Название | Michael Bakunin und die Anarchie |
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Автор произведения | Ricarda Huch |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 4064066389048 |
Es gibt Familien, in denen ein besonderer Charakter, besondere Vorzüge, lange schon ausgesondert und durcheinanderschießend, endlich die Erscheinung einer vollendeten Blüte bedingen. Hier tritt, was ein Geschlecht unbewußt dem andern überlieferte, ein persönliches Ideal ans Licht, das sich als solches erkennt, seiner Schönheit bewußt wird und somit an die letzten Augenblicke seines Daseins stößt. Gemäß den Gaben der Familie kommt nun zu Worte, was in ihr verborgen war. Gewöhnlich sind die Glieder einer solchen durch ungewöhnlich starkes Gefühl aufeinander bezogen; nicht selten geschieht es, daß die Liebe zwischen Bruder und Schwester sich der Grenze des von der Natur Verwehrten nähert. Dies ist eine schöne und gefahrvolle Stufe. Daß das Schöne sich dem Spiegel gegenüber in sich selbst vergaffen kann, ist augenscheinlich; aber auch der begabte, von Lebenskräften überquellende Mensch neigt dazu, seine Liebesglut auf sich zurückzuwenden und sich damit zu zerstören. Wir ahnen hier das furchtbare Mysterium der Verbindung zwischen Gott und Satan. Die Liebe, die höchste schöpferische Kraft, kann Selbstliebe und damit unfruchtbare Kraftlosigkeit werden; der Mensch, der Gott nah zu sein glaubt, kann abgrundweit von ihm zurückgeschleudert werden. Solange die Familien noch im Dunkel verbreitet dahinleben, trachtet ein jeder irgendeinem mehr oder weniger leicht erreichbaren irdischen Ziele nach und schließt sich Menschen seiner Umgebung oder Gott und seinen Geboten an, wie die Kirche sie ihn gelehrt hat. In diesen Familien aber, die sich enden und vollenden, soll ein bestimmtes, einzigartiges Ideal sich verkörpern, das allzu leicht mit dem absoluten Ideal, mit Gott selbst, sich verwechselt. Während die göttliche Liebe sich beständig ergießt, um die schmachtende Welt zu ernähren, besteht in genialischen Familien die Neigung, sich von der Welt abzusondern, um sich untereinander zu vergöttern und sich mit hohen Worten vom Ideal und Zweck der Menschheit über die selbstgenügsame Leere zu täuschen. Ein solches Schwanken und Überschwanken an verhängnisvoller Grenze gab es in der Familie Bakunin. Die Töchter besaßen, ohne schön zu sein, den Zauber sanfter Grazie, und ein poetischer Duft ging von ihnen aus, der wirksamer berückte als Schönheit oder Gefallsucht. Sie hingen mit solcher Zärtlichkeit aneinander, daß sie wie ein einziges Wesen waren; man mußte alle lieben, wenn man eine liebte, und empfing auch fast die gleiche Wärme von allen. Alle aber liebten mit gleicher Ehrfurcht den Vater und ordneten sich auch in geziemender Weise der Mutter unter, obwohl diese von allen Kindern weniger geliebt wurde. Das Glück schien die Menschen in Prjamuchino mit einem unzerreißbaren Kranze zu umschließen. Tränen flossen nur, wenn im Spätherbst zur Stadt aufgebrochen wurde und alle zusammen die traurigen Abschiedschöre sangen, die die Schwestern selbst komponiert hatten.
Den ersten Mißlaut brachte in dies harmonische Dasein eine seelische Entwicklungskrankheit Warwaras, die man eine Anwandlung von religiösem Wahnsinn nennen könnte. Sie peinigte sich mit Vorwürfen, daß sie den Forderungen der Religion nicht genüge, und litt dabei Qualen, die sie anderen, namentlich dem maßvollen Vater, nicht begreiflich machen konnte. Wie liebevoll er auch auf die Kinder einzugehen pflegte, lehnte er doch diese Übertreibungen, die den heiteren Horizont des gemeinsamen Lebens trübten, erstaunt und verstimmt ab. Er hätte wohl auch nicht helfen können; da ergriff sie das Rettungsmittel, das das Geschick ihr bot, indem sie sich verheiratete. Zwar hörte sie bald auf, ihren Mann zu lieben, wenn sie es überhaupt je getan hatte, aber mit desto heißerer Zärtlichkeit umfaßte sie ihr Söhnchen und schuf sich dadurch einen Lebenszweck, dem sie sich mit ganzer Seele hingeben konnte. Die zweite Störung entstand durch die Besorgnis der Eltern, die älteste Tochter, Ljubow, die zarteste, süßeste von allen, liebe einen Verwandten, einen Onkel von mütterlicher Seite. Die Verwandtenehe ist in Rußland verboten, vielleicht zum Glück für das ungemischte russische Volk, dem Inzucht doppelt gefährlich werden würde; zwar wurde das Verbot vielfach umgangen, aber die ältere Generation hatte eine große Scheu davor. Die Geschwister bestritten, daß die verbotene Neigung Ljubows überhaupt bestehe; jedenfalls sahen sie mit Befremden und beinah mit Entrüstung, wie der sonst so rücksichtsvolle Vater nicht nur einem Gefühl Ljubows entgegentrat, sondern sie zur Verlobung mit einem nicht geliebten Bewerber veranlassen wollte. Vollends aber schlug aus dem Schoße der gesegneten Familie selbst eine zerstörende Flamme auf, als der älteste Sohn, Michael, aus dem Kinde zum selbständigen Manne wurde.
Wie die Mädchen wuchs Michael in der Freiheit des Gutes auf. Er erlebte den ersten tiefen Schmerz, als er dem Kindheitsparadiese entrissen und auf die Artillerieschule geschickt wurde; denn Alexander Bakunin hielt es für notwendig, seinen Sohn die dem Adel vorgeschriebene Laufbahn ergreifen zu lassen. Die Lichtblicke seines dortigen Lebens waren die Sonntage, wo er eine Tante besuchte und sich in eine kleine Cousine verliebte; als im Sommer die Familie aufs Land fuhr, lief er lange abschiednehmend neben dem Wagen her, der die Geliebte entführte. Etwas Bemerkenswertes begegnete ihm sonst weder auf der Schule noch im Dienst; er lernte allerlei ohne Teilnahme und Schwung, und in sein schweres Brüten fiel kein Strahl, der das Chaos geschieden hätte. Die Empfindlichkeit des jungen Aristokraten, der niemals hart angefaßt, vom eigenen Vater stets mit Rücksicht behandelt war, zeigte sich, als ein Vorgesetzter ihn einmal wegen eines dienstlichen Vergehens rauh anfuhr. Er erwiderte ungebührlich und wurde deswegen bestraft. Eine Natur verriet sich, der der Druck der Disziplin und die starren Schranken des Militärdienstes unleidlich waren. In der kleinen Garnison, wohin er versetzt wurde, verfiel er in eine träge Melancholie, verbrachte die Tage lesend oder nichtstuend auf einem Sofa und vernachlässigte den Dienst so, daß er darauf aufmerksam gemacht wurde, er müsse entweder seine Pflicht tun oder denn, wenn sein Beruf ihm nicht zusage, davon zurücktreten. Diese Mahnung war ihm wie eine Offenbarung, die ihm zum Bewußtsein brachte, was er wollte oder wenigstens, was er nicht wollte, und