Название | Das Ende |
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Автор произведения | Mats Strandberg |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038801290 |
»Pfui!«, rufe ich und ziehe die Stöpsel aus meinen Ohren.
Er schaut zu mir hoch und schlabbert ein wenig Wasser. Dann schnaubt er auf und springt schwerfällig zurück zum Ufer. Am Strand angekommen, schüttelt er sich ausgiebig.
Auf dem nahe gelegenen Steg entdecke ich plötzlich eine Person mit einer schwarzen Mütze auf dem Kopf. Als ich genauer hinschaue, dreht sie den Kopf weg, aber ich weiß sofort, dass es Lucinda ist.
Lucinda, Tildas frühere beste Freundin. Die auf den Fotos an Tildas Zimmerwand zu sehen ist. Neben ihr in einem Bus sitzend und schlafend, einander am Beckenrand umarmend, oder auch umringt von anderen aus dem Schwimmverein, und doch scheinen die beiden wie in eine unsichtbare Blase aus Zweisamkeit gehüllt.
Ich selbst bin Lucinda nur ein paarmal begegnet. Damals im Krankenhaus. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon angefangen sich zurückzuziehen. Sogar von Tilda. Wie oft musste ich Tilda nach einer weiteren unbeantworteten Nachricht oder einem unerwiderten Anruf trösten?
Ich schaue ebenfalls weg und bin froh, dass Lucinda ganz offensichtlich nicht in Kontakt zu mir treten will, denn ich habe keine Ahnung, worüber ich mit ihr reden sollte.
Ich dehne die Rückseiten meiner Oberschenkel, wobei Schweiß von meinem Gesicht in den Sand tropft.
Als Tilda und ich im vergangenen Herbst ein Paar wurden, redeten alle über Lucinda. Sie hatte gerade ihre Diagnose erhalten und der gesamte Schwimmverein stattete ihr einen Besuch im Krankenhaus ab. Amanda und Elin posteten Fotos von sich auf ihrer Bettkante sitzend und bewunderten ihre Stärke und ihren Mut. Tilda hingegen hasste all das Gehabe und fand, dass sie Lucinda zu einer Figur stilisierten, zu einer Nebenrolle in ihrem eigenen Leben. Die wunderbare Freundin mit dem tragischen Schicksal. Lucinda, deren Mutter an Krebs gestorben war. Lucinda, deren Vater Arzt ist und dem es trotzdem nicht gelungen ist, seine Frau oder seine Tochter zu retten. Die Monate vergingen und die Prognosen zu Lucindas Krankheit waren unsicher und widersprüchlich. Alles war furchtbar kompliziert. Nicht annähernd so wie in irgendwelchen Krankenhausserien.
Inzwischen hat schon lange keiner mehr von Lucinda gesprochen. Von dem Mädchen, das Krebs hat.
Ich richte mich langsam auf und schüttele die Milchsäure aus den Beinen. Auf einmal höre ich Bumbum kläffen. Als ich ihn erblicke, läuft er geradewegs über den Steg.
»Bumbum! Hierher!«
Er tut so, als würde er mich nicht hören, und bohrt dann schwanzwedelnd seinen riesigen Kopf in Lucindas Armbeuge. Plötzlich fällt mir ein, dass wir während unseres Krankenbesuchs bei Lucinda einen Mundschutz tragen mussten, und mich befällt Panik. Schon die harmloseste Erkältung oder der kleinste Infekt könnten sie umbringen.
Ich laufe zum Steg und rufe noch einmal nach Bumbum. Der Hund schaut freudig auf, bevor er Lucinda die Wange leckt. Sie versucht ihn wegzuschieben. Eigentlich dachte ich immer, dass Hunde eine Art sechsten Sinn dafür hätten, wie sich Kranke fühlen, doch das gilt offenbar nicht für Bumbum.
Der Steg schwankt unter mir. Bei Lucinda angekommen, ziehe ich ihn sofort von ihr weg, woraufhin er spielerisch nach meiner Hand schnappt.
»Ab mit dir!«, fordere ich ihn mit strenger Stimme auf.
Lucinda wischt sich mit dem Ärmel über die Wange und schaut widerwillig zu mir hin.
Irgendetwas in ihrem Gesicht hat sich verändert. Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass ihre Augenbrauen fehlen. Ihre Wangen wirken im harten hellen Tageslicht eingefallen. Und dennoch sieht sie irgendwie gesünder aus. Lebendiger.
»Sorry«, sage ich. »Ich hab nicht mitgekriegt, dass er abgehauen ist.«
»Schon okay.«
Unter ihrem Kapuzenpulli zeichnet sich deutlich ihr Schulterblatt ab, und jetzt sehe ich auch, dass die Haare unter ihrer dünnen Mütze nur einen kurzen Flaum bilden.
Ich zögere. Es wäre leichter, einfach wieder zu gehen. Und ich weiß, dass auch sie das denkt. Dennoch setze ich mich neben sie. Ich muss sie fragen, was Bumbum angestellt hat.
Der Hund springt noch immer aufgeregt im Kreis herum. Ich drehe mich zu ihm um und befehle ihm, Platz zu machen. Erstaunlicherweise gehorcht er, wirft mir aber einen beleidigten Blick zu. Dann beginnt er so heftig zu hecheln, dass der Steg vibriert. Ich beuge mich übers Wasser vor und schöpfe mir ein paar Hände voll ins Gesicht und in den Nacken, um mich abzukühlen.
»Sicher, dass alles okay ist?«, frage ich.
»Bei ’nem Menschen wäre es schlimmer gewesen.«
»Dann werde ich versuchen mich zurückzuhalten«, entgegne ich.
Sie lächelt leicht über meinen halbherzigen Versuch, einen Scherz zu machen.
»Wie geht’s dir?«, frage ich und zögere erneut. »Du siehst frischer aus.«
»Ich hab mit der Chemo aufgehört.«
»Aha. Was ist da eigentlich drin?«
»Zellgifte.«
Ich zucke unweigerlich vor dem Wort zurück und kann nur hoffen, dass sie es nicht merkt.
»Aber so nennt man sie heute nicht mehr«, fügt sie hinzu.
»Dann bist du also wieder gesund?«
Sie betrachtet mich von der Seite.
»Nein. Aber der Komet wird mich wahrscheinlich töten, bevor der Krebs es tut. Deshalb konnte ich die Behandlung auch ebenso gut abbrechen. Also … hurra!«
»Oh, das tut mir leid«, sage ich und komme mir wie ein Idiot vor. »Ich hätte es wissen müssen.«
»Nein«, entgegnet sie rasch und schaut aufs Wasser hinaus. »Ich muss mich entschuldigen. Ich hab anscheinend jegliche Umgangsformen vergessen.«
Ich frage mich, wie ernst sie es meint und wie einsam sie sein muss. Vielleicht weiß sie noch nicht mal, dass zwischen Tilda und mir Schluss ist.
Tilda, die mich verlassen hat. Tilda, die von Lucinda verlassen wurde.
Tilda ist die einzige Person, die uns verbindet, aber ich glaube kaum, dass Lucinda über sie reden möchte.
Über dem See fliegt ein Vogel so dicht über die Oberfläche, dass seine Flügel fast das Wasser berühren.
»Und du?«, fragt sie. »Wie geht’s dir? Was ist mit deiner Augenbraue passiert?«
»Ich bin gestern beim Public Viewing gewesen.«
»Dann hattest du ja noch Glück. Mein Vater hat heute Nacht in der Notaufnahme Dienst geschoben und …«
Sie verstummt, als das Handy in meiner Tasche vibriert. Ich ziehe es heraus und sehe, dass Tilda endlich geantwortet hat. Ich wische mir die Finger an meinen Shorts trocken, damit ich meine PIN eingeben kann.
Alles okay. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.
Ich überlege, was ich antworten soll, weiß aber nicht, ob es nach gestern Abend überhaupt angebracht ist, etwas zu schreiben. Schließlich schicke ich ein Koala-Emoji.
So haben wir es immer gemacht, wenn wir aneinander dachten. Es fing damit an, dass Tilda meinte, ich würde mich nachts im Schlaf wie ein Koala an sie klammern. Doch irgendwann erfuhren wir, dass sich Koalas oft mit Geschlechtskrankheiten anstecken. Schade für sie, aber wir fanden es danach noch lustiger.
Ich schiebe mein Handy zurück in die Tasche. Lucinda hat diskret weggeschaut. Ich überlege, was ich noch sagen könnte, bevor ich aufbreche. Etwas, um die Situation aufzulockern.
»Und wie läuft’s so mit deinen beiden Müttern?«, fragt Lucinda plötzlich. »Wie heißen sie noch mal?«
»Stina und Judette«, antworte ich erstaunt. »Kennst du sie etwa?«