Название | Leise Wut |
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Автор произведения | Cornelia Härtl |
Жанр | Языкознание |
Серия | Lena Borowski |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947612932 |
So, als wolle die Mutter im Nachhinein gutmachen, was sie ihrem Kind angetan hatte.
»Tobys Körper trug Anzeichen andauernder Misshandlungen. Gestorben ist er an einer schweren Kopfverletzung. Hat Frau Kiewitz ihren Sohn früher schon geschlagen?«
»Nein. Definitiv nicht. Das passt nicht zu ihr«, entgegnete Lena bestimmt. »Sie war labil, ja. Gefährdet, was Alkohol betraf. Sie hat Toby vernachlässigt, sich zu wenig um ihn gekümmert. Vielleicht ist ihr hin und wieder die Hand ausgerutscht. Aber sie hat ihr Kind nicht körperlich misshandelt.«
»Könnte es sein, dass sie das Kind als Hemmnis betrachtet hat, dass er ihr im Weg stand? Schließlich soll sie eine neue Beziehung gehabt haben.«
Lena dachte kurz nach, bevor sie antwortete. »Man weiß nie, was in einem anderen Menschen vorgeht. Aber so, wie ich sie kannte, würde ich das ausschließen.«
»Wie war sie in Beziehungen?«
»Sehr anlehnungsbedürftig. Sie war jemand, die sich schnell unterordnete, es ging da um Verlustängste. Ihre Kindheit war schwierig. Es fehlte ihr an Anerkennung und als Erwachsene an einem gesunden Selbstwertgefühl. Doch sie hat Toby geliebt, auch wenn sie als Mutter unzulänglich war.«
Lena schoss der Gedanke durch den Kopf, dass der neue Freund nach dem Streit alleine in Urlaub gefahren sein könnte. Hatte das Tobys Mutter derartig in Rage versetzt, dass sie ihr Kind verprügelt hatte? Oder hatte doch der Mann etwas mit Tobys Tod zu tun?
»Wir suchen mit Hochdruck nach dem Mann. Im Moment ist er jedoch lediglich ein wichtiger Zeuge«, versicherten ihr die Polizisten.
»Der Vater des Kindes ist unbekannt?«
»Laut Aktenlage. Ja. Ich hatte immer das Gefühl, dass Frau Kiewitz weiß, von wem Toby war. Aber sie hat es mir nie gesagt.«
Oder war es ein Eifersuchtsdrama? War Tobys Vater zurückgekommen und hatte die Befürchtung, sein Sohn würde demnächst zu einem anderen Mann Papa sagen?
Am Ende überreichten die Polizisten ihr eine Visitenkarte.
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht, uns zu verständigen. Wir werden Sie womöglich auch noch einmal befragen müssen.« Als die beiden gegangen waren, fühlte Lena sich unendlich müde. Im Badezimmer schaufelte sie sich kühles Wasser ins Gesicht. Der Blick in den Spiegel sorgte nicht gerade ür Freude. Sie sah fertig aus. Dunkle Schatten ließen ihre Augen aussehen wie grüne Tümpel inmitten von Schlamm. Das dunkle, kurz geschnittene Haar wirkte nicht gewohnt fluffig, sondern klebte regelrecht am Kopf. Ein unangenehmes Kribbeln durchlief ihren Körper, als sie im Geist wieder die Stimme der Anruferin hörte. »Holen Sie Toby. Gleich jetzt. Bitte.« Angelika Kiewitz hatte gewusst, dass ihr Kind in Gefahr war. Nur, warum hatte sie bei Lena nicht insistiert, sondern gleich darauf alles zurückgenommen? Wenn es stimmte, was die Polizei annahm, hatte sie ihr Kind in einem Wutanfall getötet und danach sich selbst das Leben genommen.
Lena kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nahm an ihrem kleinen Schreibtisch Platz, zog einen Block aus der Schublade und schrieb systematisch auf, woran sie sich noch erinnern konnte.
»Nicht Toby. Kannst ihn … Azul … überlegt … nicht mehr.«
Azul. Das spanische Wort für Blau.
Mallorca, hatte Herr Buckpesch gesagt.
So ähnlich, seine Frau.
Lena musste keinen Atlas konsultieren. Mallorcas Nachbarinsel hieß Menorca. War sie gemeint? Oder hatten die beiden älteren Herrschaften etwas völlig missverstanden? Waren Madeira, Malta oder ganz was anderes das Ziel? Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Ob die Kripo den Mann bereits anhand seines auffälligen Wagens identifiziert hatte?
Der Freund, er hatte auch ein Kind. Ein kleiner Junge, ungefähr in Tobys Alter, geisterte Frau Buckpeschs Stimme durch ihren Kopf.
Sie konnte nicht stillsitzen, sprang auf und tigerte durch die Wohnung.
Ich muss etwas tun. Bloß was?
Die Suspendierung nagte an ihr, das Gefühl, ihr seien die Hände gebunden, setzte ihr zu.
Als seine Mutter mich anrief, lebte er noch.
Sie wusste, dass sie keine andere Chance hatte, als die Sache rational und professionell anzugehen. Dennoch schmerzte sie die Vorstellung, sie habe womöglich versagt. Um ihre Unruhe zu bekämpfen, beschloss sie, joggen zu gehen. Ein probates Mittel, um den Kopf frei zu bekommen. Danach würde sie klarer denken können.
Eine Viertelstunde später trabte sie am Mainufer entlang. Die Luft war mild, alles Grün wirkte hell und frisch, die Enten am Wasser schnatterten lebhaft. Sie fand schnell ihren Rhythmus und lief schon nach kurzer Zeit gleichmäßig und im richtigen Tempo. Erst als ihr Blick auf die Schlagzeile einer bekannten überregionalen Zeitung fiel, geriet sie aus dem Tritt.
»Schlamperei im Jugendamt! Warum musste der kleine Toby (4) sterben?« Daneben ein verwaschenes Foto des Jungen.
Lena blieb keuchend stehen. Der Mann, der auf einer Bank am Ufer sitzend die Zeitung las, blätterte um und die Schlagzeile verschwand aus ihrem Blickfeld. Lena drehte um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schlamperei, was sollte das denn heißen? Jugendämter gerieten jedes Mal, wenn ein Kind auf gewaltsame Weise innerhalb der Familie zu Tode kam, in den Fokus der Medien. Reflexartig wurde die Schuld dort gesucht. Sie hatte schon öfter solche Berichterstattungen aus anderen Kommunen verfolgt. Dieses Mal war die Angelegenheit ganz nah an ihr dran. Und das auf mehr als eine Weise. Bevor sie nach Hause zurückfuhr, kaufte sie am Aliceplatz sämtliche regionalen Zeitungen. Überall war der tote Junge erwähnt. Jedoch nicht so reißerisch wie in Brandheiß, dem Blatt, das für seine krassen Schlagzeilen bekannt war.
Trotzdem reichte die Berichterstattung aus, in Lena Übelkeit aufsteigen zu lassen. Woher hatten die Journalisten so viele Informationen? Dass Angelika Kiewitz Selbstmord verübt hatte, wurde genauso erwähnt wie die Tatsache, dass Tobys Vater unbekannt war. Angeekelt legte Lena die Zeitungen zur Seite. Das Ausschlachten menschlicher Tragödien war nicht ihr Fall.
09
Der Notar las mit kräftiger Stimme den letzten Absatz des umfangreichen Schriftstücks vor, das vor ihm auf dem Tisch lag und schob es anschließend den Männern zu, die ihm in seinem Büro gegenübersaßen. Beide unterschrieben, wenige Minuten später brachte die Vorzimmerdame ein Tablett mit drei Gläsern Sekt. Es wurden Hände geschüttelt und die Vertragspartner verließen kurze Zeit später gemeinsam die Kanzlei im Frankfurter Westend. Sie verabschiedeten sich vor dem Jugendstilbau und strebten in entgegengesetzte Richtungen.
Es war kurz nach fünf Uhr am Nachmittag, der Tag war ungewöhnlich warm gewesen, in den Straßencafés saßen gut gelaunte Menschen, um den Feierabend mit einem Kaffee oder einem Apérol Sprizz einzuläuten.
Gerd Rohloff bestieg zwei Straßenecken weiter seinen Jaguar und fuhr in Richtung Bahnhofsviertel, wo er eine Viertelstunde später den Kinky-Club betrat. Zum letzten Mal, denn er hatte ihn soeben verkauft. Es war das letzte seiner Etablissements, von dem er sich trennte. Alles andere, darunter das wenige Schritte entfernt liegende Stundenhotel und ein Stripteaselokal, waren bereits in andere Hände übergegangen. Bei jedem Verkauf hatte er genau überlegt, wem er das anvertraute, was er über viele Jahre hinweg aufgebaut und geleitet hatte. Anders als die meisten seiner Konkurrenten im Bahnhofsviertel, hatte er sich in erster Linie als Geschäftsmann gesehen. Der gut verdiente, aber