Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt. Blaise Pascal

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Название Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt
Автор произведения Blaise Pascal
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783843803175



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Sie herrscht nur über äußerliche Taten. (92)

      Wenn es zu entscheiden gilt, ob man Krieg führen und so viele Menschen töten, so viele Spanier zum Tod verurteilen soll, dann trifft ein einzelner Mensch diese Entscheidung, der noch dazu befangen ist. Es müsste ein unparteiischer Dritter sein. (93)

      Auf welche Grundlage wird er den geordneten Lauf der Welt stellen, die er regieren will? Auf die der Laune eines jeden Einzelnen? Was für ein Chaos! Auf die Grundlage der Gerechtigkeit? Er kennt sie nicht. Wenn er um sie wüsste, dann hätte er gewiss nicht diese unter den Menschen allgemeinste Maxime aufgestellt, dass ein jeder sich nach den Sitten seines jeweiligen Landes richte: Die Strahlkraft der wahrhaftigen Gleichheit hätte sich alle Völker untertan gemacht. Und die Gesetzgeber hätten nicht anstelle dieser beständigen Gerechtigkeit die Fantasien und Launen der Perser und Deutschen zum Vorbild genommen. Man sähe diese Gerechtigkeit eingepflanzt in alle Staaten der Welt und zu allen Zeiten, anstatt zuzusehen, wie das, was Recht und Unrecht ausmacht, sich je nach Klima ändert. Eine um drei Grad größere Polhöhe stellt die ganze Rechtsgelehrtheit auf den Kopf, ein Meridian entscheidet über die Wahrheit. Innerhalb weniger Jahre einer Regentschaft ändern sich die grundlegenden Gesetze. Das Recht kennt seine Zeitalter, der Eintritt des Saturn in das Sternbild des Löwen zeigt uns den Ursprung eines solchen Verbrechens an. Was für eine komische Gerechtigkeit, die von einem Fluss begrenzt wird! Die Wahrheit diesseits der Pyrenäen ist jenseits davon Irrtum.

      Sie gestehen ein, dass die Gerechtigkeit nicht in diesen Bräuchen zu finden ist, sondern dass sie auf den natürlichen Gesetzen beruht, die allen Ländern gemeinsam sind. Gewiss würden sie daran entschlossen festhalten, wenn die Verwegenheit des Zufalls, der die Saat der menschlichen Gesetze ausgebracht hat, darin wenigstens eines gefunden hätte, das allgemeingültig wäre. Doch es ist eine solche Komödie, dass die Laune des Menschen sich so vielfältig ausgestaltet hat, dass es kein einziges allgemeingültiges gibt.

      Diebstahl, Inzest, Kindsmord und Vatermord – das alles wurde schon unter die tugendhaften Taten eingereiht. Kann es etwas geben, das noch lächerlicher wäre, als dass ein Mensch das Recht hat, mich zu töten, weil er auf der anderen Seite des Flusses wohnt und sein Landesfürst Streit mit dem meinen hat, obwohl ich selbst mit ihm gar nicht in Streit liege?

      Ohne Zweifel gibt es natürliche Gesetze, doch diese tolle verdorbene Vernunft hat alles verdorben. Nihil amplius nostrum est, quod nostrum dicimus artis est. Ex senatusconsultis et plebiscitis crimina exercentur. Ut olim vitiis nunc legibus laboramus.7 Von dieser Verwirrung kommt es, dass der eine behauptet, das Wesen der Gerechtigkeit sei die Autorität des Gesetzgebers, der andere, es sei die Bequemlichkeit des Souveräns, wiederum ein anderer behauptet, der gegenwärtig herrschende Brauch. Und Letzteres ist das Gewisseste.

      Folgt man der Vernunft allein, ist nichts für sich genommen gerecht, alles unterliegt mit der Zeit der Erschütterung. Der herrschende Brauch macht alle Gerechtigkeit aus, allein aus dem Grund, weil er akzeptiert ist. Dies ist die geheimnisvolle Grundlage ihrer Autorität. Wer sie auf ihr Prinzip zurückführte, machte sie zunichte. Nichts ist so mit Fehlern behaftet wie diese Gesetze, die die Fehler korrigieren. Wer sie befolgt, weil sie gerecht sind, gehorcht der Gerechtigkeit in seiner Einbildung, doch nicht dem Wesen des Gesetzes. Es ist ganz in sich selbst eingeigelt, es ist Gesetz und sonst nichts. Wer dessen Begründung nachprüfen wollte, befände sie als so schwach und unbedeutend, dass er, wäre er nicht an die Betrachtung der überaus reichen menschlichen Einbildungskraft gewöhnt, darüber staunen würde, dass ihm ein Zeitalter so viel Prunk und Verehrung angedeihen ließ. Die Kunst, ganze Staaten in Aufruhr und Umsturz zu versetzen und den etablierten Bräuchen den Boden zu entziehen, indem man bis an ihre Quelle vordringt, um ihren Mangel an Autorität und Gerechtigkeit aufzuzeigen. Man sagt, man müsse auf die grundlegenden und ursprünglichen Gesetze des Staates zurückgehen, die ein ungerechter Brauch abgeschafft habe. Das ist ein Spiel, bei dem man mit Sicherheit alles verliert, nichts wäre nach diesem Maßstab gerecht. Doch das Volk schenkt solchen Reden gern Gehör. Die Leute schütteln das Joch ab, sobald sie es als solches erkennen, und die Großen profitieren davon zum Verderben des Volkes und dieser neugierigen Erforscher überkommener Bräuche. Deshalb behauptete der weiseste unter den Gesetzgebern, dass man das Volk um seines eigenen Wohles willen oftmals hinters Licht führen muss. Cum veritatem qua liberetur ignoret, expedit quod fallatur.8 Es darf die Wahrheit der Usurpation nicht bemerken. Sie wurde seinerzeit ohne Vernunftgründe eingeführt, sie ist [mit der Zeit] vernünftig geworden. Man muss dafür sorgen, dass sie als echt und immerwährend angesehen wird, und ihren Anfang verheimlichen, wenn man nicht will, dass es mit ihr bald zu Ende gehe. (94)

      Wie die Mode bestimmt, was gefällt, so legt sie auch fest, was gerecht ist. (95)

      Die Bewunderung verdirbt alles, von Kindesbeinen an! Oh, wie treffend das gesagt ist, oh, wie gut er das gemacht hat, wie brav er ist. Die Kinder von Port Royal9, denen man keinerlei Ansporn zu Neid und Ruhmsucht gibt, werden diesbezüglich unbekümmert und gelassen. (97)

      Mein und Dein

      »Dieser Hund gehört mir«, sagten diese armen Kinder. »Das hier ist mein Platz an der Sonne.« Hier haben wir den Anfang und die Vorstellung der gewaltsamen Inbesitznahme der ganzen Erde. (98)

      Vielfalt

      Die Theologie ist eine Wissenschaft, doch wie viele Wissenschaften ist sie zugleich? Der Mensch ist eine substanzielle Einheit, doch wo bleibt der Mensch, wenn man ihn zerteilt? Ist er dann der Kopf, das Herz, der Magen, die Blutgefäße, jedes einzelne Blutgefäß oder jeder einzelne Abschnitt davon, das Blut, jeder einzelne Körpersaft im Blut?

      Von Weitem betrachtet sind eine Stadt und eine Landschaft ebendies: eine Stadt und eine Landschaft. Doch je näher man kommt, umso mehr handelt es sich um Häuser, Bäume, Ziegel, Blätter, Gräser, Ameisen usw. ad infinitum. All das ist in der Bezeichnung »Landschaft« enthalten. (99)

      Ungerechtigkeit

      Es ist gefährlich, dem Volk zu sagen, die Gesetze seien nicht gerecht, denn es hält sich an diese Gesetze nur deshalb, weil es glaubt, sie seien gerecht. Deshalb muss man dem Volk zugleich auch sagen, dass man sich an die Gesetze halten muss, schlicht, weil sie Gesetze sind, genauso, wie man der Obrigkeit nicht deshalb gehorchen muss, weil sie gerecht ist, sondern einfach deshalb, weil sie die Obrigkeit ist. Hierdurch beugt man jeglichem Aufruhr vor, wenn man das vermitteln kann und wenn man vermitteln kann, dass dies die Definition der Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne ist. (100)

      Ungerechtigkeit

      Die Rechtsprechung ist nicht für den da, der Recht spricht, sondern für den, über den Recht gesprochen wird. Es ist gefährlich, dies dem Volk zu sagen. Doch das Volk vertraut euch allzu sehr. Das wird ihm nicht zum Schaden gereichen und kann euch nützlich sein. Man muss es also öffentlich kundtun. Pasce oves meas [»Weide meine Schafe«; Joh 21,17], non tuas [nicht deine]. Ihr schuldet mir eine Weide. (101)

      Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das von der Ewigkeit davor und danach aufgesogen wird – memoria hospiis unius diei praetereuntis10 – den kleinen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, den Raum, der vom Abgrund der unendlichen Unermesslichkeit der Räume verschlungen wird, die ich nicht kenne und die ihrerseits mich nicht kennen, dann gerate ich in Schrecken und Erstaunen darüber, dass ich gerade hier und nicht vielmehr dort bin. Denn es gibt überhaupt keinen Grund dafür, ausgerechnet hier und nicht dort, jetzt und nicht zu einer anderen Zeit zu sein. Wer hat mich hierher gestellt? Auf wessen Anordnung und Walten geht es zurück, dass gerade dieser Ort und diese Zeit für mich bestimmt sind? (102)

      Wenn unsere Daseinsverfassung wirklich glücklich wäre, dann müssten wir uns nicht zerstreuen, um nicht daran zu denken. (104)

      Widerspruch

      Stolz, der alles Elend aufwiegt: Entweder verheimlicht er sein Elend, oder er deckt es auf und rühmt sich, es zu kennen. (105)

      Man muss sich selbst erkennen. Wenn das nicht dazu dienen sollte, das