaften Hand gemalt. Sein scheinbarer Pessimismus, die finstere Stimmung vieler seiner Seiten verbergen kaum einen wirklichen Optimismus, einen Glauben an den Fortschritt der Intelligenz und die Gerechtigkeit. Er verfolgte in seinen Romanen, die soziale Studien sind, mit kraftvollem Hass eine müßige und frivole Gesellschaft, eine niedrige und schuldige Aristokratie, er bekämpfte das Übel der Zeit, die Macht des Geldes. Obwohl er Demokrat war, schmeichelte er nie dem Volk, er bemühte sich, ihm zu zeigen, wie es, durch Unwissenheit und durch den Alkohol blöde und wehrlos gemacht, der Unterdrückung, dem Elend und der Schande ausgeliefert ist. Er bekämpfte das gesellschaftliche Übel, wo immer er es antraf. Das war das Wesen seines Hasses. In seinen letzten Büchern zeigte er seine ganze Liebe zur Menschheit. Er war bestrebt, sich eine bessere Gesellschaft vorzustellen und sie anzukündigen.«
Die Dreyfus-Affäre symbolisierte nicht nur eine nationalistisch-antisemitische Gesellschaftskrise Frankreichs, sondern wurde durch Zola zum politisch-intellektuellen Markstein im kollektiven Gedächtnis Europas. Das galt auch für Spanien. Hier standen auf der Seite der Dreyfus-Verteidiger, wie Bernd Rother zusammenfasst, »die Mehrheit der Intellektuellen« und die größten Zeitungen des Landes wie El Pais, El Imparcial, El Liberal oder El Correo. Die liberalen Blätter empörten sich darüber, dass »alle wichtigen katholischen Strömungen« in Europa »den Antisemitismus ablehnen« würden und »nur die Katholische Kirche in Spanien eine beschämende Ausnahme« sei. Doch bei allen liberalen Entwicklungen: So wurde die Spaltung der spanischen Öffentlichkeit nicht überwunden. Für die traditionell reaktionären Kräfte in Kirche, Militär und Staatsapparat blieb, »wie kaum anders zu erwarten, die Schuld von Dreyfus nicht zweifelhaft«.
Auch in Deutschland war die öffentliche Wahrnehmung der französischen Ereignisse nicht ungeteilt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hier betrachtete die Dreyfus-Affäre aus einem judenfeindlichen Blickwinkel heraus. Doch es gab auch andere Stimmen, wie den jungen Heinrich Mann, der Zola verehrte und dessen Kritik an der Ära Napoleons III. auf das wilhelminische Kaiserreich übertrug. In seinen Essays »Geist und Tat« (1910) und »Zola« (1915) feierte Mann den Franzosen Zola als Vorbild für die Herausbildung eines demokratischen Geistes in Europa. Seine Analyse der deutschen Verhältnisse in puncto Demokratie war hingegen ernüchternd. »Zur Abschaffung ungerechter Gewalt« habe sich in Deutschland fast »keine Hand bewegt«. In Frankreich hätten sich demgegenüber die wichtigsten Schriftsteller »von Rousseau bis Zola« nie von den breiten Massen getrennt, sondern seien aus sozialen und humanen Motiven stets »der bestehenden Gewalt entgegengetreten.« Hier sei der Geist immer wieder zur politischen Tat geschritten. »Intellektuelle«, so Heinrich Mann, »sind weder Liebhaber noch Handwerker des Geistes. Man wird es nicht, indem man gewisse Berufe innehat. Man wird es noch weniger durch das lüsterne Betasten geistiger Erscheinungsformen, und am wenigsten sind jene Tiefenschwärzer gemeint, die gedankliche Stützen liefern für den Ungeist.« Der »Intellektuelle« erkenne »Vergeistigung« nur an, wo »Versittlichung« erreicht wurde. »Er wäre nicht, der er ist, wenn er Geist sagte, ohne Kampf für ihn zu meinen.« Das ist gut 100 Jahre her und zwei fürchterliche Weltkriege.
Europa unterm Brennglas der Pandemie
Auf die Frage, wie er die Corona-Krise einschätze, antwortete der Philosoph Jürgen Habermas unlängst: »Eines kann man sagen: So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.« Hier offenbart sich Ratlosigkeit gegenüber den Ursachen und Folgen einer weltweiten Katastrophe. Zweifellos ist die aktuelle Pandemie etwas Neues. Aber auseinandersetzen muss man sich mit der Geschichte schon – auch wenn es wehtut: Bereits vor mehr als 3.000 Jahren gab es eine dokumentierte Influenza-Epidemie in Zentral- und Südasien. Seitdem wiederholten sich Seuchenkatastrophen immer wieder. Im 16. Jahrhundert starben 40 Prozent der Bevölkerung Mexikos an den Pocken. Im 17. Jahrhundert erlagen in Spanien 700.000 Menschen der großen Pest von Sevilla, und 1831/32 wanderte die europäische Cholera-Krise von Paris bis Warschau. Zwischen 1918 und 1920 forderte die Spanische Grippe bis zu 50 Millionen Tote und auch die Hongkong-Grippe (1968 –1970) mehrere Millionen (davon 50.000 in Deutschland). Und nicht vergessen sollte man, dass es seit 1981 mehr als 30 Millionen Aids-Opfer und noch viel mehr Tote durch Malaria und Tuberkulose gibt. Bei allen diesen Katastrophen ging und geht es nie nur um medizinische Probleme, sondern generell um ökologische, ökonomische, soziale und politische Ursachen und Folgen. Doch wer Vergleichbarkeit unterstellt, läuft zurzeit Gefahr, von einem neuen Typ des Frömmlers, den es auch in seriösen Medien gibt, zum Corona-Verharmloser, gar Leugner gestempelt zu werden. Zu Recht? Wo sind die Intellektuellen, die das öffentlich diskutieren?
Der französische Philosoph Edgar Morin hat schon vor Jahrzehnten in seinem sechsbändigen Hauptwerk »Die Methode« den wissenschaftlichen »Reduktionismus« in der Analyse des Verhältnisses von Natur und Mensch kritisiert: »Das Denken, welches vereinfacht, ist zur Barbarei der Wissenschaft geworden. Dies ist die spezifische Barbarei unserer Zivilisation.« Auch in Europa lebten die Menschen in Gesellschaften mit voneinander getrennten Erkenntnissen. Die Reform des Denkens, die Morin von den Intellektuellen forderte, müsse diese Einzelerkenntnisse wieder verbinden, die Teile mit dem Ganzen und das Ganze mit den Teilen – sowie die Beziehung des Lokalen mit dem Globalen begreifen. Der griechische Ökonom und Politiker Yanis Varoufakis erklärte, dass sich »die Welt mit der Corona-Krise nicht wirklich verändert« habe, vieles komme »nur jetzt deutlicher zum Vorschein«. Das Virus sei eine Art Vergrößerungsglas für schon länger existierende gesellschaftliche Probleme. Doch nicht nur der krasse Widerspruch zwischen arm und reich werde durch die Pandemiefolgen sichtbarer, sondern auch das Fehlen einer intellektuellen Öffentlichkeit. Vor allem in und für Europa. Die Europäische Union dürfe nicht weitermachen wie bisher, sonst drohe ihr Untergang.
Schon als die Eurokrise Ende 2011 ihren Höhepunkt erreichte, machten einige Kritiker auf einen Aspekt aufmerksam, der damals kaum registriert wurde: Die Krise war ja nicht nur ein Ausdruck für das Versagen der Europäischen Zentralbank, der griechischen Bürokraten, italienischen Nichtsteuerzahler und einer erpresserischen Politik der deutschen Merkel-Regierung – sondern sie stand auch für ein umfassendes Versagen der Intellektuellen. Warum verteidigten sie nicht mit (direktem) öffentlichem Engagement die europäische Einigung, demokratische Grundrechte, Solidarität und soziale Gerechtigkeit? Heute stellt sich die Frage sogar weitaus brutaler. Die Corona-Pandemie und Quarantänemaßnahmen trafen die südlichen Länder Italien und Spanien besonders hart. Die nördlichen Länder – vor allem Deutschland – verhielten sich bei der medizinischen Hilfeleistung und in der Finanzfrage einer gemeinsamen Kreditregelung (Corona-Bonds) anfangs erneut unsolidarisch. Warum legten prominente Intellektuelle in dieser Situation nicht konkrete, gemeinsame Pläne einer europäischen Krisenbekämpfung und gesellschaftlichen