Meine europäische Familie. Karin Bojs

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Название Meine europäische Familie
Автор произведения Karin Bojs
Жанр Журналы
Серия
Издательство Журналы
Год выпуска 0
isbn 9783534746460



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Anzahl mutierter Gene enthalten. Mindestens genauso richtungsweisend war, dass die Isländer angeben konnten, mit wie vielen Mutationen jedes Kind geboren wird, nämlich im Durchschnitt mit circa dreißig von der Mutter und ebenso vielen vom Vater, wenn der um die dreißig Jahre alt ist. Ist der Vater an die sechzig Jahre alt, erhöht sich die Anzahl der Mutationen von seiner Seite auf ungefähr sechzig.

      Svante Pääbos Forschergruppe in Leipzig hat versucht, die Häufigkeit von Mutationen auf andere Art zu berechnen. Sie verglichen DNA aus fossilen Skeletten mit DNA heutiger Menschen. Früher war es schwierig, die Erkenntnisse aus Island mit den Schätzungen zur Veränderung der DNA im Laufe der Evolution unter einen Hut zu bringen, weil die beiden Methoden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Man könnte sagen, dass die Uhren der Forscher ganz unterschiedlich tickten. Doch im Herbst 2014 veröffentlichten Svante Pääbo und seine Kollegen DNA-Analysen eines 45.000 Jahre alten Mannes, der an einem Ort namens Ust’-Ishim im westlichen Sibirien gelebt hatte. Er war der älteste moderne Mensch, dessen DNA jemals untersucht wurde, und damit der beste Vergleich, um die DNA-Uhr zu kalibrieren.

      Zwar bestehen weiterhin einige Unsicherheitsfaktoren, unter anderem, weil wir nicht genau wissen, in welchem Alter unsere Vorfahren ihre Kinder bekamen, doch stimmen die Resultate der beiden Untersuchungsmethoden jetzt deutlich besser überein. Wir können damit rechnen, dass jeder Mensch, der geboren wird, von seinen beiden Elternteilen jeweils ungefähr dreißig Mutationen mitbekommt. Hat man Pech, können diese Mutationen ungünstig liegen und zur Entstehung von Krankheiten wie Schizophrenie oder manisch-depressiven Erkrankungen beitragen.

      Neue Mutationen machen also einen Teil des Risikos für diese psychischen Erkrankungen aus. Es gibt aber auch viele Genvarianten, die offenbar erblich sind. Sie werden von Eltern, Großeltern und von früheren Generationen weitergegeben. Solche Genvarianten haben in der Menschheit fußgefasst, obwohl Psychosen große Nachteile mit sich bringen. Sie verringern die Überlebenschancen und zumindest die Schizophrenie verschlechtert die Aussichten der Betroffenen, eigene Kinder zu bekommen.

      Dass diese Gene trotzdem weitergegeben werden, kann nur daran liegen, dass sie auch Vorteile bieten.

      Wer psychische Erkrankungen in der Familie hat, kann sich mit den doppelten Auswirkungen der psychotischen Erbanlagen trösten. Natürlich bedeuten solche Krankheiten eine Behinderung und oftmals eine große Belastung sowohl für den Betroffenen als auch für dessen Angehörige. Aber die mit ihnen verbundene Kreativität und zusätzliche Energie ist auch ein Geschenk. Im Laufe der Geschichte des Menschen sind diese Erbanlagen eine große Bereicherung gewesen. Sicher waren sie für unsere Entwicklung geradezu unverzichtbar.

      Davon bin ich überzeugt.

       DIE ERSTEN IN EUROPA

      SCHON VOR MEHR ALS 42.000 JAHREN ZOGEN die Aurignacien-Menschen durch große Teile Europas.

      Einige der ältesten und herausragendsten Funde stammen von dem russischen Grabungsplatz Kostenki, 400 Kilometer südlich von Moskau am Fluss Don gelegen. Dort ist es den Forschern gelungen, die DNA aus dem Skelett eines jungen Mannes zu analysieren, der den Namen „K14“ erhielt.

      Er lebte vor ungefähr 38 500 Jahren und war bei seinem Tod circa zwanzig Jahre alt. Er wurde in zusammengekrümmter Haltung begraben und war mit großen Mengen von rotem Ocker bedeckt.

      Seine Mitochondrien-DNA gehört zur Gruppe U2 – einer Schwestergruppe meiner eigenen Haplogruppe U5. Heutzutage ist U2 ziemlich selten, kommt aber immer noch in ganz Europa sowie in Zentralasien und in Indien vor. Detaillierte Analysen der Kern-DNA dieses Mannes haben ergeben, dass er mit den heutigen Europäern verwandt ist. Er untermauert die Vorstellung, dass eine Menschengruppe aus Afrika vor ungefähr 55.000 Jahren in den Nahen Osten wanderte. Dort vermischten sich einzelne ihrer Mitglieder mit Neandertalern. Kurz darauf trennte sich die Gruppe. Einige wanderten weiter nach Osten, wo sie schließlich Südostasiaten und Australier wurden. Andere blieben im Nahen Osten und in Kaukasien. Und wieder andere wanderten in Richtung Europa. K14 gehörte eindeutig zu diesem letzten, dem europäischen Zweig.

      Sein Grab mit dem gut erhaltenen Skelett wurde in den 1950er-Jahren entdeckt und schon bald darauf bemühten sich russische Wissenschaftler um eine Rekonstruktion seines Aussehens anhand der Knochen. Museen in Moskau, St. Petersburg und im Dorf Kostenki besitzen Kopien dieser Rekonstruktion.

      Die Modelle zeigen einen schmächtigen jungen Mann mit breiter, gerader Nase, ungewöhnlich kräftigen Augenbrauen und vollen Lippen. Er war nur 160 Zentimeter groß und hatte einen auffallend kleinen Kopf. Seine breiten Zähne sind etwas abgenutzt, aber ansonsten gesund und makellos, mit einer kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen. In diesen Darstellungen hat er dunkles, krauses Haar und dunkle Haut. Das sind naheliegende Vermutungen, doch werden in keiner der bisher veröffentlichten DNA-Untersuchungen Details dieser Art erwähnt.

      Aus der gleichen Periode stammende Funde aus der Umgebung verraten, dass Wildpferde die häufigste Jagdbeute der Menschen von Kostenki waren. In dem untersuchten Grab wurden außerdem einige Hasen- und Mammutknochen gefunden.

      Da sich das Klima nach einem der eiszeitlichen Kälteeinbrüche neuerlich erwärmt hatte, wuchsen zu dieser Zeit allmählich wieder Gehölze in der Steppe auf, vornehmlich aus Weidenbäumen. Nach der schlimmsten Katastrophe der letzten Hunderttausend Jahre war das Leben in Europa wieder leichter geworden.

      Das Auftreten von Eiszeiten hängt in erster Linie mit zyklischen Veränderungen der Umlaufbahn der Erde um die Sonne zusammen. Der Neigungswinkel der Erdachse kann variieren, die Achse kann in verschiedene Richtungen geneigt und die elliptische Form der Erdbahn kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein. Bestimmte Konstellationen, bei denen die nördlichen Breiten besonders wenig Sonne abbekommen, könnten eine neue globale Eiszeit auslösen. Diese Veränderungen nennt man nach dem serbischen Physiker, der sie zuerst beschrieb, die Milankovic-Zyklen.

      Das Klima ist jedoch auch noch von weiteren Faktoren abhängig, sowohl global als auch regional. Ein solcher Faktor sind Vulkane, deren Aschewolken die Sonne verdunkeln und damit die Erde abkühlen.

      Vor ungefähr 39 300 Jahren brach das Verhängnis in Form eines Vulkanausbruchs über die Gegend um Neapel herein. Dabei trat etwa achtzigmal so viel Lava aus wie bei dem bekannteren Ausbruch im Jahr 79 n. Chr., der die antike Stadt Pompeji verschüttete.

      Die Eruptionswolke war vierzig Kilometer hoch. Die Asche verbreitete sich vor allem in östlicher Richtung, über das heutige Griechenland und Bulgarien, das Schwarze Meer und Russland. In Kostenki können die Archäologen deutlich eine dicke, von Asche dominierte Schicht erkennen, was ihnen die Datierung ihrer Funde erleichtert.

      Aller Wahrscheinlichkeit nach verdunkelte sich der Himmel für einige Jahre, das Klima wurde kälter und der Boden war über weite Gebiete mit Asche bedeckt – vielerorts in dezimeterdicken Schichten, sodass die Tiere nicht mehr grasen konnten.

      Einige Forscher glauben, dass dieser Vulkanausbruch den Neandertalern den Todesstoß versetzt hat. Es gibt viele Spuren von Neandertalern, die älter als 39.000 Jahre sind, aber keine gesicherten Belege jüngeren Datums. Eine These besagt, dass – im Gegensatz zu den Neandertalern – zumindest ein paar von uns modernen Menschen die Anpassung an die neuen, härteren Bedingungen nach der großen Katastrophe bewältigt haben. So sind zum Beispiel einige Wissenschaftler der Überzeugung, dass wir genau zu jener Zeit begannen, Nähnadeln aus Knochen zu verwenden. Diese revolutionäre Technik habe uns geholfen, Fellkleidung herzustellen, die warm und dicht war und es uns ermöglichte, die kältesten Jahre zu überleben.

      Die ältesten bekannten Nadeln mit Öhr wurden in Kostenki und an zwei weiteren russischen Fundorten entdeckt: in Mezmaiskaya im Norden des Kaukasus und im Altai im südlichen Sibirien. Das Alter dieser Nadeln wird auf 35.000 bis 40.000 Jahre geschätzt.

      Natürlich können uns Nadeln und gut gearbeitete, warme Kleidung von Nutzen gewesen sein, doch sind sie mit Sicherheit nicht die einzige Erklärung dafür, dass wir überlebten, während die Neandertaler ausstarben. Wir sollten nicht vergessen, dass die Neandertaler während mehrerer Eiszeiten viele harte Kälteperioden überstanden und sich immer wieder erholt hatten. Erst