Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen. Эдгар Аллан По

Читать онлайн.
Название Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen
Автор произведения Эдгар Аллан По
Жанр Языкознание
Серия Reclam Taschenbuch
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783159618067



Скачать книгу

Apoll dem Kleomenes37 dem Sohn Athens, nur im Traum entdeckte. Und dann versenkte ich mich tief in Ligeias große Augen.

      Für die Augen haben wir keine Vorbilder selbst in entferntesten Zeiten. Es mag auch sein, dass in diesen Augen meiner Geliebten das Geheimnis lag, auf das Lord Verulam anspielt. Sie waren, so muss es mir scheinen, weit größer als die gewöhnlichen Augen unseres Menschengeschlechts. Sie waren sogar intensiver als die intensivsten Gazellenaugen beim Stamme des Tals von Nourjahad.38 Doch geschah es nur zuweilen, in Augenblicken höchster Erregung, dass diese Besonderheit auffallend bei Ligeia hervortrat. Und in solchen Augenblicken war ihre Schönheit – vielleicht erschien es auch nur meiner überhitzten Phantasie so – die Schönheit von Wesen, die überirdisch oder doch unirdisch sind, die Schönheit der sagenumwobenen Huri39 der Türken. Die Farbschattierung der Augen war ein tief strahlendes Schwarz, und weit über sie herab senkten sich lange, pechschwarze Wimpern. Die Brauen, leicht unregelmäßig in ihrem Schwung, zeigten den gleichen Farbton. Das »Befremdliche« jedoch, das ich in ihren Augen fand, lag nicht in der Form oder der Farbe oder dem Glanz und musste wohl auf ihren Ausdruck zurückgehen. Ach, Wort ohne tiefere Bedeutung, hinter dessen anspruchsvollem bloßen Klang wir unsere Unkenntnis von so viel Geistigkeit verbergen. Der Ausdruck von Ligeias Augen! Wie habe ich lange Stunden darüber nachgesonnen! Wie habe ich eine ganze Mittsommernacht hindurch gebebt, ihn zu ergründen! Was war es – dieses Etwas, das unergründlicher war als der Brunnen des Demokritos40 –, das tief in den Pupillen meiner Geliebten verborgen lag? Was war es nur? Ich war besessen von der Leidenschaft, es zu ergründen. Diese Augen! Diese großen, schimmernden, himmlischen Gestirne! Sie wurden für mich zum Zwiegestirn der Leda41, und ich für sie zum andächtigen Sternendeuter.

      Unter den vielen Unbegreiflichkeiten der Wissenschaft von der Seele ist kein Punkt faszinierender und aufregender als die Tatsache – von der Schulweisheit, so glaube ich, nie entdeckt –, dass wir uns in unseren Versuchen, etwas längst Vergessenes ins Gedächtnis zurückzurufen, oft geradezu an der Schwelle zur Erinnerung befinden, ohne doch am Ende in der Lage zu sein, uns wirklich zu erinnern. Und wie oft habe ich gerade so in meiner intensiven Versenkung in Ligeias Augen das volle Wissen um ihren Ausdruck sich nähern gespürt – sich nähern, doch noch nicht ganz mein – und so am Ende sich wieder gänzlich entziehen! Und ich fand (seltsames, o seltsamstes aller Geheimnisse!) einen Kreis von Analogien für jenen Ausdruck in den alltäglichsten Gegenständen der Welt. Ich will sagen, dass unmittelbar nach der Zeit, als Ligeias Schönheit mich überwältigt hatte und in mir wie in einem Schrein ruhte, viele Erscheinungen der dinglichen Welt ein Gefühl in mir auslösten, wie es mich immer wieder angesichts ihrer großen und leuchtenden Augen überkam. Doch konnte ich deswegen jenes Gefühl nicht besser definieren oder analysieren oder auch nur ständig im Blick behalten. Ich bemerkte es, so darf ich wiederholen, beim Anblick der aufstrebenden Weinrebe, bei der Betrachtung eines Nachtfalters, eines Schmetterlings, einer Schmetterlingspuppe, eines dahinfließenden Stroms. Ich habe es im Ozean gespürt oder im Fallen einer Sternschnuppe. Ich habe es im Blick von sehr, sehr alten Menschen gefunden. Und es gibt ein oder zwei Sterne am Himmel (einer insbesondere, ein Stern sechster Größenordnung, doppelt und wechselvoll, nahe dem großen Stern in der »Leier«), bei deren Beobachtung durchs Teleskop ich des Gefühls gewärtig wurde. Es hat mich ergriffen bei gewissen Klängen von Saiteninstrumenten und nicht selten auch bei der Lektüre von Büchern. Unter zahllosen anderen Beispielen erinnere ich mich an eine Stelle in einem Band von Joseph Glanvill, die (vielleicht nur wegen ihrer Wunderlichkeit – wer vermag dies schon zu sagen?) nie verfehlt hat, dieses Gefühl in mir zu erwecken: «Und darin liegt der Wille, der nicht stirbt. Wer kennt die Geheimnisse des Willens mit seiner mächtigen Kraft? Denn Gott ist nichts als ein machtvoller Wille, der alle Dinge aufgrund seiner Stärke durchdringt. Der Mensch unterwirft sich den Engeln oder dem Tode einzig nur durch die Schwäche seines kraftlosen Willens.«42

      Lange Jahre und ständiges Nachsinnen haben mich dahin gebracht, tatsächlich eine entfernte Verbindung zwischen diesem Zitat des englischen Moralisten und einem Zug im Charakter Ligeias aufzuspüren. Die Intensität des Denkens, Handelns oder Redens war möglicherweise bei ihr ein Ergebnis oder doch wenigstens ein Indiz jener gigantischen Willenskraft, die während unseres langen Zusammenlebens versäumte, auf andere, unmittelbare Weise Zeugnis von sich abzulegen. Von allen Frauen, die ich je gekannt, war die äußerlich ruhige, immer gelassene Ligeia jene, die auf das ungestümste ein Opfer der heftigen Beutegier grausamer Leidenschaften war. Und von diesen Leidenschaften konnte ich mir kein Bild machen, es sei denn durch die übernatürliche Weite jener Augen, die mich zugleich begeisterten und erschreckten – durch die fast magische Melodie, Modulation, Klarheit und Ruhe ihrer so sanften Stimme – und durch die stürmische Energie (doppelt wirkungsvoll im Kontrast zur Art ihres Sprechens) der wilden Worte, die sie für gewöhnlich äußerte.

      Ich habe von Ligeias Gelehrsamkeit gesprochen: sie war grenzenlos, so wie ich sie bei einer Frau nie kennen gelernt habe. Sie war äußerst bewandert in den klassischen Sprachen, und soweit sich meine eigene Vertrautheit mit den modernen Idiomen Europas erstreckte, habe ich sie nie im Irrtum gefunden. In der Tat, gab es überhaupt ein Thema der zuhöchst bewunderten, weil einfach zuhöchst dunklen, gerühmten Gelehrsamkeit der Akademie, bei dem sich Ligeia jemals im Irrtum befunden hätte? Auf welch eigene, bestürzende Weise dieser eine Zug im Wesen meiner Frau sich meiner Aufmerksamkeit just zu diesem späten Zeitpunkt wieder aufdrängt! Ich sagte, ihr Wissen sei von einer Art gewesen, wie ich es nie bei einer Frau kennen gelernt habe – aber wo lebt denn der Mann, der all die weiten Gebiete der moralischen, physikalischen und mathematischen Wissenschaften abgeschritten hätte, und dies erfolgreich? Ich sah damals noch nicht, was ich heute mit aller Klarheit sehe, dass die Errungenschaften Ligeias ungeheuer, ja überwältigend waren; doch war ich mir ihrer unendlichen Überlegenheit genügend bewusst, um mich mit einem kindlichen Vertrauen ihrer Führung durch die chaotische Welt metaphysischer Untersuchungen zu überlassen, mit denen ich mich während der frühen Jahre unserer Ehe stark beschäftigte. Mit welch großem Triumph, mit welch lebhaftem Vergnügen, mit wie viel von dem, was die Hoffnung so himmlisch macht, fühlte ich, wenn sie sich über mich beugte bei wenig betriebenen, ja wenig bekannten Studien, jene herrliche Geisteslandschaft vor mir sich entfalten, deren lange, prachtvolle und unbetretene Pfade ich endlich beschreiten würde, einem Ziel an Weisheit entgegen, das zu heilig und kostbar war, um nicht verboten zu sein!

      Wie bitter war da der Gram, mit dem ich einige Jahre später sah, wie meinen wohlbegründeten Erwartungen Schwingen wuchsen und sie mir davonflogen! Ohne Ligeia war ich nichts als ein Kind, das durchs Dunkel tappt. Ihre Gegenwart, ihre Deutungen allein erhellten auf das lebhafteste die vielen Geheimnisse des Transzendenten, in die wir uns versenkt hatten. Ohne den strahlenden Schimmer ihrer Augen erschienen leuchtende und goldene Schriftzeichen trüber als saturnisches Blei. Und jetzt erhellten diese Augen seltener und seltener die Seiten, über denen ich grübelte. Ligeia erkrankte. Die wilden Augen loderten auf in einem allzu blendenden Glanz; die bleichen Hände nahmen den durchsichtig-wächsernen Farbton des Todes an, und die blauen Venen auf ihrer hohen Stirn pulsierten ungestüm im Rhythmus schon der geringsten Gemütsbewegung. Ich sah, dass sie sterben würde – und im Geiste rang ich verzweifelt mit dem erbarmungslosen Azrael43. Doch das Ringen meiner leidenschaftlichen Frau war zu meinem Erstaunen noch energievoller als mein eigenes. Es hatte viel in ihrer unbeugsamen Natur gegeben, das mir den Glauben erwachsen ließ, der Tod würde ohne Schrecken zu ihr kommen – doch weit gefehlt. Der Worte sind keine, um eine angemessene Idee von der verbissenen Entschlossenheit des Widerstandes zu vermitteln, in der sie mit dem großen Schatten rang. Ich stöhnte vor Qual bei diesem erbarmungswürdigen Schauspiel. Ich würde besänftigt, würde argumentiert haben; doch gegenüber der Tiefe ihres wilden Verlangens zu leben – zu leben – nichts als zu leben –, waren Trost und vernünftiger Zuspruch gleichermaßen von äußerster Torheit. Doch bis zum allerletzten Augenblick, im krampfartigen Aufbäumen ihres unbeugsamen Geistes, wurde die äußerliche Ruhe ihres Verhaltens nicht erschüttert. Ihre Stimme wurde noch sanfter, noch leiser – doch will ich nicht auf den wahnwitzigen Sinn ihrer ruhig gesprochenen Worte näher eingehen. Mein Geist schwindelte, als ich gebannt einer kaum noch dem Irdischen verhafteten Melodie lauschte – Höhenflügen und Hoffnungen, wie sie die Sterblichen zuvor nie gekannt.

      Dass sie mich liebte, hätte ich nie bezweifelt; und ich hätte leicht wissen können, dass in einem Herzen wie dem ihren