Westfalengau. Hans W. Cramer

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Название Westfalengau
Автор произведения Hans W. Cramer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268124



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gehört. Ich hoffe inbrünstig, dass es dir gut geht.

      Ich muss dir einiges, teilweise Erschütterndes aus meiner Familie erzählen, da du ja immer so viel Anteil nimmst. Dafür bin ich dir sehr dankbar.

      Du erinnerst dich daran, als wir uns das erste Mal gesehen haben. Damals ging es ja bald mit Onkel John zu Ende. Ich weiß noch, wie traurig du warst. Vielleicht kannst du dich auch an John junior erinnern? Stell dir vor, dem geht es genauso schlecht. Dieselbe Krankheit, und wahrscheinlich wartet derselbe Tod auf ihn. Manche in meiner Familie haben es ja kommen sehen. So sagte Tante Jane zu mir: Junge, warte ab. Dem kleinen John wird es wie dem alten gehen. Woher sie das nur wissen konnte?

      So, wie es aussieht, wird wohl Lewis zu John über die Themse fahren, wo er zurzeit bei Agatha wohnt. Aber ich denke, dann wird bald alles vorbei sein.

      Ach, was ich dir noch sagen wollte: Tante Jane ist ja wirklich gut im Weissagen von Dingen. Sie lässt dir ausrichten, dass du unbedingt warme Sachen für dich und deine Familie besorgen sollst. Es soll ein extrem kalter Winter auf uns zukommen.

      So viel erst einmal von mir. Denk an uns!

      In tiefer Freundschaft,

      Dein William

      Geschockt legte Alfred von Strelitz den Briefbogen auf den Tisch zurück. Die Aussage des Schreibens war so einfach wie prägnant, sodass er nicht lange über den Sinn rätseln musste:

      Deutschland würde, wie schon den ersten, auch diesen Krieg verlieren. Und das in absehbarer Zeit durch eine Invasion der Amerikaner über den Ärmelkanal in Frankreich. Außerdem ermahnte ihn William, etwas für sich und seine Familie zurückzulegen, da schwere Zeiten anbrechen würden.

      Na dann prost, dachte Alfred und bestellte sich ein weiteres Bier und gleich einen doppelten Korn dazu.

      8. Kapitel

      England, Frühjahr 2017

      Es war eine Sache, eine Bank auszurauben. Fünf große Sporttaschen mit Diebesgut quer durch Englands Süden zu transportieren, eine andere. Paul hatte das Problem mit seinem Lieblingshehler Nathan Weissman diskutiert. Schließlich waren sie übereingekommen, dass Paul zur Probe eine Tasche packen und den Rest fotografieren sollte. Die übrigen Sachen verstaute er in mehreren Schließfächern in Brighton und machte sich eine Woche nach dem Überfall mit seinem Wagen auf den Weg Richtung Norden. Drei Stunden später stellte er erleichtert fest, dass Nathan vorsorglich das schmale Tor neben seinem Antiquariat in der Linton Road im Londoner Stadtteil Bermondsey offengelassen hatte. Paul steuerte sofort den Wagen hindurch, parkte in dem engen Hinterhof und schloss das Tor wieder. Er war froh, dass er auf diese Weise nicht von neugierigen Nachbarn auf der Straße gesehen werden konnte.

      Früher gehörte diese Gegend zu den Schmuddelecken der Stadt. Heute waren die Häuser renoviert oder neu gebaut, und es hatte sich eine äußerst attraktive Wohn- und Arbeitsgegend für die Mittelschicht etabliert. Nathans altertümlicher Laden wirkte daher etwas deplatziert, wurde aber von vielen Kunden landesweit hoch geschätzt. Hier fand man Sachen, die sonst nur schwer zu beschaffen waren. Die Preise waren human, und um die Herkunft der diversen Schmuck- und Antikgegenstände machte sich seine Kundschaft keine Gedanken. Die Polizei war des Öfteren in Nathans Etablissement aufgetaucht, da es immer wieder Hinweise auf Diebesgut gegeben hatte, doch erstaunlicherweise konnte nie ein einziges Stück gefunden werden, das aus dubiosen Quellen stammte. Und das lag hauptsächlich an der hervorragenden Vernetzung Nathans mit der örtlichen und sogar der Metropolitan Police, der er hin und wieder Hinweise auf wirklich böse Jungs gegeben hatte.

      Sein Alter war für Paul ein Rätsel. Seit Jahren unverändert: klein und dürr mit einem minimalen Rundrücken, der ihn immer etwas unterwürfig erscheinen ließ. Dazu ein permanentes wissendes Lächeln in den hellen, wachen Augen. Paul schätzte ihn auf 65 bis 80 Jahren, was so viel hieß wie, er wusste es einfach nicht.

      »Na, dann komm mal rein, junger Mann«, begrüßte ihn Nathan freundlich. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie geht es dir? Hab von der Sache im Süden gehört. Nicht schlecht, nicht schlecht.« Auch das gehörte zu den angenehmen Seiten des alten Mannes. Er sprach nie Worte aus, die in irgendeiner Weise verfänglich werden konnten. Der Name »Worthing« zum Beispiel. Die Stadt, in der der Raub stattgefunden hatte, musste nicht erwähnt werden. Wozu auch? Beide wussten genau, wovon Nathan sprach. Nicht, dass er Angst vor Wanzen hatte. Aber unnötige Risiken sollten vermieden werden, war einer seiner oft wiederholten Leitsprüche.

      Sie befanden sich in einer Art Werkstatt im hinteren Teil des Geschäftes. An den Wänden und in den Regalen hingen und lagen alle möglichen Werkzeuge, deren Funktionen sich Paul nicht erschlossen. In der Mitte stand ein großer alter Holztisch, der normalerweise voll mit zu reparierenden Gegenständen, jetzt aber leer geräumt war.

      »Na, dann zeig mal, was du Schönes mitgebracht hast.« Erwartungsvoll rieb sich Nathan die Hände.

      Paul packte die Sachen, von denen er hoffte, eine repräsentative Wahl ausgesucht zu haben, auf den Tisch. Daneben legte er die Fotos der restlichen Beute und die gestohlenen Dokumente.

      Nathans Augen wurden immer größer und größer, und plötzlich sprang er wie Rumpelstilzchen auf einem Bein um den Tisch herum und jauchzte wie ein kleines Kind. »Eieiei!«, rief er ein ums andere Mal. »A bisl un a bisl vert a fule shisl! Das hat sich ja wirklich gelohnt.«

      »Was hast du da gerade gesagt?«, fragte Paul, der kein Wort verstanden hatte.

      »Ach, das war nur so ein jiddisches Sprichwort. Heißt so viel wie: Ein Bisschen und ein Bisschen ergibt eine volle Schüssel.«

      »Aha.«

      Ohne den Blick vom Tisch abzuwenden, meinte er: »Nimm dir einen Kaffee, Paul. Steht in der Küche und ist noch einigermaßen frisch. Mach dir keine Gedanken wegen des Ladens. Der ist geschlossen. Wir sind ungestört. Hab Geduld. Das wird dauern.«

      Paul lächelte. Er kannte Nathan gut genug, um zu wissen, dass nun eine Zeit kam, wo er, Paul, abgeschrieben war. Er holte sich einen Becher, setzte sich still auf einen Stuhl in der Ecke und beobachtete Nathan bei seiner Arbeit.

      Dieser hatte sich einen großen Schreibblock, ein paar Instrumente und Fläschchen mit einer undefinierbaren Flüssigkeit sowie eine Waage und einen Laptop geholt. Methodisch ging er Stück für Stück durch, recherchierte im Internet, wog einzelne Teile und kritzelte immer wieder etwas auf seinen Block. Dann verglich er die Teile mit den Fotos, murmelte ein paar unverständliche Worte, schabte etwas von der Oberfläche eines Goldreifs ab und tröpfelte seine geheimnisvolle Flüssigkeit darüber. Dann wieder nahm er ein anderes Stück in die Hand und beäugte es durch eine Lupe, schrieb etwas.

      Paul fielen langsam die Augen zu, und sein Kopf sank auf die Brust.

      Plötzlich öffnete sich eine Tür in der Werkstatt, die Paul noch nie gesehen hatte, und herein kam: Sarah Dickinson. Seine alte Freundin und erste Liebe. Verführerisch lächelte sie Paul an und schritt mit schwingenden Hüften auf ihn zu. Viel an hatte sie nicht. Ein knappes Top und zu kurze Hotpants. Dafür war sie von oben bis unten mit Schmuck behangen. Glitzernde Ohrringe, ein dickes Diamantcollier, Goldarmreife, Fußkettchen und sogar eine Hüftkette, deren zentraler Saphir ihren schönen Bauchnabel zierte. »Ich bin ja damals so dumm gewesen, als ich dich verlassen habe, mein Liebster«, schnurrte sie, während sie immer näherkam. »Jetzt weiß ich, was für ein tolles Schnäppchen du bist. Nimmst du mich mit auf deine Jacht?«

      Paul war bewusst, dass er einen reichlich dämlichen Gesichtsausdruck an den Tag legte. Sein Mund stand offen, und ein dünner Speichelfaden rann aus dem linken Mundwinkel. Aber er war nicht in Lage, etwas dagegen zu tun.

      »Paul! Paul! Hallo, aufwachen! Ich bin fertig. Hast du gut geschlafen?«

      Erschrocken fuhr Paul hoch und wischte sich den Speichel vom Mund. »Entschuldige, Nathan. Ich bin kurz eingenickt.«

      »Von wegen. Du hast geschlafen wie ein Baby. Und deinem Gesichtsausdruck nach hast du außerdem schöne Träume gehabt.« Nathan lachte. »Also, pass auf! Du hast hier einen echten Schatz mitgebracht. Das ist, und ich übertreibe nicht, der größte Wurf