Ein letzter Frühling am Rhein. Frank Wilmes

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Название Ein letzter Frühling am Rhein
Автор произведения Frank Wilmes
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267325



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Er vertiefte sich in den Vorsatz, die Fotos nicht anzuschauen, sondern sie zu betrachten. Anschauen war für ihn wie angucken und anstarren, um sich einen Eindruck ohne tieferen Sinn zu verschaffen. Betrachten verband er dagegen mit Einkehr und Hingabe, um dem Blick Raum und Zeit zu geben. Denn nur so, meinte er, hebe sich die Distanz zwischen Bild und Betrachter auf.

      Meinte er tatsächlich.

      Seine Pupillen scannten das Foto. Er musste mehrmals die Augen schließen, um die Pupillen zu entlasten. Je intensiver er sich in dieses Foto verlor, desto starrer wurde seine Aufmerksamkeit. Er hatte das Gefühl, dass sich alle Farben und Konturen zu einer Masse aus Weiß verdichteten. Für einen Moment überlegte er, wie er wohl einem Künstler wiedergeben würde, was er sah.

      Sollte er antworten: »Ich sehe nur weiß?«

      Der Künstler wäre beleidigt, weil Kilian nicht erkannte, was in diesem Weiß vor sich ging, die feinen Strukturen, Bewegungen, ein Aufbegehren, Mühsal, Kampf.

      Wer das Bild nicht lesen konnte, taugte nicht für die Kunst. Er war Durchschnitt. Aber nur die Elite erkannte das Edle. Nur sie konnte die Gedanken des Malers lesen, sie deuten und der Welt öffnen.

      Kilian sah immer noch weiß. Er gehörte nicht zur Elite der Kunstkenner. Er war nur Beamter, Leiter der Mordkommission, zuständig für Pragmatismus und »Das-ist-die-Welt«. Kein Platz für Spinner und Lebenskünstler, für inspirierte Intellektuelle und hoffnungslose Esoteriker. Sein Job war die nüchterne Selbsterkenntnis, dass er zu dienen hatte.

      Er wunderte sich über seine Gedanken.

      »Cosima, komm doch mal«, rief er ihr aus seinem Büro zu, »du bist ja Expertin für die Jugend-Marken-Kultur oder wie ich das nennen soll. Finde bitte alles zur Mütze mit dieser Aufschrift ›Be nice‹ und die Markenbezeichnung ›Grizzly love‹ heraus. Wie teuer diese Produkte sind, in welchem Alter sie gekauft werden und in welchen sozialen Gruppen, Gruppierungen oder Milieus sie zu einem Statussymbol geworden sind. Okay?«

      Cosima salutierte ihm mit ironischer Beflissenheit. »Ja, Chef.«

      Er rief auch Charlotte an, ob sie von »Be nice« und »Grizzly love« gehört hätte.

      »Nein.«

      Und er rief Tilda an, immerhin war sie eine Journalistin aus der Modeszene.

      »Nein.«

      Nein ist die Fratze der Aufklärung.

      Nein ist ein Stoppschild.

      Nein bedeutet: Such dir dein »Ja!« woanders.

      »Mein Gott, ein Scheißfall, wenn es schon an solchen Kinkerlitzchen scheitert.« Kilian schluckte die Buchstaben wie eine Überportion Lebertran.

      Cosima fragte sich, weshalb er so einen Wind um läppische Fragen machte. »Ein paar Klicks im Internet, und schon haben wir die Antworten.«

      Kilian warf ihr ein angedeutetes Lächeln zu, seine Art, eine Kapitulation zuzugeben. Dann begann er aber schnell mit der Rückeroberung seiner Autorität, meistens mit einem Allerweltsatz: »Dann wollen wir mal.«

      Sein Chefgehabe klang immer dann durch, wenn er mit seinen Gedanken und Worten in eine Einbahnstraße fuhr und daraus nicht mehr heil herauskam.

      Cosima nahm seine Attitüden gar nicht mehr wahr. Er war durchaus ein emotionaler Mensch, aber berechenbar. Wenn er schlecht drauf war, wirkte er in allem sehr reduziert. Er sprach weniger, ging nicht zum gemeinsamen Mittagessen, machte die Tür seines Büros zu.

      In heiteren Momenten oder in Momenten, wenn ihm der Sinn nach neckischer Ironie stand, nannte er Cosima »Divchen«, um das Wort Diva zu verniedlichen. Er bezog dieses Wort nicht auf ein affektiertes und blasiertes Verhalten, sondern auf ihren Kleidungsstil.

      Sie verweigerte sich dem Cool-Image ihrer Kolleginnen, die sich alle Mühe gaben, dem Bullenklischee gerecht zu werden. Vernehmungen mit harten Jungs, eine Schießerei mit Gangstern, eine Verfolgungsjagd über hohe Mauern hinweg, geschafft, harter Job. Genau betrachtet, unterschieden sich Frauen und Männer in ihrem Dezernat kleidungsmäßig kaum voneinander. 80 Prozent Übereinstimmung bei Sportschuhen und Jeans. Kilian war mit seinem Jeans-plus-X-Outfit auf der sicheren Seite, weil er damit in keiner Weise auffiel.

      »Du hast eine Modephobie«, stichelte Cosima, »weil du Angst davor hast, dich mal anständig anzuziehen.«

      Er entgegnete ihr, dass er kein Opfer der weiblichen Geschmacksdiktatur sein wolle. Jeans mit blauer Jacke war für ihn ein gesunder Mittelweg zwischen Diktatur und Selbstbestimmung. Mittelweg hieß: Sei anders, aber falle dabei nicht auf.

      Er dachte sich: Wer cool ist, braucht nicht schick zu sein.

      Divchen dagegen dachte: Wer cool ist, kann es sich leisten, sich schick zu kleiden. Schick zu sein war für sie nicht nur eine Frage der weiblichen Ausstrahlung. Sie verband damit auch ein Statement, eine Botschaft, um ihre Persönlichkeit und ihre Sinnlichkeit unterschiedlich darzustellen, und das sei nun einmal mit einer blauen Jeans jeden Tag nicht möglich.

      Kilian fand das amüsant. Miko war das völlig egal. Miko gab sich nicht einmal die Mühe, sich ein größeres Hemd zu kaufen, um seinen Bauch kleiner erscheinen zu lassen. Wenn er einen guten Einfall hatte, trommelte er zärtlich mit den Fingern auf seine Rundungen, und das Hemd spannte sich auffällig darüber. Er bemerkte es nicht. Er war frei von jeglichem Stilempfinden.

      Cosima trug gerne unifarbene Hosenanzüge in Blau, Schwarz und Anthrazit. Das entsprach tatsächlich nicht dem üblichen Sichtfeld in der Kollegenschaft, aber sie wirkte dadurch nicht abgehoben oder aufdringlich, weil ihr natürliches Naturell alle Gegenargumente überspielte.

      Nur einmal, und das führte nach vielen Monaten zu vereinzelten, aber feinen und gepflegten Lästereien, erschien sie im Präsidium mit Stresemann-Hose und Rüschenbluse, ein bisschen sexy 30er-Jahre, als stünde sie in der Filmkulisse mit Greta Garbo oder Marlene Dietrich. Sie hatte sich mittlerweile von all den Lästereien erholt, sie machte sogar selbst Witze darüber.

      Wenn sie über den Flur ging, multiplizierte sich das Stakkato ihrer Trittgeräusche, und das Publikum aus Zeugen, Anwälten und Beschuldigten verfolgte das Geschehen wie einen herankommenden Zug, der in den Bahnhof einfuhr.

      Saß sie einem Beschuldigten gegenüber, arbeiteten ihre Fantasie und ihre Schauspielkunst. Sie stellte harmlose Fragen und öffnete damit das große Buch der psychologischen Gesprächsführung.

      Ein Lächeln bedeutete: Du bist doch sympathisch. Du Arschloch.

      Ein leises Sprechen bedeutete: Immer mit der Ruhe. Komm in mein Spinnennetz.

      Empfindsame Worte bedeuteten: Du bist nicht allein. Mach endlich dein Maul auf.

      Sie liebte es, unterschätzt zu werden. Dann verschob sich die Skala des Beschuldigten von kluger Raffinesse zum grandiosen Trottel. Er redete sich um Kopf und Kragen, und der Anwalt kam gar nicht hinterher, den Wortausstoß seines Mandanten in eine andere Richtung zu lenken.

      Sagte ein Beschuldigter von ganz allein, ja, ich war es, dann war sie die ehrlichste Spezialistin für Lob und Anerkennung. Eine Tat mochte noch so schlimm sein, aber wenn dem Bösen eine radikale Ehrlichkeit innewohnte, dann sagte sie dem Täter: »Sie haben ihr kostbarstes Gut nicht verloren, ihre Würde.«

      Die richtig harten Jungs wurden ihr allerdings noch nicht vorgesetzt. Darum kümmerte sich der Chef immer noch selbst.

      Miko hatte in der Kantine ein paar Nussecken gekauft und neben die Kaffeemaschine gelegt, »für alle«, wie er einladend bemerkte. Cosima fragte ihn, weshalb er ständig Hunger habe. Kilian wollte das wohl auch wissen. Er schaute wissbegierig in Mikos Richtung.

      Er knöpfte sich den mittleren Knopf seines Hemdes zu, den sein gespannter Bauch aus der Umklammerung herausgeschleudert hatte, und fragte Kilian und Cosima, ob sie bereit seien, eine traurige Geschichte zu hören. Er würde sie auch ganz schnell erzählen.

      Kilian hörte schweigend zu.

      Cosima nickte und schaute dabei in ihren Computer.

      »Also, in