Trautmanns Weg. Catrine Clay

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Название Trautmanns Weg
Автор произведения Catrine Clay
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730700693



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Frau Mrozinzsky taugte bestimmt nicht viel als Hausfrau. Ihre Wohnung war ständig in Unordnung, und Berni fand auch, dass sie seltsam roch. Die vier Kinder schliefen alle im selben Bett und waren immer die Schlechtesten in der Schule, und ihre Eltern sprachen schlechtes Deutsch mit einem starken polnischen Akzent. Der Unterschied zu den Trautmanns oder auch den Wittenburgs, die in der gleichen Etage wohnten wie die Trautmanns, hätte nicht größer sein können. Herr Wittenburg war Lehrer, der, wie so viele andere auch, eine schwere Zeit durchmachte. Trotzdem war die Wohnung der Wittenburgs stets sauber und ordentlich und die Kinder wohlgeraten. Andererseits, und das war komisch, waren die Mrozinzskys eine fröhliche Familie, und Berni spielte oft vergnügt mit den Kindern auf der Straße, wo es nicht um Rasseunterschiede ging, sondern nur darum, wer am besten eine Blechdose kicken konnte.

      Draußen lag der Schnee schwer auf der Straße. Auf dem Weg zu Zwimmer traf Berni auf ein paar Schulfreunde, und sie schlitterten über die vereiste Straße und warfen Schneebälle. Auf halbem Weg entdeckten sie im Schein von Bernis Taschenlampe etwas Schwarzes im Schnee liegen. Es war eine Geldbörse, in der sie 25 Reichsmark entdeckten, ein kleines Vermögen. Sie schauten sich mit offenen Mündern an, stampften wegen der Kälte mit den Füßen auf und überlegten, was sie tun sollten. Niemand hatte sie gesehen, also nahm Berni, da er der Anführer war, drei Reichsmark heraus, stopfte sich die Börse in die Tasche, und dann liefen sie zu Zwimmer, wo sie mehr Süßigkeiten kauften, als sie sonst in einem ganzen Monat zu sehen bekamen.

      Als er mit dem Mehl für Frau Mrozinzsky und dem Zucker für seine Mutter heimkam, überlegte Berni, wo er seinen Schatz verstecken könnte. Er murmelte etwas von Hausaufgaben, ging in sein Zimmer, um die Börse unter die Matratze zu schieben, und hoffte das Beste. Niemand hatte etwas bemerkt. Sein Vater kam an diesem Tag früher als sonst von der Arbeit zurück, aber er sagte nicht viel, sondern saß nur am Tisch und aß sein Abendessen, das aus Suppe, Brot und Käse bestand. Dann las er die Zeitung, die Mutter widmete sich wieder dem Backen, und Berni saß unterm Fenster auf der Couch, blätterte lustlos im „Das Beste“-Magazin seiner Mutter und dachte die ganze Zeit an die herrlichen Süßigkeiten. Karl Heinz beschäftigte sich immer noch mit seinen Buntstiften.

      Ungefähr eine Stunde später gab es auf der Straße einen Tumult, man hörte einen Mann rufen und ein junges Mädchen weinen. Berni schaute hinaus, er ahnte bereits, um was es ging. Im Schein der Straßenlaterne konnte er drei Personen erkennen, Vater, Mutter und Tochter, die im Schnee nach etwas suchten. Herr Trautmann kam ans Fenster, um zu schauen, was es mit dem Aufruhr auf sich hatte, und ging dann hinaus, um bei der Suche zu helfen. Berni nahm er mit. Es war eine Familie aus einem der größeren Privathäuser die Straße hinauf. Das Mädchen war mit dem Geld losgeschickt worden, um Verwandten auszuhelfen, die in einem der grauen Häuserblöcke wohnten. Berni brauchte zwei Stunden, bis er endlich mit der Wahrheit herausrückte, aber schließlich ging er zu seiner Mutter und gestand ihr alles. Sie sah verängstigt aus, als sie sich an den Küchentisch setzte, um es ihrem Mann zu sagen, und es gab einen schlimmen Streit. Aber irgendwie schafften sie es, die fehlenden drei Reichsmark zusammenzukratzen und die Börse zurückzugeben. Berni erhielt die Abreibung seines Lebens.

      Doch die Geschichte war bald vergessen. Carl Trautmann platzte schnell einmal der Kragen, aber wenn es vorbei war, dann war die Sache erledigt und das Leben ging weiter. Im Winter trieben sich Berni und Herbert Behrens mit ihren Kameraden auf den zugefrorenen Kanälen und auf den Feldern herum, die von einer dünnen Eisschicht bedeckt waren. Im Sommer rannten sie über die gleichen Felder zu den Windmühlen hinüber, um zu sehen, wer sich am längsten an den Flügeln festzuhalten wagte, wenn sie höher und höher drehten. Und jeden Tag, egal ob im Winter oder Sommer, spielten sie auf der Straße, in der Schule und bei der HJ Völkerball, Fußball oder Handball. Oftmals vergaß Berni die Zeit und kam erst heim, als es bereits dunkel wurde, und verpasste das Abendessen; dann wartete seine Mutter hinter der Küchentür mit ihrem Holzlöffel bewaffnet, um ihm eine tüchtige Tracht Prügel zu verpassen. Wie oft sie ihn auch ermahnte, nicht zu spät zu kommen, er vergaß es einfach oder scherte sich nicht darum. Normalerweise war sie eine gutmütige Mutter, manchmal sogar etwas zu nachgiebig, aber riss ihr einmal der Geduldfaden, dann musste Berni sich vorsehen. Solange er klein war, duckte er sich und sprang in der Küche umher, um ihr auszuweichen, aber als er älter wurde, stand er nur noch da und lachte und wehrte die Schläge mit dem Arm ab.

      In vielerlei Hinsicht war es seine Mutter, die in den schwierigen Jahren am meisten litt. Ihre einzige freie Zeit waren die Sonntagnachmittage, wenn die ganze Familie – Vater, Mutter, Berni und Karl Heinz – einen Ausflug unternahm oder Oma und Opa oder eine der zahlreichen Tanten besuchte: Tante Martha, Tante Elli oder Tante Gerda. Berni konnte diese Besuche nicht ausstehen, weil er sich ordentlich betragen musste, während er sich zu Tode langweilte und höflich ihrem albernen Geschwätz lauschte. Das einzig Gute war: Sonntagnachmittags gab es immer Kaffee und Kuchen. Jahre später erst wurde ihm klar, wie sehr seine Mutter die sonntäglichen Ausflüge genossen hatte, und er wünschte im Nachhinein, dass er sich besser verhalten hätte. Damals aber zählte er die Minuten, bis sie endlich wieder mit der Straßenbahn nach Hause fuhren.

      Die großen Belastungen dieser Jahre führten dazu, dass Frieda Trautmann häufig krank war. Oft klagte sie über stechende Kopfschmerzen, und an solchen Tagen blieb Berni daheim und half ihr bei der Hausarbeit. Zu seinen tägliche Pflichten gehörte es, regelmäßig die Schuhe zu putzen, aber an den Tagen, an denen seine Mutter sich nicht wohlfühlte, wienerte er außerdem die Treppen von oben bis unten, machte die Betten oder half auf dem Dachboden bei der Wäsche und schleppte die schweren, nassen Laken vom Kupferkessel zur Zinkwanne hinüber zum Spülen, bevor er sie mangelte und auf dem Dachboden oder im Garten hinterm Haus aufhängte. Berni liebte seine Mutter von Herzen, und es ärgerte ihn sehr, dass er sie so häufig bedauern musste. Er verstand nicht, warum sie das Leben, das sie führte, einfach so hinnahm und sich mit einem Ehemann abfand, der ihr in jeder Hinsicht unterlegen war und sie trotzdem bevormundete. Wie hielt sie es mit ihm nur aus? Manchmal lag Berni nachts in seinem Bett und hörte, wie sein Vater die Mutter anschrie, vielleicht sogar schlug, und sein Herz pochte vor Wut. Doch am nächsten Morgen stand sie wieder in der Küche, bereitete das Frühstück und lächelte, als wäre nichts gewesen. Einmal hörte er, wie sich Frau Mrozinzsky im Hausflur mit einer anderen Frau in einem ganz bestimmten Tonfall darüber unterhielt, wie attraktiv Herr Trautmann sei. Berni hätte nicht überraschter sein können; es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass sein Vater auf Frauen attraktiv wirkte.

      So klug Berni auch war, so konnte er doch nicht erkennen, wie weit die politische Situation in Nazi-Deutschland das Leben seines Vaters beeinträchtigte. Er konnte auch nicht ermessen, wie sehr ihr tägliches Leben seit 1933 einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt war, nämlich der Angst, die von den Nazis ganz bewusst eingesetzt wurde, um möglichen politischen Widerstand im Keim zu ersticken. Es war nicht die Art von Angst, die Carl Trautmann während des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben verspürt und die ihm den Mumm geraubt hatte, und es war auch nicht die Angst davor, seine Arbeit zu verlieren. Vielmehr war es die Angst, versehentlich bei den allgegenwärtigen Nazis anzuecken, die sofort schreckliche Vergeltung üben würden. Es war die Art von Angst, die im täglichen Leben ständig unter der Oberfläche lauert und die Menschen unterwürfig werden lässt, so dass sie leicht zu manipulieren sind. Es war eine Angst, die die Menschen schwach machte, so wie Bernis Vater.

      Um seinen Würgegriff auf das Land zu festigen, rief Adolf Hitler bald nach seiner Ernennung zum Reichskanzler zu Neuwahlen auf. Ohne Zweifel erwartete er einen haushohen Sieg seiner Partei, doch der blieb aus. Trotz aller Terroraktionen und Propaganda errangen die Nazis im März 1933 nur 43,9 Prozent der Stimmen. Dabei hatten sie alles getan, um die Wähler einzuschüchtern. Zunächst gab es im Februar, kaum einen Monat nach Hitlers Machtübernahme, den Reichstagsbrand. Wer weiß, wer das Gebäude in Brand gesteckt hatte – vielleicht war es ein Kommunist, vielleicht war es ein Nazi, der sich als Kommunist ausgab. Jedenfalls wurde binnen weniger Tage die „Reichstagsbrandverordnung“ verabschiedet, die im Namen der nationalen Sicherheit die meisten persönlichen Rechte und Freiheiten faktisch außer Kraft setzte. Politische Gegner konnten nun auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden, und quasi über Nacht wurden Tausende unliebsamer Personen festgenommen, darunter auch die kommunistischen Reichstags-Abgeordneten, die trotz des Terrors noch gewählt worden waren. Manche kamen wieder frei, andere nicht.

      Einige von ihnen wurden